Schadensprognose "Kyrill", der Milliardensturm
Hamburg - Die enormen Schäden des Orkans "Kyrill" werden die Versicherungsbranche vermutlich in Milliardenhöhe belasten. Während die einzelnen Assekuranzen sich am Freitag mit Schätzungen zurückhielten, gab der deutsche Branchenverband GDV eine erste Prognose ab: "Der versicherte Schaden wird rund eine Milliarde Euro betragen." Es sei einer der schwersten Stürme der vergangenen 20 Jahre in Deutschland, erklärte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft.
"Wir haben Kyrill mit dem Sturmtief Jeannett aus dem Jahre 2002 verglichen", erklärte GDV-Sprecher Stephan Schweda. Da Kyrill höhere Windstärken erreicht habe, länger geblieben sei und sich zudem breitflächig ausgedehnt habe, gehen die Versicherer davon aus, dass er größere Schäden angerichtet hat.Verbandssprecher Schweda riet allen Betroffenen, die Sturmschäden sofort der Versicherung zu melden, noch bevor etwa das Auto in die Werkstatt gefahren oder ein zerborstenes Fensterglas ausgetauscht wird.
Stürme richten immer größere Schäden an
Jeannett hatte die Assekuranzen mehr als 660 Millionen Euro allein in Deutschland gekostet. Ähnlich war es beim Orkan Lothar, der unvermittelt am zweiten Weihnachtsfeiertag 1999 über Teile Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz, Belgiens und Österreichs hinweggefegt war und 110 Todesopfer forderte. Als teuerster europäischer Wintersturm aller Zeiten ging "Lothar" in die Geschichte ein. Er sorgte 1999 für einen versicherten Schaden von 5,9 Milliarden Dollar. Der volkswirtschaftliche Schaden lag nach Zahlen der Münchener Rück gar bei 11,5 Milliarden Dollar. Zuvor waren vor allem 1990 gigantische Schäden durch Winterstürme entstanden.
Uwe Kirsche vom Deutschen Wetterdienst (DWD) sagte, "Kyrill" habe das Land anders als bisherige Stürme flächendeckend getroffen. Bei dem Orkan verloren europaweit mindestens 39 Menschen ihr Leben, davon elf in Deutschland. Hunderttausende mussten in Deutschland ohne Strom auskommen. Viele Straßen waren gesperrt, zahlreiche Züge der Bahn konnten wegen blockierter Gleise nicht fahren.
Seit den 90er Jahren haben die Schadenshöhen bei Stürmen in Deutschland nach Angaben des GDV klar zugenommen - ein Phänomen, das Experten auf die Klimaerwärmung zurückführen.
Orkane als Folgen warmer Winter
"Die Wahrscheinlichkeit schwerer Orkane steigt in Europa zunehmend an, da auf Grund des Klimawandels die Winter tendenziell wärmer werden", sagte Peter Höppe, Leiter der Geo-Risiko-Forschungsabteilung bei der Münchener Rück, dem weltweit zweitgrößten Rückversicherer. Seiner Einschätzung nach ist "Kyrill" aus naturwissenschaftlicher Sicht am ehesten mit dem Orkan "Daria" im Jahr 1990 vergleichbar, der zu damaligen Preisen die Branche gut fünf Milliarden Dollar kostete.
Auch der Versicherungsexperte Lucio Di Geronimo von der Münchener HypoVereinsbank betonte, dass "Kyrill" vermutlich nicht das Ausmaß von "Lothar" erreicht habe. Die eingeplanten Schadensbudgets der Versicherer würden damit nicht gesprengt.
"Zudem gibt es auch einen gewissen ausgleichenden Effekt durch den milden Winter - weniger Autounfälle mit Sachschäden und weniger Betriebsunterbrechungen."
Gelernte Taktik: Autos in Sicherheit bringen
Die meisten großen Versicherer wie die Allianz wollen sich erst Anfang nächster Woche zu ihren Belastungen äußern. Die Provinzial Rheinland in Düsseldorf erklärte bereits, alleine bei ihr werde sich der Schaden auf eine "deutlich zweistellige Millionen-Euro-Summe" belaufen. "Auf jeden Fall ist überhaupt nicht anzuzweifeln, dass eine Grundvoraussetzung für den Versicherungsfall eingetreten ist: nämlich Windstärke acht", sagte eine Sprecherin der deutschen Axa. "Es gab nur einen kleinen Zipfel in Deutschland, wo die Windstärke unter acht geblieben ist."
Experten verwiesen darauf, dass die Bevölkerung im Fall von "Kyrill" bereits frühzeitig vor möglichen Schäden gewarnt wurde. "Wir haben den Eindruck, dass sich die Bevölkerung heute besser auf Unwetter vorbereitet und zum Beispiel die Autos in Garagen oder an sichere Plätze fährt", sagte ein Sprecher der Ergo-Tochter Victoria am Freitag.
"So etwas gab es in Deutschland noch nie"
"So etwas gab es in Deutschland noch nie"
Nach dem schlimmsten Sturm der vergangenen acht Jahre ist Deutschland am Freitagmorgen zur Normalität zurückgekehrt. Die Behörden hoben Unwetterwarnungen weitgehend auf. Die Deutsche Bahn lässt ihre Züge wieder rollen und in den Großstädten nehmen auch S- und U-Bahnen weitgehend wieder ihren Betrieb auf.
Als Einzelunternehmen war die Bahn am schlimmsten getroffen. Der Bahnverkehr musste am Abend ganz eingestellt werden, weil zu viele Bäume Oberleitungen abgerissen und Gleise beschädigt hatten. Am Freitagmorgen verließen erste Züge wieder die Bahnhöfe nach der nächtlichen Zwangspause. Es werden aber weiter große Probleme im Bahnbetrieb erwartet. "So eine Situation haben wir in Deutschland noch nie gehabt", erklärte Bahnchef Hartmut Mehdorn in Berlin. Der neue Berliner Hauptbahnhof wurde in der Nacht geräumt und abgesperrt, nachdem sich ein Träger im Südwestflügel gelöst und zwei weitere Träger beschädigt hatte.
Dagegen lief der Flugverkehr am Freitag wieder weitgehend rund, wie ein Sprecher des Flughafens Frankfurt mitteilte. Auch größere Staus waren am Morgen zunächst nicht bekannt.
Tote durch umgestürzte Bäume
Im nordrhein-westfälischen Lippstadt kam eine 23 Jahre alte Autofahrerin ums Leben, die durch einen umstürzenden Baum in ihrem Wagen eingeklemmt worden war. Bei einem sturmbedingten Einsatz verunglückte im Kreis Viersen ein 39-jähriger Feuerwehrmann tödlich. Ein zweiter 50 Jahre alter Feuerwehrmann starb bei einem Einsatz in Düren. In Essen geriet ein 34-jähriger Motorradfahrer unter einen umgestürzten Baum und verletzte sich tödlich.
Im niedersächsischen Hildesheim wurde ein Pkw von einem umstürzenden Baum getroffen. Dabei starb ein Mann. In Großrodensleben (Sachsen-Anhalt) starb ein Mann unter den Trümmern eines eingestürzten Hausgiebels. In Strausberg bei Berlin wurde ein 25-jähriger Autofahrer getötet, als ein entwurzelter Baum auf seinen Pkw stürzte.
Ein Mann starb bei einem Verkehrsunfall in Heidelberg (Baden-Württemberg), als er einem umstürzenden Baum ausweichen wollte und dabei frontal auf ein entgegenkommendes Fahrzeug prallte. In Bayern wurde ein 18 Monate altes Kind von einer aus der Halterung gerissenen Terrassentür erschlagen. Ein 73-jähriger Bayer erlag seinen Verletzungen, nachdem ihn ein aus den Angeln gehobenes Scheunentor erfasst hatte.
Der Norden Deutschlands blieb von der befürchteten schweren Sturmflut verschont, weil der Sturm schneller als erwartet abzog. Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie gab bereits kurz nach Mitternacht weitgehende Entwarnung.
Hochwasser statt Sturmflut
Für Hamburg wurden in den frühen Morgenstunden statt der ursprünglich prognostizierten schweren Sturmflut von bis zu 3 Metern über dem mittleren Hochwasser nur noch 1,50 Meter erreicht. In Büsum an der schleswig-holsteinischen Westküste, wo die Sturmflut am schwersten auftreffen sollte, erreichte das Hochwasser sogar nur 1,17 Meter. Auch auf der Insel Sylt trat der befürchtete Landverlust durch ein Abspülen von Sturmflutwellen nicht ein.
Nach Meinung des Deutschen Wetterdienstes war "Kyrill" der stärkste Orkan seit "Lothar", der Weihnachten 1999 über Deutschland hinwegraste. Dieses mal wurden die stärksten Böen auf dem Wendelstein in Bayern gemessen, sie erreichten eine Stärke von 202 Kilometern in der Stunde. Auf dem Brocken im Harz wurden Windgeschwindigkeiten von 198 Stundenkilometern gemessen, auf der Zugspitze 176 Stundenkilometer sowie je 172 Stundenkilometer auf der Wasserkuppe und dem Fichtelberg.
Am Freitagmorgen nahm der Deutsche Wetterdienst die Warnstufen zurück oder hob sie ganz auf.
manager-magazin.de mit Material von dpa, reuters und vwd