Autoindustrie "Weiße Flagge und zurück nach Europa"
mm.de: Bei General Motors herrscht Ausverkaufs- manche sagen sogar Endzeitstimmung. Wie konnte es so weit kommen?
Becker: Wenn ein Unternehmen quasi als Krönung vieler schlechter Jahre zehn Milliarden Dollar Verlust macht, ist die Kriegskasse mehr als leer. GM geht also automobiltechnisch gesprochen - auf den Felgen. Mir ist dieser ganze Konzern ein Rätsel. Er ist ein Gigant, der Jahrzehnte aus sich selber heraus lebte, als ob es eine Außenwelt nicht gebe. Vielleicht ist das die amerikanische Lebenseinstellung, bei GM führte es auf jeden Fall zu völligem Realitätsverlust und Selbstherrlichkeit.
mm.de: Spiegelt sich dieser Stil auch im Umgang mit den europäischen GM-Töchtern wider?
Becker: Die wurden bis vor wenigen Jahren gar nicht ernst genommen und dienten praktisch als Ausbildungs- und Außenstationen zur Beförderung von Managern aus Detroit. Kaum hatten diese die Sprache einigermaßen gelernt, ging es zurück in die USA, um die nächste Karrierestufe zu erklimmen.
mm.de: Ohne etwas über den hiesigen Markt zu lernen?
Becker: Offensichtlich nicht. Die Verantwortlichen haben das, was hier in Europa passiert, überhaupt nicht verstanden.
mm.de: Das ist kein GM-Phänomen.
Becker: Richtig, vielen US-Autobauern ist das Europa-Geschäft zu lästig, zu viel Klein-Klein. Die amerikanische Philosophie ist immer gewesen: großes Auto - großer Gewinn, kleines Auto - kleiner Gewinn. Als man dann realisierte, dass man aus dem klassischen Pkw-Bereich durch die Asiaten sukzessive verdrängt wurde, hat man sich in die Nische der Vans und Pick-ups geflüchtet. Dieser Rückzug ging natürlich nur so lange gut, bis die Toyotas und Hondas dieser Welt zum Angriff auch noch auf diese Nische bliesen.
mm.de: In die nun auch die Deutschen drängen.
Becker: VDA-Präsident Gottschalk hat jüngst erklärt, die deutschen Autokonzerne wollen 2006 in den USA über eine Million Fahrzeuge verkaufen. Dieses kann ja nur auf Kosten der US-Konkurrenz passieren. Also handelt es sich um eine wenn auch verklausulierte- Kriegserklärung.
VWs größter strategischer Fehler
mm.de: Auch an die auf dem US-Markt schon sehr erfolgreichen Japaner und Koreaner?
Becker: Den Asiaten können die Deutschen nicht wirklich etwas am Zeug flicken. Am aggressivsten sind derzeit die Koreaner. Kia plant zum Beispiel für über eine Milliarde Dollar ein Werk in Georgia. Der Mutterkonzern Hyundai hat im Nachbarstaat Alabama bereits den Betrieb aufgenommen.
mm.de: Die Deutschen haben ja auch eigene Werke in den USA
Becker: und sind damit Teil der amerikanischen Automobilindustrie geworden. Die in den US-Werken gebauten Fahrzeuge werden auch nicht als "feindlich" angesehen, sondern gehören zur "Community". Was auch damit zusammenhängt, dass die fraglichen Absatzvolumen bei einem US-Gesamtmarkt von 17 Millionen Neuzulassungen jährlich eher homöopathisch sind.
mm.de: Die Produkte sind trotz kleiner Absatzvolumen aber dennoch konkurrenzfähig, oder?
Becker: Sehr konkurrenzfähig sogar.
mm.de: Der hiesige Krisenkandidat Volkswagen produziert bezeichnenderweise nicht in den USA.
Becker: Genauer gesagt nicht mehr. VW hat in einem Akt des Wahnsinns Ende der 80er Jahre sein letztes Werk eine ehemalige Chrysler-Fabrik in Westmoreland geschlossen. Als die Japaner Ende der 70er Jahre den US-Markt massiv angingen, hat VW die weiße Flagge gehisst und sich ins Schiff zurück nach Europa gesetzt. Das war für die Japaner die Aufforderung zum Tanz und damit die größte strategische Fehlleistung in der Unternehmensgeschichte von Volkswagen.
Dagegen ist die jüngste Einstellung des Phaeton-Verkaufs auf dem US-Markt zwar eine Jugendsünde, aber für die strategische Einstellung von VW symptomatisch: Rückzug statt Angriff. Wenn VW überleben will, kommt der Konzern an einer Produktion in den USA nicht vorbei. Das Gleiche gilt übrigens auch für die französischen Autobauer.
Drohender Exodus aus Deutschland
mm.de: Ruft die Verdrängung der heimischen Hersteller denn keine patriotischen Proteste in den USA hervor?
Becker: Nur in engen Grenzen. Der US-Öffentlichkeit ist dieser Vorgang relativ egal, weil lediglich eine Substitution von Arbeitsplätzen stattfindet - gestern amerikanische, heute japanische oder koreanische - und die Beschäftigung über den Daumen gepeilt gleich bleibt. Kurz: Aus der amerikanischen Automobilindustrie wird eine Automobilindustrie in Amerika die Eigner heißen dann Toyota, Honda, Hyundai Motor, BMW oder DaimlerChrysler.
mm.de: Das sieht für Deutschland leider anders aus.
Becker: Das ist der große Knackpunkt hier zu Lande. Auch wir hier leiden unter extremem Verdrängungswettbewerb durch die asiatischen Hersteller, wie in USA. Nur wir haben zusätzlich zu den Verdrängungs- eben auch Beschäftigungsprobleme. Keiner der Eroberer baut hier Fabriken, sondern alle machen einen großen Bogen um Deutschland.
mm.de: Und die Politik bleibt tatenlos.
Becker: Wirtschaftsminister Glos wollte bei seinem Japanbesuch vor einigen Wochen, obwohl er vermutlich eine Undercover-Aktion der deutschen Premiumhersteller - sich den Kopf am Türholm eines Toyotas gestoßen hatte, Toyota dazu bringen, die Autos ihrer Edelmarke Lexus auch in Deutschland, genauer Leipzig, zu bauen. Der CEO von Toyota hat den deutschen Wirtschaftsminister noch nicht einmal empfangen, sondern einen Stellvertreter geschickt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Die Begeisterung für Deutschland als Produktionsstandort für Automobile scheint sich im Ausland wohl eher in Grenzen zu halten. Vielleicht wäre besser Herr Peters von der IG Metall zu Toyota gefahren.
mm.de: Fazit - die deutschen Marken überleben, aber nicht unbedingt die deutsche Automobilindustrie.
Becker: So ist es, jedenfalls nicht in Gänze - und unter den heutigen Arbeitsbedingungen. Wenn die ersten Werke in Deutschland stillgelegt werden, zum Beispiel das Opel-Werk in Bochum, dann ist die Tür für einen weiteren Exodus geöffnet.
Der aus dem Nest gefallene Bernhard
mm.de: Trotzdem forderte die IG Metall zum Auftakt der nun abgeschlossenen Tarifrunde 5 Prozent mehr Lohn.
Becker: Das war vor dem eben erläuterten Hintergrund in der Tat kurios. Ich vermisse auch den öffentlichen Protest, der eigentlich unter der Schlagzeile laufen müsste "Deutschland geht an seinen Gewerkschaften zu Grunde". Darum will SAP doch keine Arbeitnehmerfunktionäre im Haus sitzen haben. Ob die soeben mit viel Lob errungene Flexibilisierung des Tarifvertrages in der Metallindustrie die Wende gebracht hat, bleibt abzuwarten. Immerhin: Die Gewerkschaft hat sich in Richtung wirtschaftliche Vernunft bewegt. Das sei anerkannt. Für die Rettung der deutschen Automobilindustrie am Standort Deutschland ist das indessen zu wenig!
Wir kommen aus der Zwickmühle der Mitbestimmung nicht mehr heraus. Wenn DaimlerChrysler-Chef Zetsche zur Beseitigung von Altlasten seiner Vorgänger eine Milliarde Euro an Abfindungen zahlen muss, statt dieses Geld in neue wettbewerbsfähige Fertigungsstrukturen und Produkte zu stecken, müssen wir uns nicht wundern, dass wir mit den Asiaten nicht mehr Schritt halten, die ihre Autos zu niedrigen Kosten und frei von Gewerkschaftszwängen 100 Kilometer weiter östlich in Polen, Tschechien, der Slowakei, dem neuen Detroit des Ostens, produzieren können und damit den europäischen Markt aufrollen.
mm.de: Ist es für Gegenmaßnahmen schon zu spät?
Becker: Zu spät ist in diesem Geschäft gar nichts. Nissan war zum Beispiel vor fünf Jahren pleite und ist heute einer der profitabelsten Massenhersteller der Welt. Das war das Werk von Carlos Ghosn. Es hängt eben insbesondere auch an den Fähigkeiten der Leute im Management.
mm.de: Mit Dieter Zetsche bei DaimlerChrysler und Wolfgang Bernhard bei VW gibt es doch auch hier zu Lande Hoffnungsträger.
Becker: Das stimmt, die Liste ist zum Glück sogar noch länger. Aber man muss diese Leute auch machen lasen. Und mir wäre für die Zukunft der deutschen Automobilindustrie weniger bange, wenn die Platzierung der richtigen Leute zur richtigen Zeit an die richtige Stelle etwas weniger Zufallsprinzip erkennen ließe.
Aber was wäre denn heute mit VW, wenn Bernhard nicht bei Daimler aus dem Nest gefallen wäre? 20 Prozent unseres Sozialprodukts hängen an der Automobilindustrie, und unsere größten Konzerne betreiben aus der Sicht von Außenstehenden mitunter eine Politik wie beim Roulette. Dass Deutschland und die deutsche Automobilindustrie fähige Manager haben, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Schön wäre, wenn diese nicht nur in Krisenzeiten zum Zuge kämen.