Nachdem die Bundesagentur für Arbeit den höchsten Stand der Arbeitslosenzahlen seit Kriegsende vermeldet hatte, reagierten Regierung und Opposition sofort mit heftigem Wortgetöse. Was dabei fast unterging: Ganz nebenbei wurde eine neue Zählweise eingeführt.
Nürnberg - Die Marschrichtung für den Tag gab am Morgen die "Bild"-Zeitung vor: "5,2 Millionen Frauen und Männer ohne Arbeit", titelte das Massenblatt quer über die ganze Titelseite und verzichtete sogar auf das üblicherweise beherrschende Titelbild. Ultimativ forderte "Bild": "Tut endlich was!"
Kaum waren am Vormittag die katastrophalen Rekordarbeitslosenzahlen mit dem Nachkriegshöchststand von gut 5,2 Millionen Arbeitslosen in Deutschland vermeldet, taten die Politiker was, das was sie in solchen Situationen gerne tun: Reden. Ein "katastrophaler Tag für Deutschland" seien die Zahlen zeterten gleich mehrere Unionspolitiker und verlangten von der rot-grünen Koalition neue Maßnahmen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
CSU-Generalsekretär Markus Söder verstieg sich zu der These, die Visa-Politik sei für den Anstieg der Arbeitslosigkeit mitverantwortlich. Scheinbar konstruktiv zeigte sich CSU-Chef Stoiber, der Schröder die Zusammenarbeit anbot. CDU-Chefin Angela Merkel sagte, die Gebote der Stunde seien Bürokratieabbau, Flexibilisierung und "Anpacken", ohne allerdings in der Substanz mehr zu bieten zu haben als die Bundesregierung, der kaum mehr übrig blieb als zu betonen, sie wolle ihren Kurs nun beibehalten.
"Ohne Hartz IV wären 4,85 Millionen Menschen arbeitslos"
Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach bei seiner Golf-Reise in Katar von bedrückenden Zahlen und gab Durchhalteparolen aus: "wir müssen jetzt das Rückgrat haben, die Reformen entschieden weiter umzusetzen." Von den Kommunen forderte er, sie müssten die bei der Sozialhilfe eingesparten Mittel für Investitionen einsetzen.
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) rechnet für März mit einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Den aktuellen Anstieg begründete er in erster Linie mit statistischen Effekten durch die Hartz-IV-Reform. Seit Dezember habe die Hartz-IV-Reform und die damit verbundene erstmalige Registrierung von erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern in der Arbeitslosenstatistik zu einem Anstieg von 360.000 Personen geführt, sagte Clement am Dienstag. "Ohne Hartz IV läge die Arbeitslosigkeit heute bei 4,85 Millionen und damit in etwa auf dem Niveau von Januar/Februar 1998."
Der Statistik-Kniff
Der Statistik-Kniff
Danach präsentierte Clement seine statistische Wunderwaffe: Die ILO-Statistik. "Damit keine Missverständnis entstehen", sagte Clement, "die ILO-Statistik entwertet nicht unsere nationale Statistik als Gradmesser für unsere Bemühungen. Sie hilft uns bei internationalen Vergleichen."
Die Erwerbsstatistik des Statistischen Bundesamtes erfasst Erwerbslose nach den Kriterien der Arbeitsorganisation ILO in Genf. Diese Zahlen unterscheiden sich deutlich von denen der Bundesagentur für Arbeit, weil sowohl die Kriterien der Zählweise als auch die Erfassungsmethode - Befragung statt Registrierung - unterschiedlich sind.
Die BA zählt denjenigen als arbeitslos, der weniger als 15 Stunden pro Woche arbeitet. Für die ILO ist dagegen derjenige erwerbslos, der ohne jegliche Beschäftigung
ist und in den letzten vier Wochen aktiv nach einer Erwerbstätigkeit gesucht hat. Die Differenz der Zahlen
erklärt sich somit vor allem durch die geringfügig Beschäftigten, die Nürnberg mitzählt, die ILO in Genf dagegen nicht.
Wer nicht aktiv Arbeit sucht, ist nicht erwerbslos
Die Neuregelung wurde im Mai 2004 von der Bundesregierung beschlossen. Hintergrund der neuen Statistik ist der Wunsch nach einer besseren internationalen Vergleichbarkeit der Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Experten versprechen sich von der neuen Erwerbsstatistik ein verlässlicheres Bild der Entwicklung am Arbeitsmarkt, weil die Erfassung nicht durch gesetzliche Änderungen beeinflussbar ist. Danach gilt als erwerbslos, wer:
keine Arbeit hat, nicht einmal eine Stunde pro Woche, und
Arbeit sucht (ab einer Stunde pro Woche) und
für die Arbeitsaufnahme innerhalb von zwei Wochen
verfügbar ist und
innerhalb der letzten vier Wochen aktiv eine
selbstständige oder abhängige Beschäftigung gesucht hat und
zwischen 15 und 74 Jahre alt ist.
Erwerbslos wäre demnach auch ein Schüler oder Rentner, der als Zuverdienst etwa einen Job als Zeitungsausträger sucht. Gleichwohl dürften die Erwerbslosenzahlen in der Regel geringer sein, weil als erwerbstätig bereits gilt, wer eine Stunde in der Woche arbeitet.
Bis zu 30.000 Telefonate
Bis zu 30.000 Telefonate
Grundlage der Statistik ist eine neue, bundesweite Telefonabfrage zum Erwerbsstatus bei bis zu 30.000 Bürgern, die seit Januar 2005 monatlich gemacht wird. Diese Ergebnisse werden auf Gesamtdeutschland hochgerechnet. Aus der Stichprobenerhebung entstehen nur wenige Eckzahlen auf Bundesebene, nämlich:
absolute Bundeszahlen für Erwerbslose und Erwerbstätige,
Erwerbslosenquoten insgesamt und für die Teilgruppen unter 25 Jahren, über 25 Jahren sowie Männer und Frauen,
Erwerbslosenquoten für Ost- und Westdeutschland.
Berichtet wird jeweils zum Monatsende für den Vormonat - am Dienstag mit Ablauf des Monats Februar also für Januar.
Vorteile versprechen sich die Statistiker auch von der Erhebungsmethode, weil sie glauben, dass Befragte bei einer anonymen Telefon-Stichprobe bereitwilliger einräumen, dass sie nicht wirklich eine Beschäftigung suchen. Gäben sie dies in einer Arbeitsagentur zu, drohten Leistungskürzungen.