Dokumentation "Mut zum Frieden, Mut zur Veränderung"
"Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
In der Verantwortung für die Zukunft unseres Landes habe ich dieser Regierungserklärung ein doppeltes Motto vorangestellt.
Es beschreibt, worum es heute geht:
Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung.
Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg vermieden werden kann.
Und wir müssen den Mut aufbringen, uns und unserem Land jetzt die Veränderungen zuzumuten, die notwendig sind, um es wieder an die Spitze der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Europa zu führen.
Die Lage ist, international wie national, äußerst angespannt. Die Krise um den Irak belastet weltweit die ohnehin labile Konjunktur.
Deutschland hat darüber hinaus mit einer Wachstumsschwäche zu kämpfen, die auch strukturelle Ursachen hat.
Die Lohn-Nebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist. Und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, Beschäftigung zu schaffen.
Investitionen und Ausgaben für den Konsum sind drastisch zurückgegangen - nicht zuletzt seit an den Börsen allein in Deutschland während der vergangenen drei Jahre rund 700 Milliarden Euro buchstäblich vernichtet wurden.
In dieser Situation muss die Politik handeln, um Vertrauen wieder herzustellen. Wir müssen die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung verbessern.
Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung ergriffen und umgesetzt werden müssen
für Konjunktur und Haushalt für Arbeit und Wirtschaft für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit. Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen.
Und unser Grundsatz wird sein:
Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben.
Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und Rentner.
Niemand wird sich entziehen dürfen.
Wir werden eine gewaltige gemeinsame Anstrengung unternehmen müssen, um unser Ziel zu erreichen. Aber ich bin sicher: Wir werden es erreichen.
Schröder zur Irak-Krise
Zunächst jedoch, meine Damen und Herren, verlangt die dramatische internationale Lage einige deutliche Worte zur Krise um den Irak:
In den vergangenen Tagen und Wochen hat die Bundesregierung ihre Anstrengungen nochmals verstärkt, diese Krise politisch zu lösen.
Gemeinsam mit unseren französischen Freunden, mit Russland, China und der Mehrheit des Weltsicherheitsrates sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass die Abrüstung des Iraks mit friedlichen Mitteln herbeigeführt werden kann.
Die Berichte der Waffeninspekteure zeigen, dass der Irak unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft inzwischen besser und aktiver kooperiert.
Die Zerstörung der Al-Samud-Raketen ist ein sichtbares Zeichen tatsächlicher Abrüstung. Das beweist: Die Inspektionen sind ein wirksames Instrument.
Es ist immer noch möglich, diesen Konflikt friedlich zu lösen.
Mit einem ausgedehnten Inspektions-Regime können wir nachhaltige und nachprüfbare Abrüstung erreichen.
Und deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, statt in eine Logik des Krieges einzusteigen.
Der Irak muss unter internationaler Kontrolle umfassend und nachvollziehbar abrüsten - damit auch die Wirtschaftssanktionen, unter denen vor allem das irakische Volk leidet, gelockert und schließlich aufgehoben werden können.
Das sind die Bedingungen, unter denen Frieden und Freiheit gedeihen können.
Wir werden sowohl unsere Verantwortung als auch unsere mitgestaltende Rolle in einer multipolaren Weltordnung des Friedens und des Rechts nur dann umfassend wahrnehmen können, wenn wir das auf der Basis eines starken, geeinten Europa tun.
Es geht um die Rolle Europas in der internationalen Politik. Aber es geht auch um die Unabhängigkeit unserer Entscheidung in der Welt von morgen.
Schröder zur europäischen Wirtschaftspolitik
Beides werden wir nur erhalten können, wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher, solidarischer und stärker werden - in Deutschland und in Europa.
Meine Damen und Herren,
dieses Europa ist mehr als die Summe seiner Institutionen und mehr als der gemeinsame Binnenmarkt.
Europa ist die Idee, der wir uns verpflichtet fühlen.
Es ist die Idee des geeinten Kontinents, der Kriege und Nationalismen überwunden hat. Heute kann Europa Frieden und Stabilität, Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklungschancen durchaus auch exportieren.
Deutschland leistet hierzu seinen Beitrag, auch finanziell: Wir finanzieren die Europäische Union zu einem Viertel und wir zahlen jedes Jahr rund 7 Milliarden Euro mehr in die europäischen Kassen ein, als wir zurückbekommen. Das macht uns zum mit Abstand größten Nettozahler der Gemeinschaft.
Wir akzeptieren das nicht nur, weil diesem Europa die Überzeugung zugrunde liegt, dass Kooperation besser ist als Konfrontation.
Sondern auch, weil wir unser europäisches Sozialmodell - das auf Teilhabe beruht statt auf der ungezügelten Herrschaft des Marktes - gemeinsam gegen die Stürme der Globalisierung wetterfest machen können.
Gemeinsam mit unseren Partnern können und müssen wir unseren Beitrag zur Erholung der Weltkonjunktur leisten.
Wir müssen dafür sorgen, dass die makroökonomischen Risiken nicht die gesamte Weltwirtschaft aus dem Lot bringen - besonders zu Lasten der Ärmeren und Ärmsten dieser Welt.
Dazu ist es auch nötig, dass diejenigen Staaten der Europäischen Union, die wirtschaftliche Lokomotiv-Funktionen übernehmen können, enger zusammenarbeiten und gerade in der Industriepolitik gemeinsam aktiv werden.
Diesen Weg haben Deutschland, Frankreich und Großbritannien eingeschlagen.
So sorgen wir zur Zeit mit gemeinsamen Vorschlägen dafür, dass zum Beispiel Schiffbau und Chemie-Industrie auch in Europa eine Zukunft haben.
Denn die Industrie ist das Fundament unserer Wirtschaft. Deshalb müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verbessern.
Dies ist die Grundidee meiner gemeinsamen industriepolitischen Initiative mit Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair, die wir mit unseren Partnern auf dem Gipfel nächste Woche in Brüssel diskutieren werden.
"Entweder wir modernisieren, oder wir werden modernisiert"
Meine Damen und Herren,
ich habe das Stichwort genannt:
Mut zur Veränderung.
Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht werden zu können, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein.
Die Welt verändert sich in rasender Geschwindigkeit. Das reicht bis in unseren Alltag, unsere Familien und unsere Gewohnheiten hinein.
Die Alternative ist eindeutig:
Entweder wir modernisieren, und zwar als Soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen.
Unsere Sozialsysteme sind seit 50 Jahren in der Struktur praktisch unverändert geblieben.
An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen die Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu neuen Ungerechtigkeiten.
Zwischen 1982 und 1998 sind die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent angewachsen.
Heute ist der Umbau des Sozialstaates, ist seine Erneuerung unabweisbar geworden.
Meine Damen und Herren,
zweifellos: Wir gehören zu den stärksten Volkswirtschaften in Europa. Aber wir haben auch weit stärkere Belastungen zu tragen als andere.
Westdeutschland überträgt Jahr für Jahr vier Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in die ostdeutschen Bundesländer. Das sind 75 Milliarden Euro.
Kein anderes Land in Europa hat solche Herausforderungen zu meistern. Aber wir meistern sie gerne. Denn die Einheit ist für uns Deutsche ein großartiges Geschenk.
Die Tatsache, dass wir den Aufbau Ost aus eigener Kraft schaffen, ist ein beeindruckender Beweis für die Leistungsfähigkeit und die Solidarität der Menschen in ganz Deutschland.
"Vieles auf den Weg gebracht"
Das zeigt, dass Deutschland über die Stärke verfügt, mit großen Herausforderungen fertig zu werden.
Vor einer solchen Herausforderung stehen wir heute wieder. Und deshalb müssen wir jetzt diese Stärke abermals mobilisieren.
Meine Damen und Herren,
diese Regierung hat in den vergangenen Jahren vieles auf den Weg gebracht. Wir haben in der Rentenversicherung mit der kapitalgedeckten privaten Vorsorge eine zweite Säule neben der Umlagefinanzierung errichtet.
Und wir haben mehrstufige Steuermaßnahmen beschlossen, die nun Zug um Zug umgesetzt werden und Bürger und Unternehmen um insgesamt 56 Milliarden Euro entlasten.
Wir haben die Gesellschaft modernisiert: In der Energiepolitik, in der Familienpolitik und auch beim Staatsbürgerschaftsrecht.
Wir haben unsere Investitionen in Forschung verstärkt und damit begonnen, die Bedingungen für schulische und vorschulische Bildung zu verbessern.
Aber wir haben feststellen müssen, dass diese Schritte nicht reichen. Und vor allem: dass die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Strukturen den veränderten Bedingungen anpassen, nicht ausreicht.
Die Menschen wollen, dass klar entschieden und nicht um Zuständigkeiten gerangelt wird. Dass es um Fortschritte für die Allgemeinheit geht und nicht um die Durchsetzung von Einzelinteressen. Und vor allem, dass es bei der Verteilung der Lasten gerecht zugeht.
Unsere "Agenda 2010" enthält weitreichende Strukturreformen und bietet Anreize für Arbeit, Konsum und Investitionen.
Sie wird helfen, Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu sichern und die Fundamente unseres Gemeinwesens zu stärken.
Meine Damen und Herren,
ich hatte Ihnen versprochen, die Maßnahmen, die wir planen, Punkt für Punkt zu erläutern. Es geht dabei um drei Bereiche.
Der erste ist Konjunktur und Haushalt.
Die dramatische Wirtschaftslage zwingt uns dazu, eine neue Balance zwischen Konsolidierung, konjunkturellen Impulsen und steuerlicher Entlastung zu schaffen.
Wir werden dabei nicht den Weg gehen, einseitig und egoistisch nur diejenigen zu entlasten, die heute aktiv sind, die Kosten aber durch Verschuldung den nächsten Generationen aufzubürden.
Das wäre eine Sanierung auf Kosten derer, die nach uns kommen. Genau das werden wir nicht tun.
Deshalb halten wir am Ziel der Haushaltskonsolidierung und an dem im Stabilitätspakt vereinbarten Rahmen fest.
Nur: Dieser Pakt darf nicht statisch interpretiert werden. Er lässt Raum für Reaktionen auf unvorhergesehene Ereignisse.
Phasen der wirtschaftlichen Schwäche dürfen nicht mit prozyklischer Politik beantwortet werden. Und wir müssen uns die Möglichkeit erhalten, auf tiefergehende Brüche der Weltwirtschaft als Folge internationaler Ereignisse zu reagieren.
Das ist nicht nur unsere Meinung.
Der Frühjahrsgipfel in Brüssel wird Gelegenheit geben, mit den europäischen Partnern zu beraten, wie wir mit unserer Wirtschaftspolitik in Europa der außergewöhnlichen Situation und den - immer noch vermeidbaren - Risiken weiterer dramatischer Entwicklungen gerecht werden.
Meine Damen und Herren,
der Verweis auf den Stabilitätspakt und die europäische Verantwortung darf aber keine Ausflucht sein: Auch in der jetzigen Situation müssen Wachstumsimpulse gesetzt werden.
Das muss für die Ermunterung privater Investitionen ebenso gelten wie für die öffentlichen Investitionen, insbesondere der Kommunen.
Wir sind verpflichtet, gerade in Zeiten geringen Wachstums oder wirtschaftlicher Stagnation die öffentlichen Investitionen auf hohem Niveau zu halten.
Der Bund kommt dieser Verantwortung nach: Die Investitionen im Bundeshaushalt steigen in diesem Jahr auf 26,7 Milliarden Euro.
Wir werden aber auch die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen nachhaltig stärken. In den vergangenen Jahren haben die Kommunen hart daran gearbeitet, um trotz knapper öffentlicher Kassen die notwendigen Dienstleistungen bereitzustellen.
Die Bundesregierung sieht die schwierige Lage der Gemeinden. Gemeinsam mit den Bundesländern wird sie deshalb ihren finanziellen Spielraum nachhaltig erweitern.
Dabei setzen wir auf folgende Maßnahmen:
Erstens: Zur sofortigen Entlastung der Gemeinden beabsichtigt die Bundesregierung, sie von ihrem Beitrag zur Finanzierung des Flutopferfonds zu befreien. Das bringt Mehreinnahmen in Höhe von rund 800 Millionen Euro.
Zweitens: Das Steuervergünstigungsabbau-Gesetz und die Abgeltungssteuer werden voraussichtlich noch in diesem Jahr zu Mehreinnahmen von rund einer Milliarde Euro führen.
Ich appelliere an dieser Stelle noch einmal an die Union, im Interesse der Kommunen die notwendigen Gesetzgebungsvorhaben nicht zu blockieren.
Drittens werden wir die Kommunen ab dem 1. Januar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlasten. Das heißt:
Für bis zu eine Million Sozialhilfe-Empfänger wird künftig die Bundesanstalt für Arbeit zuständig sein.
Die Gemeinden werden dadurch in Milliardenhöhe entlastet. Und sie gewinnen Gestaltungsspielraum, den sie zum Beispiel für Investitionen in Kinderbetreuung nutzen können.
Diese Regelung entbindet die Kommunen aber nicht von ihrer Verantwortung, auch alles dafür zu tun, dass Menschen Arbeit und Beschäftigung finden.
Viertens wird die Bundesregierung zum 1. Januar 2004 die Gemeindefinanzen reformieren. Zur Zeit arbeitet eine Kommission mit Hochdruck an der Umsetzung der Reform.
Im Mittelpunkt wird eine erneuerte Gewerbesteuer stehen, die die Einnahmen verstetigt und den Gemeinden mehr Eigenverantwortung gibt.
Die Konturen einer Verständigung in der Kommission sind bereits deutlich. Deshalb bin ich sicher, dass wir - wie geplant - rechtzeitig vor der Sommerpause den Vorschlag zur nachhaltigen Sicherung der kommunalen Finanzen haben werden.
Hier wird die Opposition abermals zeigen können, ob sie mitmachen will oder beiseite stehen wird.
Fünftens werden wir über die Kreditanstalt für Wiederaufbau ein Investitionsvolumen in Höhe von insgesamt 15 Milliarden Euro mobilisieren:
7 Milliarden für ein kommunales Investitionsprogramm und noch einmal 8 Milliarden für die private Wohnungsbausanierung. Das kommunale Programm ist bestimmt für längerfristige Projekte in den Bereichen Wasser und Abwasser, Abfallwirtschaft sowie kommunale und soziale Infrastruktur.
Dieses Programm sorgt für Arbeit in der Bauwirtschaft und im Handwerk. Es kommt unmittelbar den Bürgern zugute und denen, die in kleinen und mittelständischen Betrieben arbeiten.
Der Bund wird aus eigenen Mitteln für Jahre eine attraktive Refinanzierung sicherstellen.
Für Kommunen mit besonderen Strukturproblemen und überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit werden die ohnehin attraktiven Zinskonditionen noch einmal deutlich verbessert.
Das wird zu merklich mehr Investitionen führen.
Mir liegt daran festzustellen, dass dies kein kurzfristiges Konjunkturprogramm mit Strohfeuereffekt sein wird. Wir werden dafür weder neue Schulden aufnehmen noch die Steuern erhöhen.
Dieses Programm ist die notwendige Ergänzung zu unseren Strukturreformen auf der Angebotsseite - zu denen ich gleich kommen werde.
Beides bedingt einander: Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrage-Impuls. Ohne konjunkturpolitisches Gegensteuern laufen die Reformen ins Leere.
Deswegen setzen wir an beiden Seiten an.
Wir werden - wie geplant - die nächsten Stufen der Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen in Höhe von rund 7 Milliarden Euro am 1. Januar 2004, und von rund 18 Milliarden Euro am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen.
Der Eingangssteuersatz wird dann gegenüber 1998 von 25,9 auf 15 Prozent, der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent sinken. Mehr ist nicht zu verkraften.
Wir werden zudem die Abgeltungssteuer auf Zinserträge einführen und es ermöglichen, im Ausland angelegte Gelder straffrei zurück zu transferieren.
Dazu braucht man auch Kontrollen. Sie sollten unbürokratisch, aber wirksam sein. Über die Ausgestaltung sind wir mit der Mehrheit des Bundesrates gesprächsbereit.
Es muss aber Verlass darauf sein, dass keine anderen Ziele verfolgt werden. Wir werden Gewinne aus Veräußerungen in Zukunft besteuern. Deshalb kann die Substanz von Vermögen steuerfrei bleiben.
Meine Damen und Herren,
Arbeit und Wirtschaft, dies ist das Herzstück unserer Reform-Agenda.
Eine dynamisch wachsende Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Voraussetzungen für einen guten Sozialstaat und für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft.
Wir geben das Ziel nicht auf, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch Möglichkeiten bekommt.
Wir haben die Arbeitsmärkte für neue Formen der Beschäftigung und der Selbständigkeit geöffnet. Wir haben das Programm "Kapital für Arbeit" aufgelegt.
Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung von Arbeitslosen verbessert. Und wir haben Rechte und Pflichten von Arbeitsuchenden in ein neues Gleichgewicht gebracht.
Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen kann - nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln.
Allerdings erwartet die Bundesregierung hier deutlichere und raschere Fortschritte, als bisher sichtbar geworden sind.
In den letzten Monaten haben wir erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt zu flexibilisieren:
Wir haben die Zeit- und Leiharbeit von bürokratischen Beschränkungen befreit und so aufgewertet, dass die Unternehmen ihren Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften flexibel decken können. Wir haben die gering bezahlten Jobs bis 800 Euro massiv von Abgaben entlastet. Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir abermals deutlich verbessern.
Unser System der Arbeitsvermittlung gehörte zu den am wenigsten entwickelten in Europa. Zu Zeiten der Vollbeschäftigung fiel das nicht weiter ins Gewicht, und dann haben wir uns 20 Jahre Diskussionen geleistet, ohne die Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Wir haben die nötigen Reformen angepackt. Aber jetzt müssen die Unternehmen, die offene Stellen zu besetzen haben, diese Angebote auch annehmen.
Wir haben die Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung verlängert; für die über 50-jährigen sogar ohne zeitliche Grenze. Wir hoffen, das hilft, um ältere Arbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen.
Aber wir können die Menschen nicht selber einstellen. Das ist jetzt Sache derer, die solche Maßnahmen stets von uns gefordert haben.
Von Ihnen erwarte ich jetzt:
Machen Sie Gebrauch von den neuen Möglichkeiten. Setzen Sie die Angebote endlich um, die Sie selbst gefordert haben - statt immer wieder neue Forderungen zu stellen.
Wir gehen ja bereits weiter als je zuvor. Wir werden den Arbeitsmarkt über die "Hartz-Reformen" hinaus öffnen, Schwarzarbeit zurückdrängen und unsere Bemühungen verstärken, dass genügend Ausbildungsplätze bereitgestellt werden.
Aber es muss auch klar sein: Obwohl wir bei der gesetzlichen Umsetzung der Hartz-Vorschläge zügig gearbeitet haben, wird es eine Zeit dauern, bis die entsprechenden Reformen auf den Arbeitsmärkten greifen.
Einfach die aktive Arbeitsmarktpolitik, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, zurückzufahren, noch bevor die neuen Strukturen aufgebaut sind, das kann nicht unsere Lösung sein. Und das werden wir auch nicht tun.
Deshalb wird es in Ostdeutschland auch in Zukunft noch einen zweiten Arbeitsmarkt geben müssen. Das gilt auch in anderen strukturell besonders benachteiligten Regionen.
Meine Damen und Herren,
wir können es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen:
Sind unsere Hilfen wirkliche Hilfen?
Hilfen nämlich zur Integration in die Arbeitswelt und in die Gesellschaft?
Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen - während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen.
Und ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen mit der gleichen Bereitschaft zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. So kann erfolgreiche Integration nicht aussehen.
Wir brauchen deshalb Zuständigkeit und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen.
Deswegen werden wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen.
Und zwar einheitlich auf eine Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entspricht.
Wir kommen gleichzeitig den Menschen entgegen, denen wir mehr abverlangen müssen. So werden wir damit Schluss machen, dass Langzeitarbeitslose, die einen Job annehmen, sämtliche Ansprüche auf Transferleistungen verlieren.
Deswegen werden wir für eine bestimmte Zeit Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäftigung aufnehmen, deutlich mehr als die bisherigen 15 Prozent der Transfers belassen.
Wir setzen damit ein eindeutiges Signal für die Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind.
Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen: wer zumutbare Arbeit ablehnt, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.
Schröder zum Kündigungsschutz
Meine Damen und Herren,
darüber hinaus reformieren wir das Arbeits- und Sozialrecht an den Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre Beschäftigungshemmnisse gebildet haben.
Auch hier vorweg eine Bemerkung:
Der Kündigungsschutz, wie er zum Wesen unserer Sozialen Marktwirtschaft gehört, ist nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Errungenschaft.
Unser Land ist nicht durch die Gesetze des Dschungels, durch bedenkenloses Hire and Fire stark geworden.
Sondern unser Land ist stark geworden durch selbstbewusste Arbeitnehmer, deren Motivation nicht die Angst ist, sondern der Wille, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern etwas zu leisten.
Aber wir sind uns bewusst, welch gewaltige Veränderungen an der ökonomischen Basis stattfinden.
Wir müssen deshalb auch den Kündigungsschutz für Arbeitnehmer und Unternehmer besser handhabbar machen. Das gilt insbesondere für die Kleinbetriebe mit mehr als fünf Mitarbeitern.
Für sie muss die psychologische Schwelle vor Neueinstellungen überwunden werden.
Darüber hinaus werden wir eine wahlweise Abfindungsregelung bei betriebsbedingten Kündigungen einführen.
Im Falle solcher Kündigungen soll der Arbeitnehmer zwischen der Klage auf Weiterbeschäftigung und einer gesetzlich festgelegten Abfindungsregelung wählen können.
Schließlich werden wir die Sozialauswahl so umgestalten, dass auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden.
Statt der Sozialauswahl nur nach starren Kriterien wie Alter oder Dauer der Betriebszugehörigkeit sollen die Prioritäten auch direkt zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern erarbeitet werden.
Das erhöht die Planungssicherheit für die Betriebe und senkt die Hürde für Neueinstellungen.
Dieses Ziel verfolgen wir auch mit einer weiteren Maßnahme. Für Existenzgründer werden wir die maximale Befristung von Arbeitsverhältnissen auf vier Jahre verdoppeln.
Existenzgründer werden zudem in den ersten vier Jahren von den Pflichtbeiträgen an die Handwerks- und Industrie- und Handelskammern befreit.
Meine Damen und Herren,
abgerundet wird unsere Strategie für mehr Beschäftigung durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit, die immer noch Zuwachsraten hat, die uns alle beschämen müssen.
Natürlich ist es ein Gebot der Moral und der Solidarität, Schwarzarbeit gesellschaftlich zu ächten, es ist aber auch ein Gebot der volkswirtschaftlichen Vernunft.
Wir haben bereits damit begonnen, indem wir durch die "Hartz-Reform" legale Beschäftigung attraktiver gemacht haben.
Meine Damen und Herren,
für unsere Volkswirtschaft sind Konzerne und Großunternehmen wichtig. Aber der Motor des Wachstums ist und bleibt der Mittelstand.
Mittelständische Unternehmen werden jedoch durch die hohen Lohn-Nebenkosten und bürokratische Vorschriften besonders getroffen.
Deshalb werden wir vor allem kleine Betriebe künftig deutlich besser stellen. Wir werden das Steuerrecht für Kleinstbetriebe radikal vereinfachen, die Buchführungspflichten reduzieren und die Steuerbelastung kräftig senken.
Mit dem "small business act" verbessern wir die Startbedingungen in die Selbständigkeit.
Wer sich selbständig macht und damit für sich und andere Arbeitsplätze schafft, der hat unsere Anerkennung und politische Unterstützung.
Es darf aber nicht sein, dass Unternehmensgründer und viele kleinere Unternehmen inzwischen mehr Zeit für ihre Bankengespräche aufwenden als für die Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte.
Wir werden deshalb, zum Beispiel durch das Programm "Kapital für Arbeit" und sogenannte "Nachrang-Darlehen", die bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit wie Eigenkapital behandelt werden können, die Kreditbedingungen für kleine Unternehmen verbessern.
Und wichtig ist auch, dass wir mittelständischen Betrieben die Möglichkeit geben, ihre Eigenkapitalbasis zu stärken. Dazu sind gesetzliche Initiativen in Arbeit.
Das Handwerksrecht werden wir modernisieren und verschlanken, damit es im Handwerk wieder mehr Existenzgründungen gibt und dort mehr Arbeitsplätze entstehen und langfristig gesichert bleiben.
Ich will drei besonders wichtige Punkte ansprechen:
Erstens: In den Bereichen, wo es auf das Qualitätssiegel des Meisterbriefes besonders ankommt, soll und muss er auch künftig erhalten bleiben.
Das sind alle Bereiche, in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen könnte, zum Beispiel Heizungs- und Gasinstallateure.
Zweitens: Tüchtigen und erfahrenen Gesellen wollen wir künftig den Aufbau einer selbständigen Existenz erleichtern. Nach zehn Jahren Berufstätigkeit sollen sie einen Rechtsanspruch auf die selbständige Ausübung ihres Handwerks erhalten.
Drittens: Zwar nicht innerhalb einer GmbH, aber als selbständiger Einzelunternehmer braucht der Chef eines Handwerksbetriebs einen Meisterbrief. Künftig wird es ausreichen, wenn er einen Meister in seinem Handwerksbetrieb beschäftigt. Auch das schafft mehr Flexibilität und erleichtert Existenzgründungen.
Meine Damen und Herren,
Arbeitsrecht und Tarifverträge ergänzen sich in Deutschland zu einem dichten Netz geregelter Arbeitsbeziehungen. Das schafft Sicherheit.
Aber es ist häufig nicht so flexibel und ausdifferenziert, wie das für eine komplexe Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb sein muss.
Die Verantwortlichen - Gesetzgeber wie Tarifpartner - müssen in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation und der Arbeitsmarktlage ihre Gestaltungsspielräume nutzen, um Neueinstellungen zu erleichtern.
Dazu ist unabdingbar, dass in den Tarifverträgen Optionen geschaffen werden, um den Betriebspartnern Spielräume zu bieten, Beschäftigung zu fördern und zu sichern.
In der Praxis gibt es bereits eine Vielzahl erfolgreicher Beispiele für Betriebsvereinbarungen.
Sie haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe verbessert.
Dabei ist klar, dass Betriebsvereinbarungen zu Standort- und Arbeitsplatzsicherung, die auf der Grundlage dieser Öffnungsklausel vereinbart werden, dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Tarifvertragsparteien unterliegen.
Es ist aber auch klar, dass dogmatische Unbeweglichkeit uns ebenso wenig voranbringt wie aggressive Angriffe auf das Tarifsystem. Wir brauchen nicht mehr Selbstgerechtigkeit, sondern mehr Kreativität bei der Lösung der Probleme.
In den Tarifverträgen muss durch geeignete Regelungen ein entsprechend flexibler Rahmen geschaffen werden. Das ist die Herausforderung für die Tarifpartner - und ihre Verantwortung.
Artikel 9 des Grundgesetzes gibt der Tarifautonomie Verfassungsrang!
Damit verpflichtet es die Tarifpartner jedoch zugleich, Verantwortung für unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. Hier kann und darf niemand Einzelinteressen über die gesamtgesellschaftliche Entwicklung stellen.
Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln.
Ich will aber zum Thema "Arbeitsmarkt" unmissverständlich klarstellen:
Wir werden das Recht auf Mitbestimmung nicht antasten. Und wir werden auch die Flächentarifverträge nicht abschaffen.
Der Flächentarif schafft gleiche Konkurrenzbedingungen in einer Branche. Er gibt den Betrieben und den Arbeitnehmern Planungssicherheit, er zwingt zur beständigen Steigerung der Produktivität.
Und noch etwas: Ohne mutige und verantwortungsbewusste Betriebsräte würden viele Betriebe heute gar nicht mehr existieren.
Gerade in schwierigen Zeiten sind es Betriebsräte und Gewerkschaften, die ihren Beitrag leisten, damit die Betriebe weiter arbeiten können.
Natürlich müssen sich die Gewerkschaften bewegen und erneuern.
Aber sie haben so viel für Wohlstand und soziale Sicherheit geleistet, dass die Beleidigungen aus den Reihen von CDU/ CSU und FDP eine geschichtslose Unverschämtheit sind.
Und vielleicht muss ich gerade in diese Richtung des Hauses noch einmal daran erinnern, dass die weitaus größte Zahl unternehmerischer Misserfolge nicht die Bundesregierung oder die Gewerkschaften zu verantworten haben. Sondern krasse kaufmännische und strategische Fehler im Management, die oft genug noch mit millionenschweren Abfindungen vergoldet worden sind.
Auch in unserer Unternehmenskultur muss sich etwas bewegen und erneuern, meine Damen und Herren.
Wir haben gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden und den Kammern für den Erhalt und Ausbau des dualen Ausbildungssystems gestritten, um das uns viele Länder der Welt zu Recht beneiden.
Die Bundesregierung sorgt mit diversen Förderprogrammen dafür, dass junge Menschen ein Chance auf Ausbildung und Arbeit bekommen.
Aber inzwischen fehlen schon wieder rund 110.000 betriebliche Ausbildungsplätze, die nicht von der Bundesregierung geschaffen werden können.
Ein Drittel aller Unternehmen bildet aus, viele davon über Bedarf. Aber 70 Prozent der Unternehmen entziehen sich ihrer sozialen Verantwortung.
Es gehört zum Kernbestand der sozialen Marktwirtschaft, dass die unternehmerische Verantwortung sich nicht nur auf ein gutes Jahresergebnis erstreckt.
Unternehmer tragen auch gesellschaftliche Verantwortung. Und diese Verantwortung zeigt sich zunächst und vor allem im Engagement für diejenigen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen. Dies ist ein zentrales Gebot der Wirtschaftsethik.
Meine Damen und Herren,
wir schaffen mit unserer "Agenda 2010" die Voraussetzungen für mehr Wachstum. Dies erlaubt es der Wirtschaft, zu unseren Verabredungen zurückzukehren: Jeder Ausbildungsplatzsuchende muss einen Ausbildungsplatz bekommen!
Ich erwarte, dass die Wirtschaft diese Zusage einhält. Wenn nicht, werden wir im Laufe des nächsten Jahres zu einer gesetzlichen Regelung kommen müssen.
Sie wissen, ich bin kein Freund der Ausbildungsabgabe. Aber ohne eine nachhaltige Verbesserung der Ausbildungsbereitschaft ist die Bundesregierung zum Handeln verpflichtet.
Wir werden aber auch unsererseits nicht tatenlos bleiben, sondern noch bestehende Hemmnisse beseitigen.
Wer bereit ist auszubilden, dem darf das nicht deshalb versagt werden, weil er bestimmte formale Voraussetzungen nicht erfüllt.
Deshalb werden wir die entsprechenden Regelungen so umgestalten, dass jeder, der einen Betrieb mindestens fünf Jahre geführt hat, auch ausbilden darf.
Junge Menschen haben ein Recht auf neue Chancen, und dieses Recht müssen wir ihnen immer wieder einräumen.
Diesem Recht entspricht allerdings die Pflicht, zumutbare Angebote auch anzunehmen.
Meine Damen und Herren,
Solidarität, der Schutz der Schwächeren und die Absicherung gegen Lebensrisiken sind nicht nur ein Verfassungsauftrag. Sie sind, zumindest nach meiner Auffassung, das Fundament unserer Gesellschaftsordnung.
Nicht erst seit den letzten Wochen erleben wir eine ganz und gar unsinnige Diskussion, die so tut, als stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er ist.
Wer die Frage so stellt, der hat schon verloren.
Es liegt doch auf der Hand, dass eine Gesellschaft wie die unsere eine gute Zukunft nur als moderner Sozialstaat haben kann.
Anders als in einem Sozialstaat lässt sich Zusammenhalt gar nicht organisieren in einer Gesellschaft, in der sich der Altersaufbau, die Art und Dauer der Arbeitsverhältnisse, aber auch die kulturelle Vielfalt dramatisch verändern.
Aber wir müssen aufhören, die Kosten von Sozialleistungen, die der Gesellschaft insgesamt zugute kommen, immer nur und immer weiter dem Faktor Arbeit aufzubürden.
Gewiss: Wir werden erhebliche Einsparungen durch Umstrukturierungen im System und durch Abbau von Bürokratie erreichen.
Aber es wird auch nötig sein, Ansprüche und Leistungen zu streichen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunftschancen verbauen.
Die Menschen, die in den Betrieben und Büros ihre Arbeit tun, erwarten, dass wir die Belastung durch Steuern und Abgaben senken.
Die Steuern senken wir, wie versprochen, zum 1. Januar 2004 und dann noch einmal zum 1. Januar 2005.
Und durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die Lohnnebenkosten.
Unter anderem dadurch, dass wir das Arbeitslosengeld für die unter 55-jährigen auf 12 und für die über 55-jährigen auf 18 Monate begrenzen.
Die Reform der Rentenversicherung im Jahr 2001 war die wichtigste rentenpolitische Entscheidung seit der Einführung der umlagefinanzierten dynamischen Rente im Jahr 1957.
Bis Ende vergangenen Jahres wurden im Bereich der individuellen Altersvorsorge 3,4 Millionen Verträge abgeschlossen, bei der betrieblichen Altersvorsorge waren es etwa 2 Millionen.
Das sind, bezogen auf die 35 Millionen Arbeitnehmer in unserem Land, immerhin 15 Prozent, und das bereits nach einem Jahr.
Es zeigt sich aber, dass wir in unseren Annahmen zu pessimistisch und zu optimistisch zugleich waren:
Zu optimistisch, was die Beschäftigungsentwicklung anging.
Zu pessimistisch in bezug auf die Entwicklung der durchschnittlichen Lebenserwartung, die glücklicherweise immer höher wird.
Aus diesen beiden Gründen ist es nötig, bei der Rentenversicherung nachzujustieren. Dabei muss der Grundsatz beibehalten werden, dass die Renten gesichert und die Beiträge bezahlbar bleiben.
Das heißt aber auch, dass wir von der Rürup-Kommission ergänzende Vorschläge erwarten, wie die Rentenformel entsprechend anzupassen ist.
Meine Damen und Herren,
ich habe gesagt: Alle müssen einen Beitrag leisten.
Deshalb gilt eine erneute Null-Runde auch für die Gehälter der Bundesminister und Staatssekretäre.
Reform des Gesundheitswesens
Meine Damen und Herren,
kaum einen Bereich der Politik betrachten die Menschen mit so hohen Erwartungen, aber auch mit Sorge, wie die Reform des Gesundheitswesens.
Gleichwohl ist die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung der notwendigste Teil der innenpolitischen Erneuerung.
Weil wir nur mit einer Reform das hohe Niveau der medizinischen Versorgung für die Zukunft sichern können.
Kein Zweifel: Unser heutiges System der gesetzlichen Krankenversicherung mit mehr als 70 Millionen Mitgliedern ist immer noch sehr leistungsfähig. Qualität und Standards im deutschen Gesundheitswesen sind im internationalen Vergleich immer noch vorbildlich.
Aber Krisenzeichen sind unübersehbar. Einnahmen und Ausgaben der Krankenkassen entwickeln sich weiter auseinander.
Die Strategie der Kostendämpfung ist an ihre Grenzen gestoßen. Dabei werden 20 Prozent der Kosten durch Über- und Fehlversorgung verursacht. Jeder kennt das, und hat eigene Beispiele vor Augen.
Wir werden Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen, auch wenn das deutsche Gesundheitssystem verkrustet und vermachtet ist, wie kaum ein anderer Bereich der Gesellschaft.
Was uns alle antreiben sollte, ist doch folgendes:
Das Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung im Gesundheitssystem ist nahezu verschwunden. Viele agieren nach dem Grundsatz des raschen, bedenkenlosen Zugriffs. Eine Mentalität der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität verdrängt.
Darum sage ich:
Hier ist auch in den Haltungen aller Akteure ein Umdenken notwendig. Denn wir haben nicht nur Einnahmeverluste aufgrund hoher Arbeitslosigkeit.
Der medizinische Fortschritt, der an sich erfreulich ist, wird die Kosten im Gesundheitssektor weiter nach oben treiben. Zudem steigt die Zahl der älteren Mitbürger weiter an, die im Durchschnitt weniger einzahlen und weitaus mehr Leistungen in Anspruch nehmen müssen.
Anderen Gesellschaften ging oder geht es ganz ähnlich. Dabei zeigt sich die klare Alternative:
Entweder wir lassen die Entwicklung treiben, dann bleibt nur die Einschränkung medizinischer Leistungen oder eine vom Alter abhängige Zuteilung von medizinischer Versorgung.
Oder wir entschließen uns zu Reformen, die das hohe Gut Gesundheit für alle finanzierbar halten.
Der erste Weg ist nicht der Weg, den wir gehen wollen. Für uns bleibt es beim Grundsatz: Jeder erhält die notwendige medizinische Versorgung unabhängig von Alter und Einkommen. Das erwarten auch die Menschen von uns. Sie wollen am Solidarprinzip in der Krankenversicherung festhalten.
Zur Erneuerung des Gesundheitswesens brauchen wir aber einschneidende Kurskorrekturen.
Ein Teil der notwendigen Maßnahmen wird im zuständigen Bundesministerium vorbereitet.
Zum Finanzierungsteil wird die Rürup-Kommission bis zum Mai ihre Vorschläge vorlegen.
Erfolg werden wir nur haben, wenn zwei Ziele unstrittig sind: Hohe Qualität der Gesundheitsversorgung und kostenbewusstes Verhalten von Ärzten, Krankenkassen, Kliniken, Apothekern, Pharmaunternehmen - aber auch der Versicherten.
Der Staat muss deshalb helfen beim Abbau von Verkrustungen. Und er muss mehr Wettbewerb im System zulassen und fördern.
Er muss kostentreibende Monopolstrukturen beseitigen.
Hierzu gehört auch das Vertragsmonopol der kassenärztlichen Vereinigungen. Es hat sich überlebt. Wir werden den Krankenkassen endlich ermöglichen, Einzelverträge mit Ärzten abzuschließen.
Auf der anderen Seite hat ein System mit 350 unterschiedlichen Krankenkassen ebenfalls Modernisierungsbedarf. So viele werden es nicht bleiben können.
Wir werden hier auf die Schaffung überschaubarer und leistungsfähiger Strukturen dringen.
Qualitätssicherung wird die zweite große Ressource sein, die wir ausschöpfen müssen.
Die Sicherung von Qualität gehört zu den Schlüsselaspekten einer wirklichen Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung. Ohne klare Standards ist Qualität aber kaum möglich.
Wir werden den Leistungskatalog überarbeiten und Leistungen streichen.
Wir müssen bestimmen, was künftig zum Kernbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung gehört, und was nicht.
Da gibt es Vorschläge, Zahnersatz oder gar die Zahnbehandlung nicht mehr von den Krankenkassen zahlen zu lassen.
Da kann ich nur sagen:
Wir haben bereits ein System, das Eigenvorsorge bei der Zahnpflege belohnt. Das soll so bleiben. Ich möchte nicht, dass man den sozialen Status wieder an den Zähnen ablesen kann.
Auch die Forderung, private Unfälle aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung heraus zu nehmen, wirft schwerwiegende Probleme auf.
Ich zweifle zuallererst, ob eine trennscharfe Abgrenzung zwischen krankheits- und unfallbedingten Leiden überhaupt möglich ist.
Auch ist mir nicht einsichtig, Sportunfälle einer besonderen Versicherungspflicht zu unterwerfen. Damit würden wir vor allem den Breitensport treffen, einen Bereich, der zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention beiträgt.
Der aber auch gerade für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig ist.
Anders beurteile ich die Frage der privaten Vorsorge für das Krankengeld. Hier handelt es sich um einen klar abgrenzbaren Kostenblock, der auch für die Zukunft überschaubar bleibt.
Die Kostenbelastung für den Einzelnen bleibt deshalb gering. Medizinisch notwendige Leistungen sind nicht berührt.
Außerdem werden wir das tun müssen, was wir mit der Rentenstrukturreform geleistet haben:
Die Befreiung der Gesetzlichen Krankenversicherung von einer Reihe sogenannter versicherungsfremder Leistungen. Dazu gehört zum Beispiel das Mutterschaftsgeld, das aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden muss.
Wenig verständlich ist auch der öffentliche Disput über Zuzahlungen und Selbstbehalte. Formen von Eigenbeteiligungen sind im System lange bekannt.
Sie haben eine Steuerungswirkung und halten Versicherte zu kostenbewusstem Verhalten an.
Gerade unter dem Aspekt von Eigenverantwortung sollten wir deshalb Instrumente wie differenzierte Praxisgebühren und Selbstbehalte nutzen.
Menschen mit geringen Einkommen, Kinder und chronisch Kranke werden davon ausgenommen.
Durchsetzen muss sich schließlich die Erkenntnis, dass Gesundheitspolitik sich nicht auf die Heilung bereits eingetretener Krankheit beschränken darf, sondern der Prävention Vorrang einräumen muss.
Nicht nur der Staat ist hier in der Pflicht, auch Ärzte, Krankenkassen und Versicherte tragen Verantwortung.
Wir sollten uns am Vorbild der skandinavischen Länder orientieren, die durch systematische Förderung gesundheitsbewussten Verhaltens wichtige Beiträge zur Kostensenkung im Gesundheitswesen erzielt haben.
Nicht ansatzweise ausgeschöpft scheinen mir auch die Reserven, die in einer Modernisierung der Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen liegen.
Der elektronische Patientenausweis und die elektronische Krankenakte sind nicht nur technologisch anspruchsvolle Projekte, die wir bis zum Jahre 2006 voll funktionsfähig haben wollen.
Sie werden auch dazu beitragen, kostenaufwendige Doppel- und Mehrfachversorgungen zu vermeiden und die Qualität der Behandlung zu erhöhen.
Durch die Umsetzung der vorgeschlagenen ordnungs- und strukturpolitischen Maßnahmen werden wir die Krankenversicherungsbeiträge unter 13 Prozent drücken können.
Resümee
Meine Damen und Herren,
ich habe Ihnen die Agenda 2010 vorgestellt.
Ich habe Ihnen zu beschreiben versucht, was wir leisten müssen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln.
Unser Land hat große Potenziale, die wir durch eine gemeinschaftliche Anstrengung wecken können.
Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab. Aber wir tun es, weil damit den Menschen neue Chancen eingeräumt werden. Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und Höchstleistungen zu erbringen. Diese Chancen können wir uns erarbeiten.
Das heißt zuallererst: Chancen für Bildung und Investitionen in Forschung und Entwicklung, kurz: in Wissen und Möglichkeiten für die Zukunft.
Andere Länder haben uns vorgemacht, dass weitreichende Strukturreformen mit verstärkten Investitionen in Bildung und Forschung einhergehen müssen, wenn man Erfolg haben will.
Aber: im keinem vergleichbaren Industrieland entscheidet die soziale Herkunft in so hohem Maße über die Bildungschancen wie in Deutschland.
Es ist ein Skandal, dass in Deutschland die Chance des Gymnasialbesuchs für einen Jugendlichen aus der Oberschicht sechs bis zehn mal so hoch ist wie für einen Jugendlichen aus einem Arbeiterhaushalt!
Es ist ein Skandal, dass jeder vierte ausländische Schüler ohne Schulabschluss bleibt!
Und es ist den Menschen nicht mehr zu vermitteln, dass wir uns immer wieder in Kompetenzstreitigkeiten verlieren, statt uns dieser großen nationalen Herausforderung zu stellen.
Die Lösungen sind bekannt: Wir brauchen neue Ansätze in der vorschulischen Erziehung, wir brauchen mehr Sprachunterricht für Ausländer, wir brauchen Lehrer, die Zeit haben, um auf die individuellen Schwierigkeiten der Kinder einzugehen.
Wir brauchen das Angebot einer Ganztagsbetreuung, die die pädagogischen Chancen dieser Schulform wirklich nutzt. Und wir brauchen - nicht zuletzt - auch ein neues Interesse an naturwissenschaftlich-mathematischen Fächern.
Weil wir dies alles brauchen, werde ich noch vor dem Sommer die Ministerpräsidenten der Länder zu einem Bildungsgipfel einladen.
Meine Damen und Herren,
wir werden unser Wohlstandsniveau nur halten können, wenn wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation verstärkt in Bildung und Forschung investieren.
Deshalb haben wir in der vergangenen Legislaturperiode in der Forschungspolitik erfolgreich umgesteuert und den Etat des Ministeriums für Bildung und Forschung um rund 25 Prozent erhöht.
Aus Kostengründen mussten wir in diesem Jahr kürzer treten. Das darf nicht so bleiben.
Deshalb wird die Bundesregierung in der gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation ein Zeichen setzen und die Etats der Max-Planck-Gesellschaft und anderer Forschungseinrichtungen im nächsten Jahr wieder um 3 Prozent erhöhen.
Meine Damen und Herren,
die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahrzehnte haben uns dazu gezwungen, unseren Blick auf uns selbst und auf die Welt zu verändern.
Was daraus heute für unser Land zwingend folgt, habe ich in der "Agenda 2010" dargelegt.
Wir haben die Pflicht, den nachfolgenden Generationen nicht durch unsere Unbeweglichkeit die Chancen auf ein gutes Leben in einer friedlichen und gerechten Welt zu verbauen. Deshalb brauchen wir heute den Mut zur Veränderung.
Unser Land muss wieder zu einem Zentrum der Zuversicht in Europa werden.
Die Neunmalklugen aus den Verbänden, Parteien und in einigen Medien sind schon unterwegs, um neue Forderungen zu stellen, noch ehe die bereits erfüllten Forderungen umgesetzt sind.
Ihnen sage ich:
Nicht alle Probleme, vor denen wir heute stehen, sind erst gestern entstanden. Nicht alle Lösungen, die wir heute diskutieren, können schon morgen wirken.
Aber ich bin entschlossen, nicht mehr zuzulassen, dass Probleme auf die lange Bank geschoben werden, weil sie kaum überwindbar scheinen. Und ich will nicht länger hinnehmen, dass Lösungen an Einzelinteressen scheitern.
Wir besinnen uns auf das, was unser Land stark gemacht hat: Fleiß und Kreativität, Solidarität und den Mut, eine gute Zukunft zu schaffen.
Lassen sie uns dafür gemeinsam arbeiten.
Ich danke Ihnen."