Der Globetrotter
Langsam quält sich der Wagen den Berg hoch. Mit Tempo 40 fährt er auf der kurvenreichen Straße. Mit jedem Höhenmeter wird die Aussicht atemberaubender. Unten die Wolkenkratzer von Hongkong, oben auf dem Berg die Residenzen derer, die in den Hochhaustürmen der City das große Geschäft machen. Je höher die Wohnlage, so die banale Korrelation, desto reicher der Besitzer. Mit jedem Höhenmeter steigt der Immobilienpreis. Bei etwa 150 Meter über dem Meeresspiegel ist die Fahrt zu Ende.
"Mid-Level" heißt die Gegend hier. Während Hongkongs Superreiche ganz oben am Berg in protzigen Villen hausen, leben auf dem Mid-Level die einfachen Millionäre in eleganten Wohnsilos wie dem "Century Tower".
Im 19. Stock dieses Appartementhauses wohnt ein großer, schlanker Deutscher, der den Gast im grauen Zweireiher empfängt und gleich mit hessischem Akzent drauflosbabbelt. Willkommen bei Deutschlands wohl unbekanntestem Unternehmer: Hans- Jörg Seeberger.
Der 60-Jährige, der vor knapp 40 Jahren nach Asien auswanderte und von dort aus ein Firmenimperium namens EganaGoldpfeil schuf, ist allenfalls Branchenexperten geläufig. Dabei gebietet Seeberger über ein Reich von 35 Marken - darunter, neben Goldpfeil, so bekannte wie Dugena, Junghans, Sioux oder Joop.
Nahezu unbemerkt hat Seeberger einen feinen kleinen Luxuskonzern geschmiedet - gewissermaßen die deutsche Antwort auf die französische LVMH-Gruppe. Mit knapp 4700 Beschäftigten und einem Umsatz von 280 Millionen Euro rangiert EganaGoldpfeil inzwischen unter den Top Ten der globalen Luxusindustrie.
Der Markensammler aus dem fernen Hongkong entspricht so gar nicht dem deutschen Unternehmerklischee. Seeberger ist ein Abenteurer, ein Glückspilz, ein Malocher - kurz: ein Typ, wie es hier zu Lande nur wenige gibt. Einer, dessen Lebensgeschichte genug Stoff für einen Roman liefert.
"Wollen Sie die hören?", fragt er und blickt aus dem Wohnzimmerfenster über die Skyline von Hongkong. Seine Frau kredenzt Kaffee und selbst gemachten Käsekuchen. Michiyo ist Japanerin.
Mit der Liebe zu Japan fing Seebergers globale Wanderschaft an. Das Land der aufgehenden Sonne faszinierte ihn bereits als Buben. Er las alles über Japan, begann mit Judo und Karate, schaffte es sogar bis in die deutsche Karate-Nationalmannschaft.
Mit 22 Jahren hielt er es dann nicht mehr länger aus in der hessischen Provinz. Statt sich als Polizist verbeamten zu lassen, packte er 1965 einen Seesack, verabschiedete sich von seinen weinenden Eltern und ging in Marseille an Bord eines Frachters nach Japan.
In Tokio lernte er Japanisch und perfektionierte sein Judo. Er schlug sich durch als Deutschlehrer, Modell (er posierte auf Anzeigen für Honda-Motorräder) und Gelegenheitsschauspieler. Wenn für einen Film ein Westler gebraucht wurde, sprang Seeberger ein. Einmal musste der Hesse einen peruanischen Studenten mimen, der in Japan das Sushi-Machen lernen wollte.
Dann - mit 30 - kam der Knacks. Es war beim Karatetraining an der Universität. Ein Schmerz, ein Schrei. Als ob er die Pein noch immer spürt, springt Seeberger vom Sofa hoch, knüpft den Zweireiher auf und spielt die Karateübung nach, bei der er sich damals die Wirbelsäule verletzte. Und fragt danach mit schmerzverzerrtem Gesicht: "Haben Sie schon einmal einen Hexenschuss gehabt?"
So weh tat das damals - und zwar wochenlang. Seeberger lag drei Tage weinend im Bett, musste seinen geliebten Sport aufgeben und sein Leben neu sortieren.
Klar war nur: Er wollte in Japan bleiben und "ins Business - mein zweites Hobby - einsteigen". Ausgestattet mit einem Minibüro - bestehend aus Schreibtisch und Telex - gründete er seine erste Firma.
Bei ein paar deutschen Unternehmen hatte sich herumgesprochen, dass es einen "verrückten Deutschen in Tokio" (Seeberger) gab. Und so ist er ins Geschäft gekommen.
Für Salamander organisierte er den Ledereinkauf, dem Uhrenhersteller Dugena besorgte er japanische Quarztechnologie. Er handelte mit Diamanten, Perlen, Uhren und Lederwaren. Anfang der 80er Jahre erwarb Seeberger den kleinen Schweizer Uhrenbauer Egana, Keimzelle und Namensgeber seines heutigen Imperiums.
Als der Uhrenhersteller Dugena, dessen Asien-Chef er seit einigen Jahren war, kurz vor dem Bankrott stand, zog er für drei Jahre nach Darmstadt, sanierte die Firma. 1993 kaufte seine Egana dann Dugena.
Um sich Spielraum für weitere Übernahmen zu schaffen, brachte der Multi-Unternehmer Anfang der 90er Jahre 60 Prozent von Egana an die Hongkonger Börse. Mittlerweile ist der Konzern, der im Hang-Seng-Index gelistet ist, rund 180 Millionen Euro wert.
Über sein Leben kann Seeberger stundenlang erzählen. Dabei hüpft er von Station zu Station, von Kontinent zu Kontinent, von Anekdote zu Anekdote: "Soll ich Ihnen mal ein paar Geschichten über Ex-DG-Bank-Chef Guthardt erzählen?"
Da unterbricht ihn das Telefon. "Das ist Caroline", entschuldigt sich Seeberger, "da muss ich ran." Caroline Wong ist seine jahrelange Sekretärin, sein Mädchen für fast alles. "Caroline", ermahnt er sie, "please call only, when there is something very important."
Caroline wird in den nächsten Stunden noch öfter anrufen. Das Faxgerät in Seebergers Arbeitszimmer brummt permanent. Immer mal wieder verschwindet er dort kurz, um die neuesten Faxe und E-Mail-Ausdrucke von Caroline zu sichten.
Typisch Seeberger. Der Mann "ist rund um die Uhr im Einsatz, er ist ein Arbeitstier", sagt der ehemalige Metro-Chef Klaus Wiegandt - einer der wenigen Manager, die Seeberger seit langem kennen.
In all diesen Jahren hat Wiegandt beobachtet, wie der Mann mit dem Asientick ein Schnäppchen nach dem anderen jagt. Und dabei immer öfter ins Topsegment vorstößt.
Seebergers Expansionsstrategie ist vergleichsweise unspektakulär: Er übernimmt vorzugsweise kleine Luxuslabel, die sich noch in der Hand einer Eigentümerfamilie befinden, wie etwa den Feintäschner Comtesse (teuerste Tasche: 13 000 Euro) oder den Goldschmied Abel & Zimmermann (Ketten bis zu 20 000 Euro).
Vorausgesetzt,
der Preis stimmt, schnappt Seeberger aber auch bei größeren Fischen gern zu: 1998 schluckte er den Lederwarenhersteller Goldpfeil, im Jahr 2000 die Uhrenfabrik Junghans.
Deren Besitzer, die Nürnberger Diehl-Familie, verlangte Ende der 90er Jahre für Junghans Uhren 125 Millionen Mark. "Das war mir zu viel", erinnert sich Seeberger. Er pokerte, bis der Kaufpreis sank. Ende 2000 erwarb er den Spezialisten für Funk- und Solararmbanduhren dann doch für wesentlich weniger.
Seeberger kann warten. Als er vor drei Jahren den Hamburger Bekleidungskonzern Wünsche kaufen wollte, ließ er eine Feasibility Study erstellen ("Die hat uns viel Geld gekostet") und merkte: "Das kann uns den Kragen kosten." Also strich er Wünsche zunächst von seiner Wunschliste.
Er griff erst zu, als Wünsche insolvent wurde und zerlegt werden musste. Gemeinsam mit den beiden anderen Joop-Lizenznehmern Strellson AG (Eigentümer: die Holy-Brüder) und dem US-Kosmetikkonzern Coty kaufte er die Nobelmarke aus der Wünsche-Konkursmasse heraus.
In der Leder-, Uhren- und Schmuckbranche ist der Markensammler aus Hongkong für Verkaufswillige inzwischen erste Anlaufadresse. Dort hat sich längst herumgesprochen, dass es im fernen Asien einen Herrn Seeberger gibt, der gern mal ein Unternehmen aus dem gehobenen Konsumgütersegment erwirbt. So kam er an die beiden Topmarken Sioux und Apollo des Schuhherstellers Salamander.
Bei seiner Einkaufstour lässt sich der Hesse aus Asien aber nicht allein vom Preis leiten. Die neue Firma muss in seine Markenpyramide passen (siehe Grafik Seite 78). Und sie muss Synergien liefern - "und zwar von Anfang an", so Seeberger. Demnächst gibt es zum Beispiel eine Goldpfeil-Schuhkollektion aus dem Hause Apollo.
Auf die Frage nach seinem Vorbild verschwindet Seeberger mal wieder in seinem Arbeitszimmer und kommt mit einem Zeitungsartikel zurück: "Schauen Sie: Die haben uns in einem Aktienchart mit LVMH verglichen."
Dieser Vergleich macht ihn stolz. Zumal der Kursverlauf zeigt, dass EganaGoldpfeil die vergangene Krise der Luxusindustrie besser gemeistert hat als der Konkurrent. Überheblich wird Seeberger deshalb noch lange nicht: "Wir sind und werden keine LVMH. Dazu sind wir viel zu klein." Typisch Seeberger. "Ein ganz bescheidener Mensch", sagt Ex-VW-Vorstand Martin Posth, der ihn vor zehn Jahren in Hongkong kennen gelernt hat und seither mit ihm befreundet ist. Seeberger sei kein Partygänger, kein Wichtigtuer. "Glaube ja nicht, dass du der Größte bist", lautet eines der Seeberger'schen Gebote. Egozentrische Manager, die Kritik als Majestätsbeleidigung auffassen, sind ihm zuwider.
Und so hält er sich weitgehend auf Distanz zu Topentscheidern. "Im Grunde ist er ein Einzelgänger", sagt Klaus Wiegandt. Weder in Hongkong noch in Deutschland ist Seeberger gut verdrahtet. Selbst in der Lifestyle-Branche kennt ihn kaum einer persönlich.
Jochen Holy, der ehemalige Boss-Besitzer, hatte nur den Namen Seeberger schon gehört. Als er dann gemeinsam mit ihm Joop übernehmen wollte, reiste er erst einmal nach Hongkong. Nach dem Treffen mit Seeberger war Holy "schwer beeindruckt". Seeberger sei ein fairer Geschäftspartner, einer, "der deutlich sagt, was er meint".
Seeberger - der Zen-Buddhist mit den deutschen Tugenden. Wie lange hält der Kosmopolit, der Hessisch perfekt, Englisch und Japanisch sehr gut und Chinesisch leidlich spricht, das Nomadenleben zwischen Hongkong, Offenbach, dem Sitz der Europa-Zentrale, und den weltweit verstreuten Fabriken noch durch?
Das Jetten von Kontinent zu Kontinent schlaucht ihn zunehmend. "Der Körper gewöhnt sich nicht an das viele Reisen", sagt der Vielflieger. Und doch mutet er sich viel zu: eineinhalb Tage nach Dallas in den USA und zurück zum Beispiel. Das ist von Hongkong aus eine halbe Weltreise.
Wenn er - wie allzu oft - mit der Cathay-Pacific-Maschine um 23.45 Uhr nach Frankfurt fliegt, legt er sich gleich nach dem Start schlafen. Kein Essen, kein Film, nur ab und zu ein Schluck Mineralwasser. Morgens gegen vier Uhr MEZ - so kurz hinter Moskau - steht er auf, isst eine Kleinigkeit und bereitet sich auf den Arbeitstag vor, den er dann um acht Uhr in seinem Offenbacher Büro beginnt.
Klaus Wiegandt hat dem 60-Jährigen vor kurzem in aller Freundschaft den dezenten Hinweis gegeben: "Seeberger, Sie sind auch nicht mehr der Jüngste."
Das weiß er selbst - und träumt schon von einem Altersdomizil auf Mallorca. Das operative Tagesgeschäft ist bereits in Händen des Deutsch-Franzosen Michael Richard Poix (51). Dennoch ist der Konzern nach wie vor voll auf Seeberger zugeschnitten.
Aufhören und loslassen? Diese Frage verdrängt Seeberger. Er habe mit dem Unternehmen schließlich noch so viel vor.
Seine Frau erlöst ihn von der Qual, darüber noch weiter nachdenken zu müssen. Sie ruft zum Abendessen, das in seiner Vielfalt das Leben des Hans-Jörg Seeberger relativ gut widerspiegelt. Es gibt japanische Sushi, chinesische Teigtaschen und provençalisches Rindfleisch. Dazu serviert der Gastgeber spanischen Rotwein.
Nach dem Dinner verdrückt Seeberger sich in sein Arbeitszimmer. Caroline hat noch mal einen ganzen Stapel Faxe geschickt.
Wolfgang Hirn