Was Sie schon immer über den Mittelstand zu wissen glaubten ... entspricht längst nicht mehr der Wirklichkeit
Über keine andere Sphäre der deutschen Wirtschaft kursieren so viele Vorurteile und Legenden wie über die Millionen kleiner und mittlerer Unternehmer. Einst die Götter im Walhalla des bundesrepublikanischen Kollektivstolzes, sind sie inzwischen heruntergekommen - wahlweise zum Opfer oder zum Deppen, je nach Perspektive des Betrachters.
Viele Sorgen umkreisen derzeit den deutschen Mittelstand. In einer "besonders schwierigen Situation" steckten die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, konstatiert die Bundesbank. Hier spiegelten sich "alle Probleme unserer verkrusteten Gesellschaft", meint HypoVereinsbank-Chef Dieter Rampl.
Alles nicht ganz falsch - aber auch längst nicht die ganze Wahrheit.
manager magazin hat sich aufgemacht, den Mythos Mittelstand einer intensiven Untersuchung zu unterziehen. Eine repräsentative Umfrage für mm und den Energieversorger Watt Deutschland (siehe Kasten Seite 106) bei Geschäftsführern mittlerer Unternehmen fördert überraschende Ergebnisse zutage.
Anders als die meisten Studien richtet die mm/Watt-Untersuchung "Perspektive Mittelstand" den Fokus auf die Veränderungen in den Unternehmen selbst. Wie schätzen sie die Zukunft ein? Welche Strategien verfolgen sie? Mit welchen Mitteln kämpfen sie gegen die Flaute?
So viel vorweg: Herausgekommen ist das Bild einer Wirtschaft, die sich mitten in einem dramatischen Wandel befindet - und einer Unternehmerschaft, die sich verzweifelt an den eigenen Mythos klammert.
Mythos Solidität
Kleine Firmen sind das Fundament der Wirtschaft
Trotz der aktuell schwierigen Lage gilt der Mittelstand immer noch als Hort der Soliden und der Anständigen. Während Großkonzerne blindlings Trends nachliefen, so das Vorurteil, sei auf die kleineren Firmen Verlass. Sie seien das stabile und humane Fundament der deutschen Wirtschaft. So schätzen sich auch die Unternehmer selbst ein.
Die Realität sieht anders aus: Sowohl die ökonomische Großwetterlage als auch die Situation ihres eigenen Unternehmens malt die Mehrheit in düsteren Farben (siehe Grafik unten). Positives über das Land wissen nur 3 Prozent zu berichten. Die eigenen Unternehmen beurteilen sie zwar deutlich besser als Deutschland insgesamt. Doch unübersehbar sind die allermeisten schlechter Stimmung. Auch in die Zukunft schauen sie trüben Blickes. Ein alarmierendes Ergebnis. Umso mehr, als Unternehmer von ihrer mentalen Grundausstattung her eigentlich zu notorischem Optimismus neigen.
Und wer ist schuld an der Misere? Nicht wir, sagen die Unternehmer. Sie klagen - über die schlechte Marktlage, die dazu führt, dass ihre Kunden Probleme bekommen und ihre Absatzpreise unter Druck geraten; über den starken Euro, der den Export verteuert; über die Banken, die allzu zögerlich bei der Kreditvergabe sind.
Und über die Regierung: Eine überwältigende Mehrheit gibt den Politikern maßgebliche Mitschuld an der Malaise (siehe Grafik unten).
Noch deutlicher fällt das Urteil jener Unternehmer aus, deren Firmen es schlecht geht. Von ihnen sind fast 90 Prozent der Ansicht, Bundes- und Landesregierungen seien ganz direkt für die Misere ihrer Firma mitverantwortlich. Ganz oben auf der Liste der politischen Ärgernisse: Steuergesetze und sonstige staatliche Reglementierungen.
Doch fordern längst nicht alle, der Staat möge sich zurückziehen und der unternehmerischen Freiheit mehr Raum lassen. Viele suchen selbst staatliche Obhut - in Form von gezielter Mittelstandsförderung und von Schutz vor ausländischen Konkurrenten (siehe Grafik Seite 103).
Selbstkritisch mit der eigenen Leistung als Geschäftsführer geht nur eine kleine Minderheit ins Gericht. "Missmanagement im eigenen Unternehmen" ist für die allermeisten kein Thema.
So kann man sich irren.
Mythos Dynamik
Der Mittelstand treibt die Wirtschaft voran
"Der Mittelstand", tönte Kanzler Gerhard Schröder noch vor wenigen Monaten, "ist und bleibt der Motor des Wachstums."
Indes, von Tatendrang ist derzeit nicht viel zu sehen. Die Umfrage zeigt eine Unternehmerschaft, die überwiegend defensiv bis ängstlich agiert.
Viele ziehen sich auf ihr Kerngeschäft zurück, statt zu expandieren (48 Prozent); setzen die Zulieferer unter Druck und senken die Einkaufspreise (43 Prozent); bauen Kapazitäten ab und kürzen Stellen (25 Prozent).
Immerhin: Es gibt sie wirklich, jene Entrepreneure, von denen einst der Ökonom Joseph Schumpeter schwärmte, sie seien die Avantgarde des Fortschritts. Aber sie bilden eine Minderheit: 19 Prozent peitschen ihre Firmen auch in der Krise auf Wachstumskurs. 26 Prozent erschließen derzeit neue Geschäftsfelder.
"Der dynamische Unternehmer, der Neues probiert, ist eine rare Spezies", urteilt Ernst&Young-Berater Peter Englisch (siehe Interview oben).
Nun ist es verständlich, dass Geschäftsführer, die ums Überleben ihrer Firma kämpfen, nicht sonderlich offensiv vorgehen, sondern zunächst alles daransetzen, Verluste zu stoppen. Konsolidierung heute kann gerade die Voraussetzung für Wachstum morgen sein.
So sehen es auch viele Befragte: Wer bislang nicht schon expansiv agiert, gibt zumindest an, er plane dies für die Zukunft. Jeweils ein Drittel will in den nächsten Jahren die Produktpalette und/oder den Marktanteil ausweiten.
Aber wie realistisch sind diese Pläne? Nicht sonderlich - gemessen an der bisherigen Leistung vieler Unternehmer.
Mythos Führung
Die Kleinen sind schneller und flexibler
Unbürokratisch und flexibel agieren zu können, das ist der große Vorteil kleinerer Unternehmen gegenüber den Konzernen. Theoretisch. Praktisch wissen nur wenige Mittelständler diese Stärke auszuspielen.
Die Umfrage zeigt: Im Mittelstand gibt es ein gravierendes Managementdefizit. Maßnahmen, die die Geschäftsführer selbst für notwendig erachten, packen sie häufig nicht an. Viele warten untätig ab, verharren wie gelähmt, bis die Zeiten besser werden - oder die Bank den Stecker zieht.
Dieses Vollzugsdefizit findet sich insbesondere bei Unternehmen, die schlecht dastehen. Selbst absolut notwendige Maßnahmen zur Verbesserung der Ertragslage - neue profitable Geschäftsfelder zu erschließen beispielsweise - unterlassen sie.
Ein Befund, der in krassem Gegensatz zur Selbsteinschätzung der Unternehmer steht. Die große Mehrheit glaubt nämlich, ein hervorragendes "Gespür für Entwicklungen des Marktes zu haben"; zu fühlen, "wann welche Entscheidungen getroffen werden müssen". Und sie bekennen sich dazu, "manchmal aus dem Bauch heraus" zu entscheiden. Trotz der kritischen Lage vieler Unternehmen fühlt sich fast niemand mit der Firmenleitung "überfordert".
Typisch: Obwohl sie in Schwierigkeiten stecken, obwohl viele ihren Mitarbeitern die Gehälter kürzen, klammern sich die Inhaber selbst an ihren gewohnten Lebensstandard. Einschränkungen? Nicht mit uns. Sogar bei Firmen in akut schlechter Verfassung halten es zwei Drittel eher nicht für nötig, privat Verzicht zu üben.
Offenbar mangelt es vielen an kritischer Distanz zur eigenen Leistung. Während sich Manager in der Konzernwelt ständig rechtfertigen müssen, fehlen solche Prüfinstanzen in den meisten Familienunternehmen.
Von "Corporate Governance" kann in vielen Firmen keine Rede sein. Der Patriarch regiert als Alleinherrscher. Und so soll es bleiben.
Mythos Öffnung
Die Unternehmerfamilien ziehen sich zurück
Private-Equity-Finanzierer und Strategieberater, Großkonzerne und Investmentbanker - viele lauern derzeit darauf, dass sich die mittelständischen Firmen in der Krise öffnen; dass sich die Familien zurückziehen, um Geld und Know-how von außen ins Unternehmen zu holen.
Sie können lange warten. Der Mittelstand bleibt eine geschlossene Gesellschaft. Blut ist dicker als der Cashflow, das gilt auch in Zukunft.
Mehr als die Hälfte möchte, dass der Laden auf jeden Fall "in den Händen der Familie" bleibt. Und die Patriarchen klammern sich an ihre Position: Der in vielen Firmen überfällige Generationswechsel an der Spitze ist selten ein Thema - nur 16 Prozent planen die Übergabe der Geschäfte an ein jüngeres Familienmitglied.
Dabei sei gerade in Zeiten wie diesen ein wohl vorbereiteter und allmählicher Generationswechsel nötig, meint Max Schön, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer (ASU). "Die Übergabe darf nicht abrupt ablaufen. Der alte Chef und sein Nachfolger sollten zusammenarbeiten" (siehe Interview Seite 98).
Auch die Öffnung für externe Anteilseigner ist für die große Mehrheit immer noch kein Thema; nur 8 Prozent der Befragten fassen diesen Schritt ins Auge. Selbst Strategieberater zu beschäftigen, zieht nur ein Achtel in Betracht.
Die Gründe für die Verschlossenheit liegen in der Unternehmerpsyche: Die Chefs hängen mit dem Herzen am Betrieb. Mehr als 60 Prozent sagen, die Firma sei "mein Lebenswerk". Nur 9 Prozent würde ein Verkauf "nichts ausmachen".
Allerdings: Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Krise in vielen Firmen einen Kulturwandel erzwingt. Je schlechter die Lage im Unternehmen, desto größer die Bereitschaft, sich zu öffnen.
Mythos Überregulierung
Arbeits- und Tarifrecht erdrosseln die Firmen
Zu viele Regeln, zu rabiate Gewerkschaften, zu starre Tarifverträge - so lautet der Refrain der deutschen Reformdebatte, dauernd aufs Neue interpretiert von Politikern, Ökonomen und Verbandsspitzen. Die Unternehmer jedoch sehen die Situation nicht so dramatisch. Sie haben sich mit der herrschenden Ordnung arrangiert. Dies ist das vielleicht überraschendste Ergebnisse der Umfrage: Nur eine Minderheit hat mit den Gewerkschaften, den Reglementierungen des Tarifrechts und der Mitbestimmung Probleme.
Sogar bei Unternehmen, denen es nicht gut geht, meinen nur 4 Prozent, der Betriebsrat verhindere notwendige Entlassungen; nur 10 Prozent klagen über Gewerkschafter, die von außen ins Unternehmen hineinregieren. Nur ein Sechstel dieser bedrängten Firmen hält die Flächentarifverträge für hinderlich, nur ein Viertel den Kündigungsschutz für zu strikt. Selbst in das Klagelied über die Lohnkosten mögen sie nicht einstimmen: Nur ein Drittel ist der Ansicht, sie seien zu hoch.
Es ist wahr: Je schlechter die Lage in der Firma, desto argwöhnischer sehen die Unternehmer die Reglementierungen des Arbeits- und Tarifrechts. Aber die Kritiker sind stets in der Minderheit.
Entsprechend wollen die allermeisten am hergebrachten Regelwerk des Arbeitsmarktes festhalten. Nur 9 Prozent planen, aus dem Flächentarifvertrag auszuscheren (bei schlechter Lage: 11 Prozent).
Die Unternehmer, schlussfolgert der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz, "schrecken vor der Vorstellung zurück, Konflikte um Lohnerhöhungen in der eigenen Firma austragen zu müssen" (siehe Interview Seite 105).
Das glorreiche Drittel
Was machen gute Unternehmen besser?
Immerhin: Es gibt Hoffnung. Eine nennenswerte Minderheit von 31 Prozent der Mittelständler wähnt sich auf der Gewinnerseite. Sie stimmen nicht ein in den deutschen Blues. Was machen sie besser?
Vor allem investieren sie in Köpfe. Zu 61 Prozent setzen die Erfolgreichen darauf, ihre Beschäftigten zu fördern und zu qualifizieren (siehe Grafik Seite 105). Von den bedrängten Firmen stärken nur 30 Prozent ihre menschlichen Ressourcen.
Während viele Unternehmer eine äußerst defensive Personalpolitik verfolgen - die Mehrzahl hat einen Einstellungsstopp verhängt oder plant einen solchen, ein Fünftel will die Löhne kürzen, ein Sechstel weiter Personal abbauen -, geht die Minderheit der Firmen in gutem Zustand in die Offensive.
Auch die Personen an der Firmenspitze sind bei den Gewinnerunternehmen deutlich besser ausgebildet. 41 Prozent haben einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, gegenüber 30 Prozent bei schwachen Firmen. Sie sind häufiger angestellte Manager, während bei den Schwachen meist der Inhaber selbst am Ruder ist.
Der Vorteil beim Humankapital wirkt sich auf die Qualität des Managements aus: Qualifiziertere Chefs setzen eher in die Tat um, was sie als notwendig ansehen. Schwache Unternehmen hingegen leiden unter einem auffälligen Umsetzungsdefizit.
Und: Viele der Erfolgreichen nutzen gerade die Flaute, um zu expandieren. In der Krise wollen sie wachsen, ihren Marktanteil bei angestammten Produkten aus- und neue Geschäftsfelder aufbauen. Firmen in schlechter Lage agieren äußerst defensiv.
Keine Frage, die Zeiten sind hart für den Mittelstand. Die Krise befördert eine Kulturrevolution: Es gibt Firmen, die sich wandeln, die bereit und in der Lage sind, sich in einer veränderten Umwelt zu behaupten - und solche, die durch die Krise verändert werden.
Es komme eben auf die Unternehmer an, sagt der Ernst&Young-Berater Peter Englisch: "Wer sich nicht verändert, ist in wenigen Jahren kaputt." Henrik Müller
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Basisdaten
Umfrage: Die Studie "Perspektive Mittelstand"
Umfrage: 512 Inhaber, geschäftsführende Gesellschafter und angestellte Geschäftsführer mittelständischer Unternehmen hat das Frankfurter Institut Media Markt Analysen (MMA) im Herbst 2003 für die Studie "Perspektive Mittelstand. Die deutsche Wirtschaft im Umbruch" befragt.
Für die repräsentative Erhebung wurden Geschäftsführer von Unternehmen mittlerer Größe (Kriterien: mindestens eine Million Euro Jahresumsatz, maximal 500 Beschäftigte) aus allen Branchen und in sämtlichen Regionen der Bundesrepublik Deutschland interviewt.
Partner: manager magazin hat die Studie in Kooperation mit Watt Deutschland, einem Stromanbieter, der auf mittelständische Unternehmenskunden spezialisiert ist, erstellen lassen.
Die beiden ungleichen Partner verbindet das Interesse an den Veränderungen, die derzeit - von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet - an der Basis der deutschen Wirtschaft ablaufen.
Komplette Studie: Der umfassende Berichtsband zur Studie "Perspektive Mittelstand" kann bestellt werden bei Watt Deutschland, Lyoner Straße 44-48, 60528 Frankfurt/Main, im Internet unter www.watt.de/studie
Online
Studie: Eine Zusammenfassung der Studie "Perspektive Mittelstand" steht auf den Internetseiten von manager magazin.de zum kostenlosen Download bereit unter www.manager-magazin.de/
link/mittelstandsstudie/