Mode zum Anfassen
Der schwarze Rollkoffer steht noch unausgepackt in der Ecke ihres Büros. Margareta van den Bosch ist gerade von einer Reise zurückgekehrt. Florenz, Mailand, Paris in acht Tagen. Sie besuchte Ausstellungen, saß in Cafés und Hotellobbys, traf Freunde, ging in Konzerte und streifte durch Modegeschäfte.
Margareta van den Bosch kommt nicht aus dem Urlaub. Die Chefdesignerin von Hennes & Mauritz war beruflich unterwegs - auf der immerwährenden Suche nach den neuesten Trends. Die Eindrücke und Ideen, die sie auf ihren Touren aufschnappt und einsammelt, sind schon bald in den über 900 Läden der Kleiderkette H&M zu besichtigen.
Die 60-jährige Schwedin entwirft Mode, die das Lebensgefühl von Millionen Teenies trifft - und zwar weltweit. Sie zählt zu den zentralen Köpfen im ausgeklügelten System des Textilriesen aus Stockholm; und das seit nunmehr 16 Jahren.
Bevor van den Bosch bei H&M anheuerte, war der Einzelhändler vor allem bekannt für das schamlose Kopieren anderer Leute Kreationen. Die Dame baute eine Designabteilung auf und gab dem Konzern eine eigene Seele. Fortan stiegen die Schweden mit ihrem Motto "Günstige Mode für alle" zu einem der größten Bekleidungshersteller der Welt auf: 5,9 Milliarden Euro Umsatz machte die Kette im vergangenen Jahr, kein Modekonzern ist an der Börse so wertvoll wie die Marke aus dem hohen Norden.
H&M setzt bei Kleidung einen ähnlichen Standard wie Ikea bei Möbeln und Aldi bei Lebensmitteln: Das Sortiment ist günstig und trendy.
Wie Altmeister Benetton, wie Weltmeister Gap und wie Newcomer Zara, der derzeit ernsthafteste Rivale von H&M (siehe Kasten Seite 80), beherrschen auch die Schweden die gesamte Wertschöpfungskette - vom Design bis zum Shop. Doch niemand hat das vertikale System derart perfektioniert wie H&M. Pro Jahr werden über 500 Millionen Artikel in 900 Fabriken rund um den Globus produziert und kurz darauf in mehr als 900 Shops in 18 Ländern verkauft.
Am Anfang dieser Modemaschinerie stehen van den Bosch und ihr Team von knapp 100 Designern, die sie alle selbst ausgesucht hat: Schweden, Dänen, Deutsche, Südafrikaner, Amerikaner. Ein bunter Multikulti-Mix. Durchschnittsalter: etwa 30 Jahre.
Ihre Aufgabe ist es, in den Metropolen dieser Welt all das aufzuspüren, was H&M nützt und weiterbringt. Das Team versteht sich nicht allein als Lieferant von Ideen, es setzt diese auch selbst um. "Wir sind keine Scouts", sagt van den Bosch, "sondern Designer." Diese Art der Stellenbeschreibung ist ein Novum in der Branche: Der Designer ist Scout und umgekehrt. Das spart Leute und Zeit.
Ann-Sofie Johansson (40) ist so eine Designerin mit Spürnase. Sie reist mehrmals im Jahr nach London, Paris, Los Angeles, New York City und Tokio, wo derzeit die flippigsten Mädels zu besichtigen sind. "Diese Metropolen sind für mich ein Muss", sagt die Schwedin, die seit 1991 im Designteam arbeitet. Trips in aufstrebende Trendstädte wie Antwerpen, Barcelona oder Marrakesch stehen ebenfalls auf ihrem Reiseplan. Sie legt die Routen selbst fest.
Zwei bis fünf Tage treibt sie sich jeweils in einer Stadt herum. Sie schaut sich um auf den Straßen und in den Metros, geht in Cafés, Konzerte und Kinos, stöbert auf Flohmärkten und in Second-Hand-Läden - und shoppt natürlich bei der Konkurrenz. Ihre Eindrücke fasst sie in ein bis drei Seiten starken Reports zusammen. Die Kolleginnen tun dasselbe.
Zurück in Stockholm, tauschen sie ihre Eindrücke aus. In vielen Gesprächen und Meetings verdichten sich die Trends. In größeren Runden, in denen 30 bis 40 H&Mler zusammensitzen, wird schließlich die Generallinie diskutiert und vorgegeben. Die Herbst/Winter-Kollektion 2004/ 2005 wird wohl dominiert vom Revival der 50er und 60er Jahre.
Den neuen Trend hat das Team um Margareta van den Bosch nicht kreiert, aber auch nicht einfach abgekupfert. Den Vorwurf, H&M sei nur ein Billigimitat von Gucci & Co., hört die Designchefin häufig.
Ruhig antwortet sie dann mit leiser Stimme: "Kopieren ist, wenn man etwas exakt nachmacht. Das tun wir nicht." Zumal es ziemlich aufwändig wäre, Designerkleider zu kaufen und zu zerlegen. Die Modemacher ließen sich doch alle von denselben Städten, Messen und Zeitschriften inspirieren. "Wer kann da Anspruch auf das Copyright für einen Trend erheben?"
Am Ende geht es darum, wer diesen Trend am schnellsten umsetzt. Und dieses Copyright besitzt seit Jahren H&M.
Sobald das Grobmuster für eine Kollektion steht, geht es im weiß getünchten Atelier der schmucklosen Firmenzentrale, die umgeben ist von Läden und Fastfood-Restaurants, sofort an die Details. Bei Bedarf kommen Teile binnen weniger Wochen vom Zeichentisch in die Läden, Zwischenhändler gibt es nicht.
Die Kollektionen sind in 22 Sektionen aufgeteilt - nach Zielgruppen: vom Säugling über die Young Ladies bis zur dicken "Mama", wie die Übergröße heißt. In den Sektionsmeetings sitzen drei bis vier Designer mit ebenso vielen Einkäufern an einem Tisch. Die einen sagen, welche Kleider sie entwerfen wollen; die anderen sagen, wo sie produziert werden können.
"So eng und so früh arbeiten in keinem anderen Bekleidungsunternehmen Designer und Einkäufer zusammen", sagt Einkaufschef Karl Gunnar Fagerlin (49), den alle nur KG nennen. Rund 100 Kollegen koordinieren die Herstellung von Stockholm aus, weitere 500 verteilen sich auf 21 Produktionsbüros rund um den Globus: zehn in Asien, zehn in Europa, eines auf Mauritius. Die Büros sind die Verbindungsstelle zwischen der Zentrale und den Fabriken am Produktionsstandort.
Fertigen lässt H&M seine Kollektionen hauptsächlich in der Türkei, in China, Indien und Bangladesch. In dem Entwicklungsland wird Fagerlin "fast jedes Mal vom Außenminister" empfangen.
Generell gilt: In Asien werden die Basics (T-Shirts und uni gefärbte Hemden), in Europa die modischeren Teile produziert. Denn aus Fernost kommt die Ware mit dem langsamen Schiff, in Europa wird sie mit dem schnelleren Lkw transportiert.
Täglich stehen die Einkäufer in Stockholm vor der Entscheidung, wo sie welche Teile herstellen lassen. Für Hemden fragt der Einkäufer in Stockholm bei den Produktionsbüros in Bangladesch, China und der Türkei an: Wer kann 50 000 Hemden zum Preis von 1,50 Euro liefern? China kann, benötigt aber drei Monate Lieferzeit. Die Türkei schafft es in sechs Wochen.
Für Chefeinkäufer Fagerlin spielen bei der Auftragsvergabe aber nicht nur Preis, Qualität und Lieferzeit eine Rolle. Er hat auch Importquoten und Zölle im Blick. Erst jüngst geriet H&M in ein handelspolitisches Scharmützel zwischen den USA und China. Das hat ausgerechnet zum Weihnachtsgeschäft die Exporte von BH nach Amerika, die H&M so blickfängerisch bewirbt, enorm erschwert.
Nur durch eine aufwändige IT-Infrastruktur, deren Software hauseigene Ingenieure mangels Anbieter selbst entwickelt haben, ist der komplexe Produktionsprozess überhaupt beherrschbar. Er wird permanent optimiert. Der Rekord bei der so genannten Lead Time - die Zeit zwischen Designidee und Ankunft der Ware im Laden - beträgt 14 Tage.
"Als wir im Oktober feststellten, dass der Verkauf dieses Hemdes viel besser lief als erwartet", Fagerlin zupft an seinem hellblauen Baumwollhemd (29,90 Euro), sei eine E-Mail nach Istanbul gegangen. Ende November waren die Regale wieder voll.
Jeden Abend können die Store Manager und die Verantwortlichen im Headquarter per Mausklick abrufen, welche Ware läuft und welche nicht. Entsprechend reagieren sie: ordern nach, senken nochmals die Preise oder nehmen die Textilien sofort aus dem Sortiment.
So komplex das System ist, so simpel sind am Ende des Tages die Entscheidungen. "Einfachheit und Direktheit sind die Merkmale unserer Unternehmenskultur", sagt Aufsichtsrat Werner Hofer (68). Typisch schwedisch eben. Ja nicht abheben, und wenn, dann nur Economy fliegen.
Das hohe Beschlusstempo kann nur gehalten werden, weil die H&M-Strategen sich gut kennen und einander vertrauen. Die Mitglieder des Trios, das bei dem Handelsriesen das Sagen hat - CEO Rolf Eriksen (59), Finanzchef Leif Persson (51) sowie Aufsichtsratschef und Gründersohn Stefan Persson (56) -, sind teilweise 17 Jahre oder noch länger dabei. Im ganzen Konzern herrscht eine selten gewordene Mitarbeitertreue. Ein Grund dafür: H&M rekrutiert seine Führungskräfte fast ausschließlich aus den eigenen Reihen.
Diese Praxis verleiht dem Konzern etwas Gluckenhaftes, etwas Wal-Mart-artiges. Die Belegschaft hält zusammen, und sie hält dicht. Auch wenn es bei dem Modemulti mal nicht so rund läuft wie erwartet.
Wie zum Beispiel im Frühjahr 2000. Die Kollektion missriet, der Hippie-Look war selbst den Girlie-Kundinnen zu modisch, die Tops und Schlaghosen lagen wie Blei in den Regalen. Zum Flop geriet auch die Eroberung des US-Marktes. Siegesgewiss hatten die Schweden großflächige Verkaufsräume gemietet - in der Erwartung, die Amerikaner würden sich um die Textilien ebenso reißen wie die deutsche Klientel. Es kam anders. H&M musste eine Gewinnwarnung herausgeben.
Die Krise ist mittlerweile überstanden, das Expansionstempo in den USA wurde etwas gedrosselt. Dafür rückte Europa wieder mehr in den Fokus. Deutschland-Chef Hans Andersson (50), der dieser mit 239 Filialen wichtigsten H&M-Tochter vorsteht, will "jetzt verstärkt in Mittelstädte über 50 000 Einwohner".
Die weißen Flecken in Europa will H&M nach und nach im Zuge einer Patenstrategie besetzen: Ein etabliertes Land betreut einen benachbarten neuen Markt.
So kümmert sich die Deutschland-Zentrale in Hamburg seit kurzem intensiv um den polnischen Markt, stellt für den östlichen Nachbarn Know-how und Managementkapazitäten bereit. Österreich fördert Tschechien, Spanien unterstützt Portugal, und die kleine Schweiz gibt den Italienern Nachhilfe in Sachen Billig-Styling. In der Modemetropole Mailand hat H&M gerade seinen ersten Laden eröffnet.
Margareta van den Bosch war bei den Feierlichkeiten natürlich auch dabei - damals Mitte September auf dem schicken Corso Vittorio Emanuele. Für die uneitle Schwedin, die von den edlen italienischen Schneidern meist mit Missachtung gestraft wird, ein stiller Triumph.
In dem neuen Mailänder H&M-Laden hatte zuvor das italienische Designerlabel Fiorucci sein Glück versucht. Recht erfolglos. So schnell kann der Wandel im Modegeschäft gehen: Fiorucci geht, H&M kommt.
Wolfgang Hirn
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Edler, schneller, teurer
Zara: Der spanische Herausforderer attackiert die Modekette aus Schweden - mit einem völlig anderen Konzept
Galizien gilt als das Armenhaus Europas. Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne. Weil in dieser Region viele Leute günstig für ihn arbeiten, wohnt dort der reichste Mann Spaniens: Amancio Ortega (67). Geschätztes Vermögen: rund zehn Milliarden Euro.
Dem öffentlichkeitsscheuen Ortega, seinen drei Kindern und anderen Familienmitgliedern gehört mehrheitlich die Firma Inditex in La Coruña. Die Unternehmersippe, die rund vier Milliarden Euro umsetzt, hat sich nahezu unbemerkt zu einem der größten Bekleidungshändler der Welt (rund 1700 Shops) emporgearbeitet. Die wichtigste Marke des Konzerns ist Zara - die spanische Antwort auf Hennes & Mauritz.
"Zara und H&M haben derzeit weltweit die erfolgreichsten Konzepte im Textilhandel", urteilt Michael Kliger, Handelsexperte bei McKinsey. Beide sind vertikal integriert, das heißt: Sie kontrollieren alles - vom Design bis zum Laden.
Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Die Schweden und die Spanier verfolgen ansonsten höchst unterschiedliche Strategien.
Positionierung: Zara hat ein modischeres Image. Die Kernzielgruppe (Alter: zwischen 15 und 28 Jahre) ist enger und jünger. Das Young-Fashion-Segment dominiert. H&M hat ein breiteres Sortiment und ist vor allem bei Kinderkleidung stark. Preislich liegt Zara über H&M. Unterschiedlich auch die Preisstrategie: H&M verlangt auf allen Märkten dasselbe, Zara dagegen differenziert.
Präsentation: Die rund 600 Zara-Filialen sind edler ausgestattet als die eher ramschigen H&M-Läden. Die Schaufenster haben fast Haute-Couture-Niveau. "Sie sind unser bestes Aushängeschild", sagt CEO José María Castellano (56).
Werbung: Wer solche Shops betreibt, kann sich Werbung sparen, lautet die Marketingphilosophie der Spanier. Sie verzichten fast völlig auf einen Werbeetat. Hennes & Mauritz hingegen gibt rund 4 Prozent des Umsatzes für Reklame aus, vor allem für Print- und Plakatwerbung. Hohe Aufmerksamkeit erzielen die vorweihnachtlichen Motive mit teuren Models in billigen Dessous.
Produktion: H&M besitzt keine eigenen Fabriken, Zara schon. Der Eigenfertigungsanteil der Spanier liegt bei über 50 Prozent. Den Rest liefern rund 350 kleine Schneiderbetriebe in Nordportugal und Galizien zu. Durch die Herstellung vor Ort kann Zara schneller als H&M reagieren.