Alles umsonst?
Die Rückkehr an die Stätte seines Triumphes wurde Ende November um wenige Tage verzögert. Umfangreiche kieferorthopädische Maßnahmen, namentlich die Behandlung einer Zahnwurzel sowie jene 13 Kronen, die mittlerweile 13 Zähne, nun denn: krönen, führten zu einem mehrtägigen Flugverbot. Rolf Schmidt-Holtz musste bleiben, wo auch der Zahnarzt seines Vertrauens praktiziert, in Hamburg.
Vielleicht bekam ihm diese Pause gar nicht mal schlecht. Das nun drei Jahre währende Hin- und Hergefliege zwischen Hamburg, wo die Familie wohnt und sein zweiter Schreibtisch steht, und New York, seinem offiziellen Amtssitz - dieses Rauschen durch Zeitzonen zehrt doch beträchtlich.
Und es ist ja auch ganz nett, die Feierlichkeiten um die eigene Person aus einiger Nähe mitzuerleben: Bei Bertelsmann sind sie ganz hingerissen von "RSH", wie sie ihn intern abkürzen. Auch die Presse, ja sogar der Kanzler, ist zu hören, betrachtet Schmidt-Holtz' jüngst offenbarte Schaffenswut mit Wohlgefallen.
Was geschehen ist? Nun, Rolf Schmidt-Holtz hat Anfang 2001 im 44. Stock des Bertelsmann Buildings am Times Square Stellung bezogen und von seinem Führungsstand aus die Bertelsmann Music Group (BMG, Nettoumsatz 2002: zwei Milliarden Euro, Ebita 125 Millionen Euro) wie ein Gefahrensucher überblickt und dann in Ordnung gebracht.
Anfang November beendete der Aufräumer dann abrupt die Firmengeschichte und kündigte den Zusammenschluss von BMG, dem kleinsten unter den fünf großen Musikkonzernen, und Sony Music an. Jetzt: Trara!
Mit einem Nettoumsatz von vier Milliarden Euro kontrolliert Sony BMG ein Viertel der Weltmusikgeschäfte, rangiert knapp hinter Marktführer Universal. Schmidt-Holtz gibt den Chairman, Sony-Kollege Andrew Lack den Vorstandsvorsitzenden.
Die RSH-Show war eine der kühnsten und temporeichsten Managementleistungen, die ein Bertelsmann-Anführer seit längerer Zeit vollbracht hat. Und mit Sicherheit war sie das Meisterstück von Maestro Schmidt-Holtz.
Erwähnt werden muss allerdings auch: Der Ausgang seiner Bemühungen bleibt völlig ungewiss. In der Musikwelt zieht der Menschheit ganzer Jammer seine Kreise.
Auf vier verkaufte CDs kommen inzwischen sechs illegale Internetkopien. Die Einzelhandelsumsätze brachen zwischen 1999 und 2002 weltweit um knapp 20 Prozent auf 31 Milliarden Euro ein. Und das Elend setzt sich fort, in Deutschland dieses Jahr um weitere 20 bis 25 Prozent.
Die Philharmoniker bekommen den Online-Vertrieb so wenig unter Kontrolle wie Kinder ihre Nase. Das Geschäft machen andere: Apple I-Tunes will bis April 100 Millionen Songs à 99 Cent übers Internet verkaufen. Buy Music, Napster und der Handelsriese Wal-Mart drängen in den Digitalverkauf. BMG selbst setzt 2003 internen Berechnungen zufolge gerade mal fünf Millionen Euro im Netz um.
Die Branche steht unter Konsolidierungszwang. Allerdings zeigen die Kartellbehörden wenig Verständnis für Merger. Viel zu häufig sind deshalb die tollsten Pläne der Musikstrate- gen in letzter Minute geplatzt.
Auch Schmidt-Holtz gibt sich keinen Vorfreudeexzessen hin. "Als jemand, der langjährige Joint-Venture-Erfahrung hat, weiß ich, dass statistisch gesehen 70 Prozent aller Fusionen scheitern. Bei Sony BMG bin ich aber absolut optimistisch."
Der Manager, 55 Jahre alt, sieht so hochgradig typisch aus, dass ein Kind ihn zeichnen könnte. Der Regisseur Géza von Cziffra - die verehrten Rentner unter unseren treuen Lesern erinnern sich - würde ihn als reichen Onkel aus der Großstadt besetzt haben.
Schmidt-Holtz, studierter Jurist, ist in Wahrheit Journalist (WDR, "Stern"), der Einzige übrigens in der Beletage des Medienhauses. Dass er sowohl an der Spitze der CLT-Ufa (heute: RTL-Gruppe) reüssierte, seiner vorherigen Station, als auch bei BMG, liegt nach Auskunft von Sachverständigen am seligen Cziffra-Effekt, der RSH weit onkeliger erscheinen lässt, als er ist, und daran, dass er es mit den Kreativen im Bild- und Tongewerbe stets ehrlich meine, auch wenn er's nicht immer sei.
Die Guten vertrauen ihm, die Bösen tun nur so. Der RSH-Riecher erkennt den Unterschied. So viel dazu.
Schmidt-Holtz glaubt jedenfalls, dass es aufwärts geht. BMG weist für 2003 einen operativen Gewinn von rund 140 Millionen Euro aus - wenngleich der Musikmulti nach Sonderaufwand wohl mit Verlust abschließt.
Internen Prognosen zufolge hält der weltweite Umsatzkollaps noch zwei, allenfalls vier Jahre an. In der Folge rechnet man mit einem Marktwachstum von 2 bis 3 Prozent im Jahr.
Sony BMG könnte daran teilhaben - vorausgesetzt, man entwickelt ein tragfähiges Vertriebskonzept für das Internet. Den weltweiten Online-Umsatz sieht BMG im Jahr 2004 bei 240 Millionen und im Jahr 2007 bei 2,4 Milliarden Euro. "Wenn sich der Musikmarkt nicht erholte, müsste man BMG verkaufen", sagt Schmidt-Holtz. "Doch wenn die Nachfrage nach Musik steigt, sollten wir Teil dieser Industrie bleiben." Die Fusion erlaube es, wie es in einer Vorstandsvorlage heißt, die "Entscheidung über Verbleib im Geschäft oder Ausstieg später" zu treffen. Man kauft Zeit.
Was umso erstaunlicher ist, als der Deal unter widrigen Umständen vonstatten ging: Mehr noch als mit der Werbekrise ringt Bertelsmann zurzeit mit sich selbst. Das Hauptquartier in Gütersloh ist zum Tabernakel eines Mysteriums geworden. Europas größter Medienkonzern (Umsatz 2002: 18,3 Milliarden Euro), stets ein Abgrund an Partnerschaftlichkeit, scheint die Horkheimer-These zu belegen, wonach eine endende Kultur sozusagen ständig um sich zickt.
Proportional zur schwindenden Kraft des Patriarchen Reinhard Mohn (82), einer Eiche an Gesinnung, wächst der Einfluss seiner Ehefrau Liz (62), einer Dame von ausgesuchtem Machtwillen. Wer etwas anderes will als sie, Liz, muss die Stadt verlassen oder wird mit plötzlichem Testamentsvollstreckungsentzug bestraft.
In der Retrospektive zweier Jahre wandelte sich Bertelsmann von überbordender Angriffslust zu geduckter Abwehrbereitschaft.
Die verdienten Vorstandschefs Mark Wössner und Thomas Middelhoff etwa wurden auf beschämende Weise hinausbefördert; jüngst entzog der Clan dem Konzernvize und Kämmerer Siegfried Luther (59), einer akkuraten Person, in einem Akt der Demütigung die Testamentsvollstreckung Reinhard Mohns. Der Grund sei eine wachsende Entfremdung zwischen Luther und Vorstandschef Gunter Thielen (61) gewesen.
Mitte November dann verließ der Aufsichtsratsvorsitzende Gerd Schulte-Hillen (63), ein Pragmatiker vom alten Schlag der Extraklasse, nach einer konzertierten Aktion von Thielen und Liz Mohn das Unternehmen: Schulte-Hillen hatte sich vehement gegen jenes Geschäft ausgesprochen, das zum Ruhme des BMG-Dirigenten Schmidt-Holtz wesentlich beiträgt.
Dies sollte man wissen, um würdigen zu können, dass der Merger von BMG und Sony dem Versuch ähnelt, bei einer Achterbahnfahrt ein Hemd zu bügeln. Unter Zahnschmerzen.
Fragen indes bleiben: Warum halten wir im Musikgeschäft aus, rätseln Manager, während Time Warner davor Reißaus nimmt?
Von Bertelsmanns Verwirrtheit künden Aufsichtsratsprotokolle: "5.11.2002: Diskussion über die Perspektiven des Musikmarkts mit folgenden Kernaussagen: sinkendes Marktvolumen durch Offline- und Online-Piraterie; keine klare Aussage möglich, ob Markterholung nach zwei oder fünf Jahren einsetzt. Fusion mit EMI oder Warner ist die empfehlenswerte strategische Option."
Am 18. März heißt es: "Strategieklausur mit ausführlicher Diskussion der Marktperspektiven. Vom VS (Vorstand, die Red.) empfohlene Option: JV (Joint Venture, die Red.) mit Warner. Samyn und Breuer plädieren für Ausstieg."
Neben den Aufsichtsräten Gilles Samyn, Direktor des Gesellschafters Groupe Bruxelles Lambert (GBL), und Ex-Deutsche-Bank-Chef Rolf-E. Breuer hatte auch Oberkontrolleur Gerd Schulte-Hillen für einen Verkauf der unsicheren Musiksparte plädiert. Preisvorstellung: 2 bis 2,5 Milliarden Euro.
Auf dem Markt war viel los. Edgar Bronfman, US-Milliardär, und EMI, britische Plattenfirma, suchten, Sony wollte BMG kaufen - aber nicht das Kartellrisiko tragen. Seit dem Frühjahr verhandelte Chefkämmerer Siegfried Luther parallel mit Warner Music.
Am 23. Juli tagen die Räte erneut: "VS präsentiert angestrebtes JV mit Warner. Der Strategie- und Investitionsausschuss diskutiert wie folgt: Herr Schulte-Hillen merkte an, dass seiner Meinung nach in Anbetracht des weltweiten Marktrückgangs ein Merger zwingend notwendig sei."
Nachdem die Verhandlungen mit Warner Music geplatzt waren und als Ende September im New Yorker Hotel "Peninsula" die Herbstgespräche mit Sony begannen, zweifelte Schulte-Hillen an einer Markterholung. Es sei denn, schrieb er an Thielen und die Aufsichtsratskollegen, man mache ihm eine "Erholung des Musikmarktes" ebenso plausibel wie "zukünftige Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten".
"Bei einem Merger", depeschierte Schulte-Hillen, drohe "Bertelsmann/ Sony in eine Zeitfalle" zu geraten und Synergien zu erzielen, "wenn das traditionelle Geschäftsmodell bereits kippt". Doch da war der Letter of Intent (vom 6.11.) schon verkündet.
Aus verständlichen Gründen mochte Thielen nicht als Hanswurst in prekäre Erscheinung treten: Er warf Schulte-Hillen vor, sein Verhalten habe "mit guter Corporate Governance" nichts zu tun und beschädige "die Reputation des Vorstands". Auf Druck der Familie Mohn quittierte der Aufsichtsratschef den Dienst.
Tatsächlich sprechen außer der unsicheren Marktentwicklung gewichtige Gründe gegen den Merger, so optimal er auch sein mag: Das Japan-Geschäft, das 28 Prozent des Sony-Umsatzes umfasst, gehört nicht zum Gemeinschaftswerk. Überdies darf Sony die neue Firma mit einem 90-Millionen-Euro-Kredit belasten.
Auch das Kartellrisiko ist gewachsen: Wie will man den Fusionswächtern erklären, dass ein Merger zwingend sei, nachdem die Übernahme von Warner Music durch Bronfman bewiesen hat, dass es auch anders geht?
Ganz zu schwei- gen davon, dass eine 50-Prozent-Partnerschaft eine wackelige Konstruktion ist.
"Wir hätten nie einen Fifty-fifty-Deal angestrebt", sagt David Munns, US-Chef von EMI.
In drei Kerngeschäften haben die Gütersloher künftig nicht mehr das alleinige Sagen: Außer bei Sony BMG auch bei Gruner + Jahr, wo die Familie Jahr eine Sperrminorität hält, und bei der RTL-Gruppe, die zu 10 Prozent in Streubesitz ist. Mehr noch: Bertelsmann gibt erstmals die Mehrheit in einem Stammgeschäft preis. "Die Mehrheit an einem sterbenden Geschäft zu haben", sagt Schmidt-Holtz, "kann nicht unser Ziel sein."
Die Gesellschafter-Gemengelage ist dem Kapitalmarkt suspekt. Die GBL will ihren 25,1-Prozent-Anteil 2007 an die Börse bringen. Doch Aktien eines Unternehmens, das sich zu drei Vierteln in Familienbesitz befindet und wesentliche Beteiligungen nicht zu 100 Prozent kontrolliert, sind Kassengift.
Aber hatte Schmidt-Holtz eine Alternative? Die "Stand alone"-Option, heißt es in einem vertraulichen Vorstandspapier, gefährde die "Überlebensfähigkeit des Geschäfts".
Der BMG-Impresario hat die Kosten bereits um 185 Millionen Euro, die Zahl der Stellen um 20 Prozent gesenkt; er hat Musiklabel zusammengelegt oder verkauft und gleichzeitig das Kunststück fertig gebracht, den Weltmarktanteil von 8,5 auf 11,1 Prozent zu erhöhen. Mehr ging nicht.
"Bei weiterhin sinkendem Markt hätten wir irgendwann die kritische Kraft verloren", sagt Schmidt-Holtz. "Wir hätten uns nicht gesund geschrumpft, sondern einfach die Schwindsucht bekommen." Der Kauf eines Konkurrenten kam nicht infrage: Das Haus will höhere Schulden vermeiden, um wenigstens das mittelmäßige Rating BBB+ zu halten.
Über die Verhandlungen selbst mit Sony-Music-Chef Andrew Lack sagt Schmidt-Holtz: "Andrew und ich haben sehr schnell ein Grundvertrauen zueinander gefunden." Nach vier Wochen stand der Vorvertrag.
Eile schien geboten: Schmidt-Holtz und Lack wollten einem Bündnis von Warner Music und EMI zuvorkommen, da sie davon ausgingen, dass nur ein einziger Zusammenschluss von den Kartellbehörden genehmigt werden würde - der erste. "Thielen", sagt Schmidt-Holtz, "hat mir den Rücken freigehalten, und - das Wichtigste - er hat schnell entschieden."
Die Integrationskosten von Sony BMG bis Ende 2005 werden mit 392, die Einsparungen mit jährlich 280 bis 310 Millionen Euro beziffert. Das Ebita soll laut internem Finanzplan 2006 bereits 269, in den Folgejahren 283 und 294 Millionen Euro betragen. Damit der Plan aufgeht, müssen indes 2000 Jobs gestrichen werden.
Die Führungsfrage ist trickreich geregelt: Sony darf innerhalb der ersten fünf Jahre den CEO vorschlagen, Bertelsmann den Chairman. Die Deutschen haben wiederum das Recht, den ersten CEO, also Lack, nach zwei Jahren zu entlassen. In den folgenden drei Jahren beträgt die Rauswurffrist nur sechs Monate.
"Niemand kann eine Garantie geben, dass es klappt", räumt Schmidt-Holtz ein. "Der häufigste Grund für ein Scheitern sind Synergien, die es nicht gibt, und falsche Businessmodelle." Falls das junge Paar dies feststellt, kann es sich nach drei Jahren trennen - über einen Börsengang oder gegenseitiges Herauskaufen.
Der Musikkonzern EMI träumt unterdes weiterhin von BMG: Den Londonern schwebt ein Modell vor, wonach BMG 300 Millionen Euro sowie eine zarte Minderheit an der neuen Firma bekäme. Und Sony hat derweil Banken gebeten, vorsichtshalber einen Käufer für die Musiksparte bereitzuhalten. Die Beteiligungsfirma Blackstone, heißt es, sei interessiert.
Was Gewissheit als solche angeht, so genügt Schmidt-Holtz an diesem grauen Wintertag ein Blick über die Dächer Hamburgs, um ihn daran zu erinnern, dass nur Gerede und Gedanken auf gerader Bahn sich fortbewegen - und dass die Welt am Ende doch nur aus Einzelteilen besteht, die man sich als Ganzes denkt.
Übermorgen ist RSH abflugbereit. In New York wird er weitere Zusammenhänge herstellen: "Ich tue immer, was ich kann. Aber: ultra posse nemo obligatur. Ich kette mich nie an irgendwas." Was sowieso das Beste ist, was man tun kann. Klaus Boldt
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Bronfman wettet mit Thielen
Warner Music: Mit wem macht der Neue gemeinsame Sache?
Bertelsmann-Hauptstratege Gunter Thielen vertritt die These: "Allein kann in der Musikbranche heute niemand mehr überleben." Edgar Bronfman jr. (48), Seagram-Milliardenerbe und einst Chef des Entertainmentmultis MCA-Universal, versucht derzeit, das Gegenteil zu beweisen: Im Verein mit Beteiligungsfirmen hat er Warner Music und den Musikverlag Warner Chappell von Time Warner übernommen. Kaufpreis: 2,6 Milliarden Dollar in bar.
Warner Music (Umsatz: 4,2 Milliarden Dollar) ist kein Kraftpaket: Zuletzt rutschte die Firma bei sinkendem Umsatz in die Verlustzone. Rund 150 Millionen Dollar muss Bronfman einsparen.
Vorteil des Deals: Die Kartellbehörden winken die Übernahme einfach durch. Außerdem ist Warner Music nicht mehr börsennotiert, der Aktienkurs also nicht mehr abhängig davon, ob Madonna oder R.E.M. gerade kreativ sein können. Nachteil: Ohne Partner fehlen viele Einspar-, aber auch Wachstumsmöglichkeiten.
Musikkenner rechnen damit, dass sich Bronfman in Kürze mit einem Konkurrenten zusammenschließt. Ein Kandidat ist EMI: Die Londoner hatten den Kampf um Warner Music gegen Bronfman verloren.