Große Blockade
Monatelang haben Europas Regierungen gerungen - um Stimmen im Ministerrat, um Posten für EU-Kommissare, sogar darum, ob Gott in einem europäischen Grundgesetz etwas zu suchen hat. Und doch ist völlig offen, ob Europa je eine Verfassung bekommen wird. Dass das Vorhaben auf dem EU-Gipfel von Brüssel vorerst gescheitert ist, birgt große Chancen.
So nötig eine neue konstitutionelle Basis der EU ist, so wenig brauchen die Europäer das vorliegende Werk. Es wäre gut, wenn diese Verfassung nie in Kraft träte. Sie leistet nicht, was Europa dringend braucht, nämlich eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Gemeinschaftsebene und den Mitgliedsstaaten. Stattdessen droht die Europäische Union zu einer Art Super-BRD zu degenerieren.
Wie die Bundesrepublik, so ist die EU ein föderales Gebilde, innerhalb dessen die Kompetenzen der staatlichen Ebenen verschwimmen. Die deutschen Länder können kaum etwas selbst entscheiden, sie dürfen aber bei den meisten Gesetzen im Bundesrat mitbestimmen. Entsprechend in der EU: Die Macht liegt beim Ministerrat, jenem Gremium, in dem Vertreter der Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammensitzen. Im Bundestag wie im Ministerrat sind Gestaltungsmehrheiten schwer zu erreichen, Verhinderungsminoritäten jedoch leicht.
Die Folgen: Entscheidungen fallen spät nach einer quälenden Kompromisssuche, im Zweifel gar nicht.
Dieses deutsche Leiden hat auch die EU befallen. Im Ministerrat liegt die qualifizierte Mehrheit derzeit bei 71 Prozent der nach Einwohnerzahl gewichteten Stimmen; innerhalb der Euro-Gruppe bedarf es einer Zweidrittelmehrheit (siehe Tabelle). Wie schwierig ein solches Quorum zu erreichen ist, hat sich kürzlich beim Stabilitätspakt gezeigt: Die EU-Institution Ministerrat ist nicht in der Lage, Sanktionen gegen die Mitgliedsstaaten Deutschland und Frankreich zu verhängen, obwohl diese klar gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Warum? Weil die betroffenen Finanzminister in der Lage sind, jene Koalitionen zu schmieden, die mit einer Sperrminorität die entsprechende Entscheidung verhindern können. Die EU versagt bei der Durchsetzung der Regeln für ihr ambitioniertestes Projekt, die gemeinsame Währung. Ein Menetekel für andere Politikfelder. Auch das Konzept des Verfassungsentwurfs, die "doppelte Mehrheit", ändert substanziell nichts an der Entscheidungsblockade.
Wenn die EU-Staaten immer weitere Bereiche vergemeinschaften wollen, wie jetzt die Außenpolitik, dann sollten reine EU-Organe das alleinige Sagen bekommen. Wie in der Geld- und der Wettbewerbspolitik, wo die Zentralbank beziehungsweise die EU-Kommission autonom bestimmen und Europa durchaus erfolgreich arbeitet. Die Rolle des Ministerrats hingegen muss zurückgedrängt werden.
Logisch, wenn sie nicht mehr mitentscheiden dürfen, dann werden die Regierungen weniger bereit sein, Kompetenzen an die Gemeinschaft abzutreten. Gut so. Die EU-Ebene sollte sich auf die absolut notwendigen Gemeinschaftsaufgaben beschränken: gemeinsamer Markt, gemeinsames Geld, gemeinsame Armee, gemeinsame Strafverfolgung - eben die Kernkompetenzen des Staates. In allen übrigen Bereichen sollte die Union einen produktiven Wettbewerb der Mitgliedsstaaten zulassen, sollten die Entscheidungen so nah wie möglich am Bürger gefällt werden. Mehr Zentralismus und gleichzeitig mehr Wettbewerb - nur nach dieser Formel wird eine höchst heterogene Union mit 25 Staaten und 450 Millionen Menschen dauerhaft funktionieren.
Ohne diese Verfassung, hat Außenminister Joschka Fischer vor dem Brüsseler Gipfel gewarnt, "bekommen wir ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, unterschiedlicher Kerne". Das klingt wie eine Verheißung - gemessen an der realen Gefahr, dass die ganze EU künftig so langsam vorankriechen muss wie Deutschland. u
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Hohe Hürden
Stimmengewichtung im EU-Ministerrat und erforderliche Mehrheiten
Deutschland 10
Frankreich 10
Italien 10
Spanien 8
Niederlande 5
Belgien 5
Portugal 5
Griechenland 5
Österreich 4
Irland 3
Finnland 3
Luxemburg 2
Zweidrittelmehrheit*
der Euro-Staaten 47
Großbritannien 10
Schweden 4
Dänemark 3
"Qualifizierte Mehrheit"*
aller 15 EU-Staaten 62
*Bei Fragen, die die Währungsunion betreffen, entscheiden nur die Euro-Teilnehmer. Ansonsten gilt zumeist die qualifizierte Mehrheit aller EU-Länder.