
Langfristige Entwicklung Warum der Fortschritt kaum aufzuhalten ist


Fortschritt ist kein Selbstläufer: Es braucht Rahmenbedingungen, wie verlässliche Institutionen, gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine stabile internationale Ordnung - auch deshalb rief US-Präsident Joe Biden beim virtuellen "Gipfel für Demokratie" Anfang Dezember demokratische Regierungen weltweit zu mehr Zusammenarbeit auf
Foto: Susan Walsh / dpaEin dunkles Jahr neigt sich dem Ende zu, man kann es nicht anders sagen. Die Corona-Pandemie hat uns nach wie vor fest im Griff, trotz Impfungen und wiederkehrender Kontaktbeschränkungen. Der Klimawandel ist längst spürbar, und selbst in den besten Szenarien ist der Bremsweg zum Stillstand der Erderwärmung jahrzehntelang. An der Ostgrenze von EU und Nato braut sich ein Konflikt zusammen, den Russlands Präsident Wladimir Putin gerade nochmal angeheizt hat, während die westliche Weltmacht USA nach dem ersten Präsidentschaftsjahr Joe Bidens immer noch erschreckend zerrissen dasteht. Immerhin, Deutschland hat eine neue Regierung, die viel von "Fortschritt" redet. Aber es muss sich noch erweisen, ob sie all den Herausforderungen gewachsen ist.
Um die Widernisse der Gegenwart zu relativieren, hilft manchmal ein langer Blick zurück. Geschichtsbücher sind dabei nicht unbedingt die besten Ratgeber, denn auch sie betonen Kriege und Katastrophen, ähnlich wie die aktuellen Nachrichten. Statistiken jedoch zeichnen ein anderes Bild: Die blanken Zahlen zeigen, dass der Fortschritt sich als langer, ziemlich kontinuierlicher Fluss vollzieht. Es geht sachte voran, so allmählich, dass es den Zeitgenossen nicht unmittelbar auffällt. Doch der stetige Strom an Neuerungen, Verbesserungen und graduellen Verhaltensänderungen hat über die Zeit erstaunliche Folgen.
In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist das deutsche Wohlstandsniveau, gemessen an der inflationsbereinigten Wirtschaftsleistung pro Einwohner, um rund das Zweieinhalbfache gestiegen. Das klingt spektakulär, ist aber keineswegs außergewöhnlich; andere Länder können ähnliche, teils bessere Entwicklungen verzeichnen.
Wie Berechnungen der Weltbank darlegen , gibt es in der gesamten Datenreihe für die Bundesrepublik seit 1970 nur zwei Ereignisse, die die Pro-Kopf-Einkommen sinken ließen: die Große Rezession von 2008/09 infolge der Finanzkrise, eine Scharte, die bereits zwei Jahre später ausgewetzt war, sowie die Corona-Krise von 2020, deren längerfristige Folgen wir noch nicht kennen. (Der kurzfristige Rückgang Anfang der 1990er Jahre ist eine Folge der Wiedervereinigung, als die Einwohnerzahl mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen um 16 Millionen anstieg.) Ansonsten ging es aufwärts, mal etwas schneller, mal etwas langsamer.
Der Zeitgeist und die Düsternis
Viele kleine Fortschritte bilden in ihrer Summe den Entwicklungspfad einer Gesellschaft. Die Resultate dieses unscheinbaren Prozesses zeigen sich nicht nur in volkswirtschaftlichen Daten, sondern auch im Wohlergehen der Bevölkerung. Zwischen 2000 und 2020 stieg die Lebenserwartung Neugeborener in Deutschland um drei Jahre. Auch das aktuell empfundene Wohlbefinden ist auf hohem Niveau: Bei einer Eurobarometer-Umfrage von diesem Herbst sagten mehr als 90 Prozent der Bundesbürger, dass sie die Lebensqualität in Deutschland für gut oder sehr gut halten – und das nach mehreren Corona-Wellen inklusive Lockdowns.
Schon bemerkenswert: Während die Bürger im längerfristigen Schnitt wohlhabender, gesünder und zufriedener werden, ist der Zeitgeist von Düsternis umwölkt. In den kommenden Jahrzehnten dürfte sich der Wohlstandszuwachs pro Kopf sogar leicht beschleunigen, hat die OECD vor einiger Zeit prognostiziert. Aber das ist, natürlich, keineswegs sicher, sondern hängt von unzähligen politischen Entwicklungen und individuellen Entscheidungen ab.
Der tägliche Weltuntergang und sein Nutzen
Die Segnungen der Summe der kleinen Fortschritte anzuerkennen, bedeutet übrigens nicht, Probleme zu ignorieren. Im Gegenteil: Negative Entwicklungen offen zu thematisieren, ist gerade eine Voraussetzung für langfristige Wohlstandszuwächse. Nur so lassen sich Fehlentwicklungen korrigieren. Das betrifft Fragen der Konzentration von Reichtum und Macht genauso wie des Umweltverbrauchs. Insofern ist unsere tägliche Auseinandersetzung mit den Problemen dieser Welt eine Voraussetzung für die messbaren Wohlstandszuwächse. Diese Dialektik des Fortschritts mag verwirrend sein, aber sie ist hochproduktiv.
Wo hingegen der freie Austausch von Erkenntnissen, Informationen und Meinungen behindert wird, leidet auch das Wohlergehen. Das Wohlstandsniveau des autoritär regierten Russlands zum Beispiel stagniert seit einem Jahrzehnt, wie Weltbank-Berechnungen zeigen. Für die scheinbare Stabilität des Putin'schen Petro-Autoritarismus zahlen die Bürger einen hohen Preis.
Klimawandel als Fortschrittsbeschleuniger?
Vor diesem Hintergrund ist übrigens das populäre Argument, wir müssten uns von irgendeiner "Wachstumsideologie" verabschieden, um den Klimawandel zu bremsen, schwer nachzuvollziehen. Ressourcenverbrauch und Wohlstandszuwachs haben sich längst entkoppelt, jedenfalls in den hoch entwickelten Volkswirtschaften. In Deutschland existierte bis Ende der 1950er Jahre ein enger Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und dem Ausstoß von Treibhausgasen. In den Jahrzehnten danach stagnierten die Emissionen zunächst, seit 1990 sinken sie allmählich, während die Wirtschaftsleistung pro Kopf – siehe oben – immer weiter gestiegen ist. (Zahlen dazu finden sich etwa beim Global Change Data Lab .)
Natürlich genügt das alles längst nicht. Wir stoßen noch immer viel zu viel klimaschädliche Emissionen aus und gehen verschwenderisch mit Rohstoffen um. Um bis in die 2040er Jahre vollständig klimaneutral zu werden, sind große Anstrengungen nötig. Alles richtig. Aber der Umstieg auf eine klimaneutrale Wirtschaftsweise erfordert keineswegs den Abschied vom ökonomischen Fortschritt, sondern im Gegenteil seine Beschleunigung. (Siehe dazu auch folgenden Beitrag .)
Warum Fortschritt kein Selbstläufer ist
In sehr langer Perspektive sind andauernde Wohlstandszuwächse ein relativ junges Phänomen. Historische Statistiken des 2010 verstorbenen britischen Ökonomen Angus Maddison, die von einem Forscherteam der Universität Groningen fortgeschrieben werden, zeigen , dass es immer wieder ausgedehnte Phasen stagnierenden oder sogar sinkenden Wohlstands gab.
Einer frühen Schätzung für das heutige Deutschland zufolge lag um 1500 das Sozialprodukt pro Einwohner bei 1827 US-Dollar (gerechnet in Preisen von 2011). Im Jahr 1800 waren es 1572 Dollar – binnen 300 Jahren war das Wohlstandsniveau keineswegs gestiegen, sondern sogar gesunken . Die Produktionsmöglichkeiten hatten nicht mit dem Bevölkerungszuwachs schrittgehalten; zwischenzeitlich hatte sich die Einwohnerzahl verdoppelt.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt das Wohlstandsniveau im Zuge der Industrialisierung sukzessive zu steigen. Herbe Einschnitte stellten die beiden Weltkriege dar; insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg schrumpfte das Sozialprodukt pro Einwohner um Zweidrittel. Ab den späten 1940er Jahren ging es dann rapide aufwärts, bis heute. Andere westliche Länder verzeichneten einen früheren Aufbruch und eine stetigere Entwicklung.
Die Rahmenbedingungen des Fortschritts
Die historische Erfahrung zeigt, dass der Fortschritt kein Selbstläufer ist. Es braucht einige Rahmenbedingungen, darunter verlässliche Institutionen, gesellschaftlichen Zusammenhalt und eine stabile internationale Ordnung. Brasilien etwa, ein Land mit junger, wachsender Bevölkerung, aber fragilen Institutionen, hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Phasen stagnierender oder sogar sinkender Wohlstandsniveaus verzeichnet. Die 2010er Jahre waren besonders enttäuschend, und unter dem irrlichternden Populisten Jair Bolsonaro wird es nicht besser.
Insofern sind die eingangs genannten Krisensymptome – politische Polarisierung, gesellschaftliche Risse im Zuge der Pandemie, geopolitische Konfrontation – Warnsignale, die das Potenzial haben, den langfristigen Zug des Fortschritts spürbar zu bremsen.
Die demographische Entwicklung hingegen führt nicht zwangsläufig zu einem Ende der Dynamik. Japan, das Land, in dem die Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung am weitesten fortgeschritten ist, verzeichnet nach wie vor stattliche Zuwächse der Pro-Kopf-Einkommen . Ein hoffnungsfroher Befund für all jene westlichen Gesellschaften, die Japans demographischer Entwicklung folgen, darunter die Bundesrepublik.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein optimistisches 2022.
Wegen der Feiertage erscheint Müllers Memo diese Woche ohne Terminvorschau.