Wahlen in der Türkei Endet die Ära Erdoğan? Stichwahl soll entscheiden

Seit 20 Jahren an der Macht: Recep Tayyip Erdoğans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht, ein Jahr später wurde er Ministerpräsident und 2014 Staatspräsident
Foto: Emrah Gurel / APNach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (69) voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Erdoğan liege bei 49,49 Prozent der Stimmen, sagte der Chef Wahlbehörde, Ahmet Yener, in Ankara am Montagmorgen. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74) kam demnach auf 44,79 Prozent. Beide verfehlten damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen am 28. Mai in eine Stichwahl gehen.
Auf dem weit abgeschlagenen dritten Platz landete demnach Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5,3 Prozent. Dem Außenseiter könnte noch eine wichtige Rolle zukommen. Bei der Stichwahl wird wichtig sein, welche Wahlempfehlung er vorher abgibt.
64 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen
Rund 64 Millionen Menschen im In- und Ausland waren zur Stimmabgabe aufgerufen. In Deutschland waren rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass stimmberechtigt.
"Wir haben die Demokratie sehr vermisst", sagte Oppositionsführer Kilicdaroglu bei der Stimmabgabe. Der "Frühling" werde hoffentlich bald kommen, so der 74-Jährige unter Bezug auf einen möglichen Sieg bei der Wahl. Erdoğan, der in Istanbul seine Stimme abgab, reiste am Sonntagnachmittag in die Hauptstadt Ankara.
Wahlberechtigte in Deutschland hatten zuvor bereits abgestimmt. Dort waren rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Pass zur Wahl aufgerufen. Bei den vergangenen Wahlen 2018 hatte knapp die Hälfte der stimmberechtigten Türken in Deutschland ihr Wahlrecht genutzt. Rund 65 Prozent stimmten damals für Erdoğan.
Die diesjährige Wahl findet in angespannter Atmosphäre statt. Es gibt Befürchtungen, dass Erdoğan eine Niederlage nicht akzeptieren könnte. Am Freitag hatte der Präsident jedoch erklärt, das Ergebnis in jedem Fall anerkennen zu wollen.

Erdoğans Herausforderer: Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu steht für Wiederannäherung an die EU
Foto: YVES HERMAN / REUTERSSo viel Macht wie noch nie
Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdoğan so viel Macht wie noch nie und kann weitestgehend am Parlament vorbei regieren. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen. Auch international wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.
Kilicdaroglu ist Chef der sozialdemokratischen CHP und kandidiert für ein Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zum parlamentarischen System. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan (55), hat keine Aussicht auf einen Sieg. Ein weiterer Herausforderer, Muharrem Ince (59), hatte sich aus dem Rennen zurückgezogen, sein Name steht aber noch auf dem Wahlzettel. Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es in zwei Wochen – am 28. Mai – zu einer Stichwahl.
Im Parlament hält Erdoğans islamisch-konservative AKP zurzeit eine Mehrheit im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP. Ob Erdoğan diese halten kann, ist offen. Als Zünglein an der Waage gilt die prokurdische HDP. Sie gehört nicht zu Kilicdaroglus Sechser-Bündnis, unterstützt ihn aber bei der Präsidentenwahl.
Erdoğan verspricht Anhebung von Beamtengehältern
Der Wahlkampf galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdoğan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne, beschimpfte die Opposition als "Terroristen" und äußerte sich feindlich gegenüber lesbischen, schwulen und queeren Menschen.
Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste.
Kilicdaroglu steht für Wiederannäherung an die EU
Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die hohe Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.
In der EU und in der Nato dürfte es kaum einen Spitzenpolitiker geben, der einen Machtwechsel in Ankara bedauern würde. Seitdem Erdoğan den Putschversuch im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschränkung von Grundrechten nutzte und Oppositionelle und Journalisten inhaftieren ließ, sind die Beziehungen eisig. Die EU legte Beitrittsverhandlungen und Gespräche über eine Erweiterung der bestehenden Zollunion auf Eis. Mit Kilicdaroglu kann das alles nur besser werden, lautet deswegen in Brüssel die vorherrschende Meinung.
In der Ampel-Koalition gibt man sich auch hinter vorgehaltener Hand zurückhaltend. Selbst wenn das Bündnis von Kilicdaroglu gewinne, bleibe abzuwarten, wie sich die unterschiedlichen Partner inhaltlich zusammenfinden würden, ist zu hören. Dies gelte auch für die großen Themen wie die Haltung der Türkei zu Russland, die Durchsetzung von Sanktionen oder den Umgang mit den Flüchtlingen.
Erdoğans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdoğan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. In seinen ersten Regierungsjahren galt er als Reformer und sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele seiner eigenen Reformen hat Erdoğan inzwischen zurückgedreht. Die regierungskritischen Gezi-Proteste, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, ließ Erdoğan niederschlagen.
Die Parlaments- und Präsidentenwahl hätte regulär im Juni stattgefunden. Erdoğan hatte sie auf den 14. Mai vorgezogen. Wahlbeobachter der OSZE und des Europarats verfolgen die Abstimmung.