Moraldebatte über Apple, Facebook und Co. Der Glaube an Steuermoral grenzt an Naivität
Der Chefredakteur der "Süddeutschen Zeitung" veröffentlichte vor einigen Wochen einen offenen Brief an Apple-Chef Tim Cook und warf ihm vor, in Europa Milliarden zu verdienen, Steuern aber nur in den USA zu zahlen. Donald Trump lässt sich gerade dafür feiern, dass er die Steuern für Unternehmen gesenkt hat. Die SPD denkt laut darüber nach, bei den Gutverdienern mehr Steuern zu kassieren. Das Thema bewegt. Und interessanterweise werden wir regelmäßig ausgerechnet in der Weihnachtszeit an das Gemeinwohl erinnert und welchen Beitrag wir dazu leisten oder leisten sollten. Entsprechend irrational ist die öffentliche Debatte.

Irina Kummert ist Präsidentin des Ethikverbands der Deutschen Wirtschaft und Mitglied der Ethikkommission des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Seit 2003 ist sie Geschäftsführende Gesellschafterin der Personalberatung IKP Executive Search.
Zugegebenermaßen ist es unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Gleichwohl habe ich genau das im Rahmen eines Fernsehinterviews gemacht, indem ich an den verantwortlichen Redakteur, der offensichtlich von mir eine moralische Standpauke gegen Apple (Kurswerte anzeigen) hören wollte, folgende Frage richtete: "Stellen Sie sich vor, ab morgen wäre es eine freiwillige Leistung Steuern zu zahlen. Niemand würde kontrollieren, ob Sie es getan haben oder nicht, und Ihnen würden weder zwischenmenschliche noch juristische Sanktionen drohen, wenn Sie sich bewusst dagegen entschieden haben. Würden Sie Steuern bezahlen?" Seine Antwort auf meine Frage lautete: "Ja, selbstverständlich würde ich auch dann Steuern zahlen. Schließlich will ich, dass es weiterhin Kitas gibt." Diese Antwort klingt verantwortungsbewusst und deshalb gut. Leider hat sie nichts mit der Realität zu tun.
Manipulation über Begriffe
Die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling setzt sich in ihrer Studie "Politisches Framing - wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht" damit auseinander, wie wir durch den Gebrauch von Worten manipuliert werden. Wehling definiert einen Frame als gedanklichen Deutungsrahmen, der durch Sprache im Gehirn aktiviert wird. Frames seien es, "( ) die Fakten erst eine Bedeutung verleihen, und zwar, indem sie Informationen im Verhältnis zu unseren körperlichen Erfahrungen und unserem abgespeicherten Wissen über die Welt einordnen. Dabei sind Frames immer selektiv. Sie heben bestimmte Fakten und Realitäten hervor und lassen andere unter den Tisch fallen. Frames bewerten und interpretieren also. Und sind sie erst einmal über Sprache - etwa jener in öffentlichen Debatten - in unseren Köpfen aktiviert, so leiten sie unser Denken und Handeln an, und zwar ohne dass wir es merkten." Ein solcher Frame sind Begriffe wie "Steuerschlupfloch" oder "Steuerehrlichkeit". Hier wird ein abstraktes politisches Instrument, die Steuer, an eine moralische Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft oder an einen Wert gekoppelt. Dass diese Strategie, uns zu bekennenden Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern zu erziehen sehr gut funktioniert, beweist die Antwort des Fernsehredakteurs.
Steuern sind Kosten, die Unternehmen vermeiden wollen
Unser Strafrecht wurde geradezu erfunden, weil wir uns nicht darauf verlassen wollen - und wie die Realität zeigt, nicht darauf verlassen können -, dass die moralische Integrität eines Menschen in jeder Situation greift. Unser Strafrecht ist insofern auch ein Instrument wie die Compliance, das institutionalisierte Unbehagen an der Moral. Justitiable Regeln haben gegenüber dem letztlich unverbindlichen, weil auf Konvention und Konsens beruhenden Feld der Moral klare Vorteile.
Moral ist nicht justitiabel. Steuerhinterziehung schon. Bei Steuerzahlungen handelt es sich faktisch nicht um eine moralische Verpflichtung, sondern um geltendes Recht, dem wir uns nicht entziehen können, ohne strafrechtlich relevante Konsequenzen tragen zu müssen. Das gilt sowohl für Privatpersonen als auch für Unternehmen. Was Apple betrifft, handelt der Konzern vollkommen legal, wenn er in Deutschland keine Steuern abführt, da er bei uns durch kein Gesetz dazu verpflichtet ist. Solange die Steuergesetzgebung nicht weltweit angepasst wird, behandeln Konzerne wie Apple Steuern als Kosten und tun das, was jedes Unternehmen tun würde: nämlich Kosten vermeiden.
Steuermoral macht die Welt nicht besser
Selten wird die Grenze zwischen Legalität und Moralität deutlicher als in diesem Kontext. Wir können uns über Konzerne wie Apple moralisch echauffieren. Nützen wird uns das allerdings nichts, weil nicht damit zu rechnen ist, dass Unternehmen freiwillig Steuern zahlen. Interessanterweise orientiert sich auch das Käuferverhalten in erster Linie an Qualität: Die Schlangen vor den Apple Stores sind nicht kürzer geworden, seit wir wissen, dass wir auf die Steuereinnahmen verzichten müssen. Mit Druck durch die Verbraucherinnen und Verbraucher ist also nicht zu rechnen. Diese Fakten sind den politischen Entscheidern bekannt. Stellt sich die Frage, warum dennoch seitens der Politik fleißig die Moraldebatte angeheizt wird, statt konkrete Maßnahmen zur Novellierung unserer Steuergesetzgebung auf den Weg zu bringen.
Kann es sein, dass Moral auch hier als Vermeidungsstrategie wirkt, als reines Mittel zur Beruhigung der Wählerseele, als Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit den tatsächlichen Fragestellungen auseinandersetzen und konkrete Taten folgen lassen zu müssen? Wenn es um Steuererhöhungen für Privatpersonen geht, das zeigt die jüngste Initiative der SPD, haben unsere Politiker offenbar weniger Hemmungen.
Wer glaubt, dass die Welt alleine dadurch besser wird, dass wir Steuern zahlen, der bewegt sich auf dünnem Eis, an der Grenze zur Naivität. Das belegt schon die Existenz einer Behörde wie dem Bundesrechnungshof und zusätzlichen Landesrechnungshöfen, die eine unabhängige, selbstständige und weisungsfreie externe Finanzkontrolle von Bund und Ländern darstellen müssen und dem Vernehmen nach alle Hände voll zu tun haben. Die von den Rechnungshöfen regelmäßig herausgegebenen Schwarzbücher belegen, dass Milliarden von Steuergeldern verschleudert werden, statt sie einem sinnvollen Zweck zuzuführen, der unserer Gemeinschaft zugutekommt. Ob die freiwillig bezahlten Steuern des Redakteurs also tatsächlich für Kitas verwendet werden, ist demnach alles andere als sicher.
Irina Kummert ist Präsidentin des Ethikverbands der Deutschen Wirtschaft, Mitglied des DVFA Ethik Panels sowie Mitglied des Arbeitskreises Wirtschaft & Soziales beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken und schreibt als Mitglied der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.