Ein Jahr Ukraine-Krieg Welche Russland-Sanktionen wirken – und welche nicht

Öltanker auf hoher See: Erst seit wenigen Monaten sinken die russischen Einnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf
Foto: Bloomberg Creative / Getty ImagesDieser Artikel gehört zum Angebot von manager-magazin+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Seit einem Jahr tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine: Laut Zählungen des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte sind mehr als 18 Millionen Menschen geflohen, rund 20.000 Ukrainerinnen und Ukrainer wurden getötet oder verletzt. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten ist vermutlich deutlich höher. Viele Städte und ganze Landstriche sind verwüstet, und Kreml-Machthaber Wladimir Putin (70) hat die Angriffe zuletzt noch verstärkt.
Um die Finanzkraft des Kremls und damit seine Möglichkeiten zur Kriegsführung zu schwächen, hat der Westen bereits kurz nach Ausbruch des Krieges begonnen, umfangreiche Strafmaßnahmen gegen Russland zu verhängen. Allein die EU hat inzwischen neun Sanktionspakete mit rund 500 Einzelmaßnahmen in Kraft gesetzt. Das klingt gewaltig. Doch die Wirkung? Geringer als vom Westen erhofft.
Bislang ist dem russischen Staat das Geld nicht ausgegangen. Die Preisexplosion bei Öl und Gas hat dem Kreml weiterhin enorm hohe Einnahmen beschert hat. Sie sorgen für einen Rekordüberschuss in der Leistungsbilanz in Höhe von rund 230 Milliarden Dollar. Nach Schätzungen des IWF ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2022 lediglich um 3,4 Prozent geschrumpft. Auch das Staatsdefizit ist mit umgerechnet 44 Milliarden Euro, was rund 3,2 Prozent des BIP entspricht, überschaubar. Mehr noch: Die Investitionen russischer Unternehmen sind nach Berechnungen von Bloomberg im Jahr 2022 sogar um 6 Prozent gestiegen, da die Firmen in Reaktion auf die westlichen Sanktionen neue Importquellen erschließen und neue Lieferketten aufbauen mussten.
Die ganze Wahrheit liefern diese Kennzahlen zwar kaum. Ökonomen wie Sergej Gurijew (51), russischer Wirtschaftsprofessor in Paris, halten das BIP im Kriegsjahr 2022 für wenig aussagekräftig, da Putin die Rüstungsproduktion enorm hochgefahren hat, die produzierten Güter aber nicht auf dem freien Markt auftauchen. Auch die Arbeitslosenquote, die im Dezember angeblich auf 3,7 Prozent zurückging, hält er für irreführend. Als aussagekräftiger gilt für ihn der private Konsum, der 2022 um rund 10 Prozent gesunken ist. Alles in allem aber, so hieß es kürzlich auch in einem internen Bericht der Bundesregierung, zeige sich die russische Volkswirtschaft widerstandsfähiger, als bei der Einführung der Sanktionen erwartet wurde. Die Bilanz fällt nach einem Jahr also eher ernüchternd aus.
Um nachzuvollziehen, woran das liegt, lohnt ein Blick auf die Sanktionen. Welche Maßnahmen treffen Russland wirklich? Welche kann der Kreml selbst aushebeln? Wo mildern Staaten wie China, Indien, Iran oder Dubai die Wirkung ab? Und was könnte wirklich helfen?
Welche Sanktionen Russland treffen:
Luftfahrtindustrie leidet
Als wirksam haben sich bislang die Sanktionen gegen die russische Luftfahrtindustrie erwiesen. Der Luftraum in den USA und weiten Teilen Europas ist für russische Fluggesellschaften gesperrt. Zudem bekommen sie keine Flugzeuge, Ersatzteile oder sonstige Technik von westlichen Herstellern wie Airbus oder Boeing. Die Auslastung russischer Flugzeugfabriken sank in der Folge um 80 Prozent, die Passagierzahlen brachen zuletzt um 20 Prozent ein. Um den Niedergang zu bremsen, will die russische Führung nun Komponenten zwischen Flugzeugen austauschen. Airlines wie die staatlich kontrollierte Aeroflot sind bereits gezwungen, ältere Flugzeuge auszuschlachten, um sich Ersatzteile zu sichern. Nach Schätzungen des "Economist" wird in Russland in zwei Jahren jedes fünfte zivile Flugzeug am Boden bleiben müssen, da Ersatzteile fehlen.
Bis Kriegsbeginn war Russland außerdem ein wichtiger Markt für Flugzeug-Leasing: Inzwischen sitzen Flugzeuge im Wert von fast zehn Milliarden US-Dollar in Russland fest, da die Leasinggeber die Verträge kündigen mussten. Inzwischen will Russland die Maschinen im eigenen Land registrieren – was "effektiv bedeutet, dass wir die Flugzeuge gestohlen haben", so der unabhängige russische Luftfahrtexperte Wadim Lukaschewitsch. Der Kreml will zwar einige der mehr als 400 Leasing-Flugzeuge kaufen . Doch dieser Plan dürfte scheitern, da die EU dem Deal zustimmen müsste.
Autoindustrie am Boden
Russlands Autoindustrie war lange von westlichen Firmen geprägt. Als Autobauer wie Renault oder Ford das Land infolge des Angriffs auf die Ukraine verließen und auch deutsche Hersteller wie Volkswagen und Mercedes ihren Abschied einläuteten, stand praktisch die gesamte Autoproduktion still. Auch russische Hersteller wie Avtovaz – bis dahin von Renault dominiert – waren plötzlich gezwungen, ihre Produktion wegen fehlender Teile stark einzuschränken. Seit Mitte 2022 rollen die Bänder zwar wieder, gebaut wird aber ohne ABS oder Airbag.
In der Not versucht der Staat, die Lücke mit Partnern zu schließen. Im früheren Renault-Werk nahe Moskau wurde etwa der Moskwitsch nach rund 20 Jahren wiederbelebt – in einer Kooperation mit dem chinesischen Autobauer JAC. Im vergangenen Jahr sollten in der Fabrik ein paar hundert Modelle produziert werden, erst 2023 sollen die Modelle in Masse vom Band laufen. Insgesamt aber sind die Autoverkäufe der Branche im Jahr 2022 um knapp 60 Prozent eingebrochen – auf exakt 687.370 Autos und leichte Nutzfahrzeuge, so die russische Association of European Businesses (AEB) . Nach dem Abschied der westlichen Autofirmen bemühen sich inzwischen vor allem chinesische Autohersteller, in die entstandene Lücke zu stoßen.
Diese Sanktionen umgeht Russland:
Sanktionen gegen Banken
Zahlreiche russische Banken waren durch die EU kurz nach Kriegsbeginn vom Zahlungssystem Swift ausgeschlossen worden, was den Finanzsektor kurzzeitig ins Wanken brachte. Ausländische Investoren erhielten keine Zahlungen mehr für ihre russischen Staatsanleihen, denn Russland war vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten und damit technisch zahlungsunfähig. Die Landeswährung Rubel verlor massiv an Wert, die Inflation schnellte in die Höhe und auch der russische Aktienmarkt stürzte ab. Doch der Kollaps des russischen Finanzsystems blieb aus.
Der Grund: Die russische Zentralbank steuerte mit Zinssenkungen entgegen, das Geld für Öl und Gas floss weiter, da der energiehungrige Westen per Ausnahmeregelung weiterhin Geld an die Gazprombank überwies. Zudem begrenzten Kapitalverkehrskontrollen und die Verpflichtung der russischen Exporteure, 80 Prozent ihrer eingenommenen Devisen in Rubel zu konvertieren, den Schaden. So war der Rubel nur zwei Monate nach Beginn der Sanktionen wieder so stark wie zuvor. Statt über Swift läuft außerdem ein Teil des Finanztransfers inzwischen über Cips, eine Art chinesisches Swift.
Einfrieren der Devisenreserven
Wenig wirtschaftlichen Effekt hatte auch die Entscheidung, die Devisenreserven von Russlands Zentralbank im Ausland einzufrieren, sagt der Russland-Experte und Wirtschaftswissenschaftler Janis Kluge von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik . Der Grund waren auch hier die Öl- und Gasmilliarden, sodass das Land auch gut ohne die Reserven auskam. Sinnvoll sei das Einfrieren der Devisenreserven aus Sicht von Kluge dennoch gewesen. Schließlich hätte Moskau die Reserven ansonsten in andere Währungen umtauschen können, außerhalb der Reichweite westlicher Sanktionen, argumentiert er .
Und in den kommenden Monaten, so Kluge, dürfte der Effekt größer werden. Wenn es dem Westen gelingt, Russlands Einnahmen aus dem Ölgeschäft durch die seit Kurzen geltenden Preisdeckel und Embargos zu kürzen, dürfte sich Russlands Handelsbilanz verschlechtern, der Rubel schwächer werden, die Inflation steigen und die 300 Milliarden Euro an Reserven schmerzlich fehlen.
Embargo für russisches Öl
Erst spät in Kraft getreten sind die Sanktionen gegen Russlands Ölindustrie. Auf die Importverbote von russischem Öl hatten sich die EU-Mitglieder zwar schon Mitte 2022 geeinigt, aber mit langen Übergangsfristen. So gilt das Embargo gegen Diesel und andere Ölprodukte erst seit Anfang Februar 2023, geknüpft an einen internationalen Preisdeckel. Die langen Fristen trugen dazu bei, dass die Preise für Rohöl und insbesondere Diesel 2022 noch weiter anstiegen und Russland von höheren Einnahmen sogar profitierte. Russland exportierte zwar weniger Öl und Gas, erzielte aber dennoch höhere Einnahmen als in den Vorjahren.
Ziel des Westens ist daher, den Preis für russische Energierohstoffe auf dem Weltmarkt weiter zu drücken. Dies geschieht erstens durch den Umstieg auf andere Energiequellen und zweitens durch Verhandlungen mit weiteren Staaten, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Derzeit findet der Kreml vor allem in Indien, China und weiteren Staaten Asiens noch Großabnehmer. Die staatlichen Ölkonzerne Rosneft, Lukoil und Co. müssen den Abnehmern aber erhebliche Rabatte gewähren, um ihre Rohölsorte Urals loszuwerden; nur bei der Sorte Espo ist das Preisniveau relativ stabil geblieben. Auch hier wirkt der Faktor Zeit: Monat für Monat gehen die Einnahmen Russlands aus dem Öl- und Gasgeschäft zurück, sodass die Öl- und Gassanktionen nun immer stärker ihre Wirkung entfalten.
Derweil boomt jedoch das Ölgeschäft auf dem Schattenmarkt, über den Russland die Sanktionen des Westens unterläuft. Eine Schattenflotte aus ausgedienten Tankern transportiert dabei das Öl unter dem Radar zu geheimen Kunden. Die Schiffe werden dafür teils umbenannt oder neu lackiert, manchmal mehrmals pro Fahrt. Auf hoher See laden die Händler das russische Öl um auf größere Tanker, mischen es mit anderem Rohöl und verschleiern so dessen Herkunft, etwa kürzlich vor Gibraltar . Hilfe bekommt der Kreml dabei vom Iran, der langjährige Erfahrungen mit dem Umgehen von Ölsanktionen hat. Mindestens 16 Tanker der iranischen Schattenflotte sind seit dem Rohölembargo im Dezember auf den Transport von russischem Öl umgestiegen, haben Recherchen der "Financial Times " ergeben.
Vermögenssperren für Oligarchen
Viel Aufmerksamkeit bekamen zu Beginn des Krieges die Strafmaßnahmen gegen Privatpersonen und Organisationen – darunter zahlreiche russische Oligarchen, Abgeordnete, Minister, prominente Geschäftsleute und andere Personen, die Putin nahestehen. Von den Sanktionen der EU, Großbritanniens und der USA sind tausende Personen betroffen. Doch die Wirkung ist bislang enttäuschend. Die EU hat rund 19 Milliarden Euro an Privatvermögen eingefroren – eine überschaubare Summe angesichts der Tatsache, dass es laut Forbes 83 russische Oligarchen mit einem Vermögen von mehr als einer Milliarde Dollar gibt. Trotz einiger spektakulärer Fälle wie etwa der Konfiszierung diverser Superjachten tun sich die Staaten schwer, die Vermögenswerte ausfindig zu machen.
Viele Immobilien oder Firmenanteile können die nur unzureichend ausgestatteten Behörden nur schwer zuordnen, weil sie hinter verschachtelten Konstrukten versteckt sind. Und viele Oligarchen haben ihr Vermögen rechtzeitig in Briefkastenfirmen oder bei Strohleuten versteckt. So ist ein Großteil des Geldes aus dem EU-Land Zypern, das lange als Steuerparadies von Russlands Elite galt, bereits wieder in neue Verstecke transferiert worden. Stahlmagnat Alexej Mordaschow (56) verlagerte schon am 28. Februar einen Teil seiner 1,5 Milliarden Dollar schweren Beteiligung am Reiseveranstalter Tui von einer zypriotischen Gesellschaft auf eine Gesellschaft auf den britischen Jungferninseln. Andere wie Victor Rashnikov (73) transferierten ihr Geld zurück in ihr Heimatland.
Technologie-Exportverbote
Eigentlich soll Russland auch keinen Zugang mehr zu westlichen Hochtechnologie-Produkten erhalten. Doch auch diese Sanktion konnte der Kreml bislang in einigen Bereichen umgehen – unter kräftiger Mithilfe befreundeter Staaten. Zahlreiche Güter – von Spitzentechnologie wie Quantencomputern oder leistungsfähigen Halbleitern über Drohnen bis zu Technologie für die Energiewirtschaft und Maschinen – dürfen den EU-Sanktionen zufolge nicht mehr aus der EU nach Russland exportiert werden. So mangelt es in der russischen Wirtschaft inzwischen an Hightech-Produkten. Doch Daten zu Handelsströmen lassen vermuten, dass Unternehmen in der Türkei, China, Kasachstan, Belarus und Kirgisistan einspringen und die westlichen Produkte über einen Umweg liefern. Ein Beispiel: Im vergangenen Jahr stiegen Smartphone-Importe in Armenien sprunghaft an – und gleichzeitig nahmen in Armenien die Smartphone-Exporte nach Russland rapide zu. Ähnliche Phänomene zeigten sich auch bei Waschmaschinen, Computerchips und anderen Produkten in einer Handvoll asiatischer Länder.
Insbesondere bei Technologien in Rüstungsgütern zeigten sich Schlupflöcher. Russische Staatsangehörige mit Wohnsitz in den USA oder Europa sollen Berichten zufolge Scheinfirmen aufgebaut haben und darüber die Elektronikkomponenten bei westlichen Herstellern bestellt haben. Mit gefälschten Dokumenten sollen diese unter anderem über China, Südkorea und Hongkong nach Russland kommen. Elektronische Bauteile im Wert von mindestens 2,6 Milliarden US-Dollar gelangten laut Reuters in den ersten sieben Monaten des Krieges ins Land, mindestens 777 Millionen US-Dollar gehen auf Komponenten westlicher Firmen zurück.
Unklar ist, inwieweit die westlichen Firmen von den Verstößen wissen. In russischen Waffensystemen fanden sich neben Teilen von den US-Techkonzernen Intel, Advanced Micro Devices (AMD) und Texas Instruments auch Produkte der deutschen Firma Infineon. Im Oktober kam es hierzulande zu Festnahmen von Personen, die Halbleiter und Mikroprozessoren für Kampfflugzeuge, Raketensysteme und andere Militärtechnik an russische Firmen verkauft haben sollen. EU-Vertreter planen darum, die Exportverbote für Technologie-Exporte im Rahmen eines zehnten Sanktionspakets zu verschärfen und auf weitere elektronische Bauteile auszuweiten. Das Paket soll auch die Lieferung von Drohnen durch den Iran an Russland stoppen und Schlupflöcher schließen.
Russlands beste Freunde
Die Wege, mit denen Russland die Exportverbote des Westens umgeht, verdeutlichen eine der größten Schwächen der bisherigen Sanktionspakete: Mehr als 100 Staaten, die rund 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung ausmachen, beteiligen sich nicht an den Strafmaßnahmen der westlichen Allianz. China oder Indien profitieren sogar von günstigen Energielieferungen. Hier läge politisch noch ein Hebel, um mehr Wirkung zu entfalten.
Aufgeben werden die westlichen Staaten ihre Sanktionen ohnehin nicht. Da etwa das spät begonnene Embargo für russisches Öl sowie die Preisdeckel für Gas und Öl nun langsam ihre Wirkung entfalten, ist man in der EU zuversichtlich, dass Putin die Sanktionen im zweiten Jahr des Krieges deutlich stärker zu spüren bekommt als bisher.