Henrik Müller

Europas Produktivitätslücke Was auf Dauer gegen Inflation hilft

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Seit bald einem Jahr steigen die Zinsen – doch der Inflationstrend ist ungebrochen. Schuld daran ist nicht nur das späte Eingreifen der Europäischen Zentralbank, sondern auch die schwache Produktivitätsentwicklung. Zeit für eine radikale Umkehr.
Demonstration in Barcelona: In Ländern wie Spanien und Italien stagniert seit der Finanzkrise 2008 und der folgenden Euro-Krise dort die Produktivität – während sie im Norden Europas weiter zulegt. Europa braucht eine Produktivitätsrevolution. Um nicht auf den Weg der allmählichen Verarmung – stagnierende Wirtschaft bei fortschreitender Inflation – zu geraten, braucht es jede Menge Fortschritt, gerade in den Südstaaten.

Demonstration in Barcelona: In Ländern wie Spanien und Italien stagniert seit der Finanzkrise 2008 und der folgenden Euro-Krise dort die Produktivität – während sie im Norden Europas weiter zulegt. Europa braucht eine Produktivitätsrevolution. Um nicht auf den Weg der allmählichen Verarmung – stagnierende Wirtschaft bei fortschreitender Inflation – zu geraten, braucht es jede Menge Fortschritt, gerade in den Südstaaten.

Foto: Matthias Oesterle/ dpa

Die Inflation hält sich hartnäckig. Auch nach rapiden Zinserhöhungen durch die großen Notenbanken ist der Trend ungebrochen: Die Kerninflation (ohne Energie, Nahrungs- und Genussmittel) steigt immer noch weiter. Zuletzt lag sie in der Eurozone bei 5,6 Prozent, doppelt so hoch wie vor einem Jahr . Insgesamt steigen die Verbraucherpreise nach wie vor mit Raten von 8,5 Prozent.

Klar, es dauert bis eine straffere Geldpolitik in der Wirtschaft ankommt. Wirkungsverzögerungen von anderthalb bis zwei Jahren sind nichts Ungewöhnliches. Entsprechend wäre bestenfalls ab Herbst mit abflauenden Kerninflationsraten zu rechnen.

Dennoch: Viele Fachleute, darunter auch Notenbanker, sind überrascht, wie schwierig es ist, die Preisdynamik wieder einzufangen. Schließlich war Inflation jahrzehntelang kein Thema, egal, wie viel Geld die Notenbanker in die Wirtschaft kippten. Etwas Grundlegendes muss sich also verändert haben. Aber was genau? Mit dieser Frage beschäftigt sich diese Kolumne.

Sie kommt zu zwei Ergebnissen: dass es bei der Bekämpfung der Inflation nicht nur auf die Notenbanken ankommt – und dass insbesondere die Eurozone vor fundamentalen Schwierigkeiten steht. Aber eines nach dem anderen.

Wie die Inflation in Wallung kommt

Inflation ist nicht immer eine Frage von Geld, aber dauerhafte Inflation lässt sich ohne übermäßige Geldzufuhr kaum am Laufen halten. Plötzlich steigende Energiekosten beispielsweise können das Preisniveau nach oben schieben, so wie voriges Jahr geschehen. Damit daraus aber ein länger anhaltender Trend wird, braucht es reichlich Schmiermittel: Auf breiter Front steigende Preise sind typischerweise Folge eines Missverhältnisses zwischen der Menge an Geld und der Menge an Produkten, die eine Volkswirtschaft zur Verfügung hat. Wächst die Geldmenge längere Zeit schneller als die Realwirtschaft, dann steigen die Preise – und somit die Inflationsraten. Dieser Prozess kann sich verfestigen, wenn Bürger und Unternehmen mit immer weiter steigenden Preisen rechnen und entsprechend handeln.

Es kommt also auf beides an: auf die monetäre und auf die realwirtschaftliche Seite der Wirtschaft. Für erstere ist primär die Zentralbank zuständig, die kurz- bis mittelfristig in die Versorgung mit flüssigen Mitteln eingreifen kann. Das geschieht derzeit: Da sich höhere Inflationserwartungen zu verfestigen drohen, achten die westlichen Notenbanken genau auf Preisforderungen der Unternehmen und die Lohnentwicklung, während sie gleichzeitig die Geldmenge bremsen oder sogar schrumpfen lassen, wie aktuell in den USA.

Die realwirtschaftlichen Angebotsbedingungen hingegen lassen sich nicht so leicht steuern. Dabei handelt es sich, grob gesagt, um die Summe der tätigen Wirtschaftsaktivitäten einer Gesellschaft: Serviceleistungen, die Menschen erbringen; Güter, die produziert oder importiert werden; Know-how, das entwickelt und genutzt wird. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle: die demografische Entwicklung, die Spielregeln des Arbeits- und des Kapitalmarkts sowie des internationalen Handels, der technologische Fortschritt, das Bildungs- und Wissenschaftssystem, das Management von Unternehmen und vieles mehr. An all diesen Größen lässt sich kurzfristig wenig ändern. Langfristig jedoch sind sie entscheidend für das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft.

Die Angebotsseite bestimmt auch, wie inflationsanfällig eine Volkswirtschaft ist. Ein großes und flexibles Angebot verhindert Preissteigerungen, weil selbst kräftige Nachfrageschübe stets gedeckt werden können. In einer Welt des Überflusses gibt es keine Knappheiten – und entsprechend auch keine starken Preissteigerungen. Bei schwacher Entwicklung des Produktionspotentials hingegen gerät eine Volkswirtschaft eher an die Überhitzungsschwelle, sodass die Inflation in Wallung kommt.

Damit kommen wir auf die Eingangsfrage zurück: Genau an dieser Stelle hat sich zuletzt einiges verschoben.

Je lahmer, desto inflationsanfälliger

Inflation war in den zurückliegenden Jahrzehnten kein großes Thema, weil ein schier unerschöpfliches Angebot an Gütern und Dienstleistungen zur Verfügung stand – eine Folge des Zusammenspiels aus Globalisierung und günstiger Demografie.

Dank offener Grenzen und einer immer weiter steigenden Zahl von Menschen, die an der weltweiten Wertschöpfung beteiligt waren, ließ sich nahezu jede Nachfrage bedienen. Selbst wenn die Notenbanken die Geldmenge rasch expandieren ließen, reagierten die Güterpreise kaum.

Inzwischen jedoch hat sich einiges verändert. Die beiden großen Schocks der vergangenen Jahre – die Corona-Krise und der Ukraine-Krieg – haben zwei Langzeittrends beschleunigt: Erstens zersplittern die Weltmärkte; in der derzeitigen Phase der Postglobalisierung entstehen wieder jede Menge Handelsbarrieren, gerade für Industrieprodukte. Zweitens macht sich die Demografie bemerkbar: In vielen Ländern sinkt die Zahl der werktätigen Menschen, absehbar auch in Deutschland, eine Tendenz, die die Pandemie verstärkt hat, weil sich in der Folge viele Leute aus dem Erwerbsleben zurückgezogen haben. Beides schmälert das gesamtwirtschaftliche Angebot – und macht das System insgesamt inflationsanfälliger. Die Hartnäckigkeit der Preisdynamik lässt sich auch durch Beschränkungen auf der Angebotsseite erklären. Andersherum: Wenn es gelänge, die Produktivkräfte zu stärken, dann würde das auch gegen die Inflation helfen. Geht das?

"Langfristig ist Produktivität fast alles"

"Productivity isn’t everything, but in the long run it is almost everything.” Der spätere Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman hat einst diesen Satz geschrieben. Soll heißen: Letztlich wird der Wohlstandszuwachs davon bestimmt, wie viel Wertschöpfung sich mit vorhandenen Mitteln erreichen lässt. Schaffen Beschäftigte im Schnitt immer ein wenig mehr, kann man mit der gleichen Menge an Leuten immer mehr Produkte herstellen. Weil Wissen und Know-how zunehmen, weil Organisationsstrukturen und technische Hilfsmittel (Maschinen, Computer, Software) verbessert werden, entsteht Fortschritt – die Angebotsseite der Volkswirtschaft wächst, ohne dass mehr Beschäftigte, Kapital oder natürliche Ressourcen eingesetzt werden müssten.

Die Grafik illustriert, wie sich dieser Prozess der allmählich steigenden Produktivität  niederschlägt. Milliarden von kleinen Fortschritten reihen sich über Jahrzehnte hinweg zu enormen Wohlstandszuwächsen aneinander, wie die Zahlen des US-Thinktanks Conference Board belegen. Zwischen 1950 und 2022 hat sich der Output pro Arbeitsstunde in Frankreich verachtfacht, in Deutschland fast verneunfacht, in Italien immerhin versiebenfacht. In Ländern wie den USA, den Niederlanden oder Schweden, die nach dem Zweiten Weltkrieg von einem höheren Niveau starteten, sind die Zuwächse nicht ganz so stark. Aber auch dort stieg die Wirtschaftsleistung pro Stunde um das Vier- bis Fünffache. Ziemlich spektakulär.

Mehr noch: Zwischen den hochproduktiven Ländern ist eine Konvergenz feststellbar. So erwirtschaften Beschäftigte in den USA, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden oder Schweden etwa gleich viel. Entsprechend sind auch die Wohlstandsniveaus dieser Länder vergleichbar. Doch es gibt ein ernstes Problem.

Der Knick im Süden

Wie die Grafik zeigt, geht die Schere zwischen den nördlichen und den südlichen Euro-Staaten immer weiter auseinander. Bereits in den 1990er Jahren ist der Produktivitätspfad im Süden abgeknickt. Der Effekt zeigt sich besonders deutlich in Italien und Spanien. Seit der Finanzkrise 2008 und der folgenden Euro-Krise stagniert dort die Produktivität  – während sie im Norden weiter zulegt, wie die Conference-Board-Zahlen zeigen.

Für die Eurozone insgesamt sind die zunehmenden Divergenzen schwierig, weil sie den Zusammenhalt Europas gefährden. Zudem schwächt die Entwicklung im Süden das Wachstumspotenzial des Wirtschaftsraums insgesamt – weshalb die Währungsunion absehbar inflationsanfälliger wird.

Europa braucht dringend eine Produktivitätsrevolution – umso mehr als die Zahl der Beschäftigten im erwerbsfähigen Alter demografiebedingt schrumpft. Um nicht auf den Weg der allmählichen Verarmung – stagnierende Wirtschaft bei fortschreitender Inflation – zu geraten, braucht es jede Menge Fortschritt, gerade in den Südstaaten. Ob der Corona-Wiederaufbaufonds "NextGenerationEU", der 750 Milliarden Euro für Zukunftsinvestitionen bereitstellt, vor allem zugunsten Italiens und Spaniens, genügt, muss sich erst noch erweisen.

Ich befürchte, dass die Divergenzen noch weiter zunehmen werden, falls weitere Integrationsschritte ausbleiben. Leider sieht es eben danach aus: Europa steckt in einer Polykrise – und schafft es auch in dieser prekären Lage nicht, über sich hinauszuwachsen. Reformen auf nationaler und europäischer Ebene wären eigentlich notwendig. In der Realität jedoch agieren die Mitgliedstaaten wie so häufig: halbherzig, widersprüchlich, kleinmütig.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag

Meseberg – Scherbengericht – Klausurtagung des Bundeskabinetts. Konfliktfelder gibt es reichlich.

Dienstag

Stockholm – Panzerfragen – Informelles Treffen der EU-Verteidigungsminister in Zeiten des Ukraine-Kriegs.

Frankreich – Ancien régime – Streik- und Protesttag gegen die geplante Rentenreform in Frankreich. Bislang liegt das Renteneintrittsalter bei 62 Jahren. Präsident Macron will es heraufsetzen.

Peking – Konjunktur-Rikscha – Chinas Zoll legt neue Zahlen zum Außenhandel in den ersten beiden Monaten des Jahres vor.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Gea, Schaeffler, HelloFresh, Lego, Lindt & Sprüngli.

Mittwoch

Luxemburg – Europa en detail – Die EU-Statistikbehörde Eurostat legt detaillierte Zahlen zur Entwicklung der Wirtschaftsleistung im letzten Quartal 2022 vor.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Adidas, Continental, Brenntag, Thales, Vivendi.

Donnerstag

Stockholm – Globalisierung im Rückwärtsgang – Informelles Treffen der EU-Handelsminister (bis Freitag).

Peking – Die Preise in Fernost – Chinas Statistikamt legt neue Zahlen zur Entwicklung der Verbraucherpreise vor.

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Post, Draegerwerk, Hugo Boss, LEG, Klöckner & Co, Dassault Aviation, Prada, Aviva.

Freitag

Wiesbaden – Deutsche Inflation unter Lupe – Das Statistische Bundesamt legt Detailzahlen zur Preisentwicklung im Februar vor.

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Daimler Truck

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