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Janina Kugel

Akuter Personalmangel Warum eine kluge Migration segensreich ist

Janina Kugel
Eine Kolumne von Janina Kugel
Der Personalmangel hat die deutsche Wirtschaft im vergangenen Jahr fast 100 Millionen Euro gekostet. Ohne gezielte Migration und gesellschaftliches Umdenken ist das Problem nicht zu lösen.
aus manager magazin 2/2023
Helfende Hände: Fachkräfte fehlen nicht nur in der Kinderbetreuung

Helfende Hände: Fachkräfte fehlen nicht nur in der Kinderbetreuung

Foto: Catherine Falls Commercial / Getty Images

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als alle Veranstaltungen den Beinamen "4.0" trugen? Automatisierung und Digitalisierung standen überall auf der Tagesordnung. Meist ging es in diesem Zusammenhang auch schnell darum, welche negativen Auswirkungen der Fortschritt vermeintlich haben wird. Wie viele Arbeitsplätze wegfallen und welche sozialen Verwerfungen zu erwarten seien. Dass es auch positiv sein könnte, wenn Maschinen und Algorithmen die Arbeit von Menschen übernehmen, weil man schlicht und ergreifend keine Mitarbeiter*innen mehr finden würde, wurde selten geglaubt.

Jetzt haben wir 1,8 Millionen offene Stellen in Deutschland. So viele wie nie zuvor.

Die demografischen Daten der Industrieländer sind eindeutig: Der Anteil der Erwerbstätigen sinkt kontinuierlich. Die Babyboomer gehen in Rente – doch wir haben schlicht nicht genügend Kinder bekommen, um jetzt die Joblücken mit dem eigenen Nachwuchs zu schließen. Ein kurzfristiger Anstieg der Geburtenrate wie 2021 – wo die offensichtlich harmonischen ersten Corona-Lockdowns zu 22.000 Neugeborenen mehr als im Vorjahr führten – reicht da nicht. Denn bis diese Babys bereit für den Arbeitsmarkt sind, vergehen noch gut und gern 20 Jahre.

Der Notstand kann lebensbedrohlich sein

Zwischenzeitlich ist der Personalmangel nicht nur Thema für Expert*innen, sondern ist im Alltag angekommen. Das Warten auf Handwerker*innen ist schon lange gelebte Praxis, dass die Bäckerei neuerdings am Nachmittag schließt, bekommt man mit guter Organisation vielleicht auch noch geregelt. Doch der eklatante Notstand im Gesundheitsbereich und der Pflege kann lebensbedrohlich sein.

Die Erwerbstätigen gehen uns aus. Das ist nicht nur ärgerlich, sondern kostet die deutsche Wirtschaft noch dazu einen Haufen Geld: Im letzten Jahr waren das allein in Deutschland fast 100 Milliarden Euro. Blickt man auf die Top-30-Industrieländer summieren sich die Kosten auf rund eine Billion Euro. Wir sind also nicht das einzige Land mit diesem Problem. Und längst werden nicht nur qualifizierte Fachkräfte gesucht: Rund 20 Prozent der in Deutschland offenen Stellen erfordern keine abgeschlossene Berufsausbildung.

Wie sollen Mütter mehr arbeiten?

Zwei Lösungsansätze werden schnell vorgebracht: Wir alle sollen länger arbeiten. Und die, die Teilzeit arbeiten, vor allem Frauen, sollen mehr arbeiten.

Ersteres müssen wir tatsächlich endlich ideologiefrei diskutieren, denn die Lebenserwartung steigt und damit auch die Kosten für das dringend reformbedürftige Rentensystem. Klar, nicht jede*r schafft es, mit 65 noch weiterzuarbeiten, doch viele schon.

Was die Frauen angeht, so wünschte ich mir im Zuge der Gleichberechtigung und vor allem als Vorbeugung der Altersarmut nichts mehr, als dass es Müttern ermöglicht wird, wieder schneller voll erwerbstätig zu werden. Allein mir fehlt die Vorstellungskraft, wie das bei der gegebenen Infrastruktur – und den allerorten fehlenden Erzieher*innen und Lehrer*innen – funktionieren soll. Und als ob das nicht schon genug Sorgen wären, ist einem jetzt auch noch bange, dass der Nachwuchs zumindest so lange gesund bleibt, bis wir die Mangelwirtschaft an den Kinderkliniken wieder in den Griff bekommen.

Ohne Migration wird es nicht gehen

Wir können es also drehen und wenden, wie wir wollen: Wir werden die Herausforderungen des Arbeitsmarktes ohne Immigration nicht meistern.

Wenn wir unseren Wohlstand sichern wollen, muss es eine zielgerichtete und offene Zuwanderung in den Arbeitsmarkt geben. Dass die Bundesregierung sich zu einer modernen Einwanderungspolitik bekennt, ist gut. Damit es aber zügig vorangeht, müssen die Prozesse schneller, digitaler und transparenter werden – wozu finanzielle Mittel und – ironische Volte – mehr Personal nötig sind.

Auch die Unternehmen und wir als Gesellschaft müssen eine Schlüsselrolle einnehmen. Unsere Grundhaltung gegenüber Migrant*innen muss sich endlich ändern. Denn ohne Offenheit und Abkehr von ideologischen Glaubensgrundsätzen kann Integration nicht gelingen. Wir müssen dafür werben, dass Menschen zu uns kommen möchten und nicht lieber Arbeit anderswo annehmen. Unternehmen sollten umdenken: Fließende Deutschkenntnisse beispielsweise sind weder überall noch am ersten Tag notwendig. Sprache lernt man am besten im Alltag. Aktiv nach Mitarbeitenden zu suchen, auch außerhalb Europas, ist ebenso unerlässlich wie die Unterstützung der Neuankömmlinge und ihrer Familien. Wir müssen alle dafür sorgen, dass sie sich hier heimisch fühlen.

Niemand sagt, dass es leicht ist. Jeder neue Mensch bringt seine eigene Kultur und Erfahrungen mit. Doch langfristig wird sich das für Deutschland nicht nur menschlich auszahlen. Wie unterschiedlich wir auch aussehen, woher wir auch immer stammen, wir sind alle Menschen – und allein darauf kommt es an.

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