
China erstickt Demokratie in Hongkong Wir müssen Taiwan stärken, jetzt


Proteste in Hongkong: Mit dem "Sicherheitsgesetz" untergräbt China bereits die Rechtstaatlichkeit in der ehemaligen britischen Kolonie. Bald könnte eine Attacke Pekings auf Taiwan folgen
Foto: CARLOS BARRIA/ REUTERSSeit Wochen bemüht sich die chinesische Regierung in Hongkong nicht einmal mehr, den Schein zu wahren. Sie lässt politische Gegner verhaften und schert sich nicht um internationale Verträge, die die Freiheitsrechte in der Sonderverwaltungszone garantieren. An Taiwan jedoch, werde sich Peking nicht herantrauen, argumentieren manche Beobachter beschwichtigend. Die Volksrepublik ringe mit den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie und den strukturellen Widersprüchen ihres Wirtschaftssystems. Der Konflikt mit den USA drohe zu eskalieren, und militärisch sei China den Amerikanern immer noch weit unterlegen.
Alles richtig. Und genau das könnten gute Gründe für die chinesische Regierung sein, Taiwan gerade jetzt zu attackieren.

Merics
Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für Sinologie an der Universität Trier mit Schwerpunkt Digitales China, insbesondere digitale Medien. Außerdem ist sie Senior Research Fellow am Mercator Institut für China-Studien (MERICS) in Berlin. Sie analysiert aktuelle China-Themen mit Blick auf innerchinesische Dynamiken und Debatten.
China setzt auf Eskalation
Die Volksrepublik hat in der Tat viele innere Probleme – und daher ein großes Interesse, von diesen abzulenken. Die Beziehungen zu Washington scheinen ohnehin ruiniert, und die technologische und militärische Unterlegenheit ließe sich durch einen wohl durchdachten Plan wettmachen, etwa durch eine Kombination aus Seeblockade, Cyberattacken, Medienmanipulation und einer Landung auf Taiwans Vorinseln. Vor allen Dingen dann, wenn die USA durch die Wahlturbulenzen abgelenkt sind – und auch Europa, allen voran der aktuelle EU-Ratsvorsitzende Deutschland, nichts unternimmt, um China Paroli zu bieten.
Die Lage in den Gewässern rund um Taiwan, das China als abtrünnige Provinz betrachtet, spitzt sich seit Monaten zu. Seit Anfang des Jahres haben sowohl die USA als auch China vermehrt militärische Aktionen durchgeführt. Chinesische Kampfjets dringen immer häufiger und tiefer in den taiwanesischen Luftraum ein. Das Verteidigungsministerium in Taipeh signalisiert Entschlossenheit, die Insel "bis zum letzten Soldaten" zu verteidigen, und zeigte zur Bekräftigung Videos, auf denen der Einsatz von Raketenabwehranlagen und F16-Kampfjets zu erkennen ist, die Taiwan von den USA erworben hat.
Militärexperten warnen, dass durch die gefährliche Gemengelage in der Region die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Zusammenstoßes und damit einer Eskalation des Konflikts steigt. Zu glauben, dass autoritäre Regerungen etwas nicht tun, nur weil es sich das liberale Europa nicht vorstellen kann, ist ein Trugschluss. Das sollte spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland jedem klar sein.
Demokratische Werte verteidigen
Deutschland und Europa hätten Möglichkeiten, China von seinem Vorgehen abzuhalten – und sie sollten sie unbedingt nutzen. Weltpolitisch ist Taiwan wie Hongkong ein Schauplatz für den Wettbewerb der Werte und der auf ihnen beruhenden Ordnungssystemen. Die zunehmend totalitär regierte Volksrepublik will ihre politischen Vorstellungen unter dem Deckmantel angeblicher Effizienz und stabilisierender Sicherheit ihren Nachbarstaaten überstülpen. Selbst wenn es Peking dabei "nur" um die Ausweitung seiner regionalen Machtsphäre gehen sollte, zeigt der Schlag gegen die Hongkonger Demokratie schon jetzt, dass dies für die Idee von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde eine herbe Niederlage wäre.
Im Fall Taiwans kommt noch hinzu, dass die Inselnation trotz ihrer politischen Isolation wertvolle, wegweisende Beiträge zur Handhabung globaler Probleme beisteuert, etwa die kluge und vorbildliche Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Aber sie entwickelt auch inspirierende Lösungen gegen Demokratiedefizite und -müdigkeit und nicht zuletzt auch innovative Technologien, beispielsweise in der Batterie- oder Chipindustrie.
Der Umgang mit Taiwan ist beschämend
Deutschland und andere europäische Länder profitieren von den Vorzügen des dynamischen Inselstaats. Es gibt vielfältige Forschungskooperationen, insbesondere im Bereich erneuerbare Energien und grüne Technologien. Taiwan ist ein offenes Wirtschafts- und Innovationssystem mit Rechtsstaatlichkeit und exzellent ausgebildeten Fachkräften. Aber all dies geschieht nach wie vor ohne offizielle politische Anerkennung und öffentliche internationale Wertschätzung.
Das ist nicht nur beschämend, sondern auch kontraproduktiv: Wäre Taiwan offizielles Mitglied der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hätte die Welt viel schneller und systematischer von den Covid-19-Erfahrungen aus Taiwan lernen können. Stattdessen blieb den Taiwanesen trotz geringer Fallzahlen zunächst die Einreise in die EU verwehrt. Denn die europäischen Staaten wollten das Land nicht anders behandeln als die Volksrepublik, um Pekings nicht zu verärgern. Schließlich hat man sich ja zur "Ein-China-Politik" bekannt.
Dabei ist das Argument, man könne es sich nicht leisten, den "Unmut" der chinesischen Regierung zu erregen, genauso kurzsichtig wie die Behauptung, die deutsche Wirtschaft sei zu abhängig von China, als dass man einen politischen Konflikt riskieren könne. Bei allem notwendigen Realismus: Abhängigkeitsberechnungen verschiedener Ökonomen zeigen klar, dass die Volksrepublik ebenso abhängig ist vom wirtschaftlichen Engagements Deutschlands und Europas in China wie umkehrt. Gerade Unternehmerinnen und Unternehmer wissen nur zu gut, dass Erfolg in China nur durch den Kampf mit harten Bandagen zu erreichen ist. Und machen wir uns nichts vor: Leichter wird es für die deutsche und europäische Wirtschaft in China sowieso nicht.
Was Deutschland jetzt tun muss
Würde Peking deutsche Unternehmen wirklich abstrafen, wenn Berlin die in Ansätzen in Europa schon vorhandene Unterstützung für eine Aufnahme Taiwans in die Weltgesundheitsorganisation weiter vorantreiben würde? Welche Konsequenzen würden Berlin oder Brüssel tatsächlich drohen, wenn hochrangige Politiker – warum nicht gar der europäische und der deutsche Parlamentspräsident gemeinsam? – zum Staatsbesuch nach Taipeh reisten? Die Visite des Senatspräsidenten der tschechischen Republik im August liefert einen ersten Anhaltspunkt: Die chinesische Botschaft habe ihren Unmut geäußert, berichtete Senatspräsident Miloš Vystrčil. Wirtschaftliche Drohgebärden habe es nicht gegeben.
Falls den Verantwortlichen eine solche staatspolitische Geste zu viel ist, es ginge auch eine Nummer kleiner: Statt wiederholt die von Peking propagierte "Ein-China-Politik" zu beschwören, könnten europäische Diplomaten China in puncto "friedliche Lösung" in die Pflicht nehmen. Diese Formulierung ist nämlich ebenfalls Teil der offiziellen Verlautbarungen, die man mit China abgestimmt hat. Falls der Mut noch etwas weiter reicht, sollte das Auswärtige Amt Flagge zeigen und die Flagge Taiwans auf der offiziellen Webseite abbilden. Im Falle Hongkongs hat Berlin kein Problem damit – und Peking offenbar auch nicht.
Solche kleinen Schritte mögen auf den ersten Blick nichtig erscheinen, aber sie helfen, den selbst-hypnotisierenden Nimbus des "Wir können das gegenüber China nicht machen" zu durchbrechen. Und das ist wichtig: Denn wenn Peking mit seiner Kaltschnäuzigkeit durchkommt, nach eigenem Ermessen ständig neue Fakten zu schaffen, wird Europa immer das Nachsehen haben.