
Kassensturz Die teure Illusion von Wohlstand und Frieden


100 Milliarden für die Bundeswehr: Das von Kanzler Olaf Scholz angekündigte Sondervermögen wirkt sich bislang kaum aus
Foto: Reuhl / Fotostand / IMAGOManchmal erkennt man erst im Nachhinein, wie gut vergangene Zeiten tatsächlich waren. Wir stehen am Ende einer außergewöhnlich günstigen Phase. Nun ändern sich einige Rahmenbedingungen fundamental. Das ist nicht unbedingt eine Katastrophe, aber es sind ein paar grundlegende Weichenstellungen erforderlich.
Die vergangenen Jahrzehnte waren geprägt von zwei überlappenden Entwicklungen: der demografischen Dividende seit den 80er-Jahren und dann von der Friedensdividende ab 1990. Die Alterszusammensetzung der Bevölkerung war ausgesprochen günstig – ein Booster für die Produktivkräfte. Und weil es nach dem Ende des Kalten Krieges keine äußere Bedrohung mehr zu geben schien, floss ein immer geringerer Teil der Staatsausgaben ins Militär – und machte Mittel frei für andere Zwecke.
Beide Entwicklungen kommen nun an ein Ende. Die Folgen dieser doppelten Trendwende sind kaum zu überschätzen – für die Wirtschaft insgesamt, direkt aber auch für die öffentlichen Finanzen.
Leere Munitionsdepots, schwindende Waffenbestände
Beginnen wir mit der Friedensdividende. Zu Zeiten der Ost-West-Auseinandersetzung gab der Bund beträchtliche Mittel für Soldaten, Waffen und militärische Einrichtungen aus. Zwischen den 50er und den 80er-Jahren lagen die Verteidigungsausgaben zwischen drei und fünf Prozent der bundesrepublikanischen Wirtschaftsleistung. Ab 1990 ging dieser Anteil rapide zurück. 1992 sanken die Ausgaben unter zwei Prozent. Ab der Jahrtausendwende sackten sie unter 1,5 Prozent. Seither verharren sie auf niedrigem Niveau .
Dass Deutschland "nur noch von Freunden umgeben" sei, wie der frühere Außenminister Klaus Kinkel in den 90er-Jahren formulierte, wurde zur weithin geteilten Gewissheit. Deutschland rüstete ab, egal, welche Parteien gerade regierten. Ob im Kanzleramt Helmut Kohl (CDU), Gerhard Schröder (SPD) oder Angela Merkel (CDU) saß, am generellen Kurs änderte sich nichts: weniger Soldaten, weniger Kasernen und Standorte, immer kleinere Waffen- und Munitionsbestände.
Auch andere westliche Partnerstaaten sparten beim Militär. Aber in den beiden anderen großen westeuropäischen Ländern, Frankreich und Großbritannien, blieb der Wehretat auf deutlich höheren Niveaus, gemessen an der Wirtschaftsleistung. Die deutsche Friedensdividende belaufe sich seit 1990 auf rund 400 Milliarden Euro, rechnet eine gerade erschienene Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vor – trotz eines leichten Anstiegs der Verteidigungsausgaben seit 2019.
Übrigens, das 100-Milliarden-Euro-Paket, von Kanzler Olaf Scholz unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vor knapp einem Jahr angekündigt und inzwischen vom Bundestag beschlossen, wirkt sich bislang kaum aus. Aus dem "Sondervermögen Bundeswehr" sollen im laufenden Jahr lediglich 8,5 Milliarden in die Ausstattung der Streitkräfte fließen, wie der Finanzplan des Bundes ausweist.
Klar, größere Waffenbestellungen dauern, die Ausgaben sollen in den kommenden Jahren sukzessiv steigen. Doch bei Licht besehen, zeichnet sich längst ab, dass die 100 Milliarden Euro bei Weitem nicht reichen werden.
Der Krieg in der Ukraine leert überall im Westen die Waffen- und Munitionsdepots. Bei der runtergesparten Bundeswehr ist der Bedarf besonders groß. Es muss dringend nachproduziert werden, allein um die bisherigen Bestände auffüllen zu können. Es fehlt an Munition, aber auch an Gerät. Er werde sich "mit Nachdruck dahinterklemmen", die 14 Leopard 2-Panzer zu ersetzen, die aus Bundeswehrbeständen an die Ukraine geliefert werden sollen, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius dieser Tage bei einem Truppenbesuch am Standort Augustdorf in Nordrhein-Westfalen. Aber auf die Schnelle gehe das eben nicht.
Um den Bedarf zu decken, müsste die Rüstungsindustrie ihre Kapazitäten rasch ausweiten. Deutsche Waffenproduzenten sind vor allem auf Material für die Luftstreitkräfte spezialisiert, die Ukraine benötigt aber dringend Munition und gepanzerte Fahrzeuge. Dazu kommt: Angesichts der insgesamt zugespitzten geopolitischen Lage, geht an einer Aufrüstung Westeuropas wohl kein Weg vorbei. Die Firmen wiederum werden die Produktion wohl nur hochfahren, wenn sie mit langfristigen Abnahmegarantien seitens der Bundeswehr und anderer Nato-Armeen rechnen können. All das wird enorm teuer.
Schockierende Aussichten
Um die Dimensionen der Militärlücke grob zu beziffern: Der Rückstand der regulären deutschen Wehrausgaben gegenüber dem Niveau Frankreichs beträgt rund 90 Prozent, gemessen an der Wirtschaftsleistung, hat der Kölner Ökonom Hubertus Barth vor einigen Jahren berechnet . Entsprechend müsste der Bund statt der bislang im Bundeshaushalt ("Einzelplan 14") angepeilten 50 Milliarden eher an die 100 Milliarden Euro aufbringen. Der Finanzplan bis 2026 geht allerdings nur von jährlichen Steigerungen um rund drei Milliarden aus. Noch krasser ist die Diskrepanz gegenüber den westdeutschen Wehrausgaben während des Kalten Kriegs: Nimmt man die damaligen Bedingungen zum Maßstab, wären heute Ausgaben von 150 Milliarden Euro nötig. Jahr für Jahr.
Das sind zweifellos schockierende Aussichten – zumal für die Deutschen, eine in weiten Teilen, und aus guten Gründen, pazifisch geprägte Nation. Aber da kein Ende des Ukraine-Krieges und des russischen (und chinesischen) Expansionismus absehbar ist, wäre es fahrlässig, von einer baldigen Rückkehr zum Zustand der vergangenen 30 Jahre auszugehen. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Abermals steigen die sicherheitspolitischen Verbindlichkeiten. Und die müssen irgendwie finanziert werden.
Jenseits des Optimums
Ungünstiger Weise fällt das Ende der Friedensdividende mit einer drastischen Verschärfung der demografischen Entwicklung zusammen. Auch das wird die Wohlstandsmehrung und die Staatsfinanzen belasten – auch die demografische Dividende verkehrt sich in eine Verbindlichkeit.
Grob gesagt genießen Gesellschaften dann besonders günstige Bedingungen, wenn die Geburtenraten zurückgehen, aber die Alterung der Bevölkerung sich noch nicht gravierend auswirkt. In dieser Phase steigt der Anteil der Bürger im aktiven Alter gegenüber den Altersgruppen, die sie mitfinanziert müssen – einerseits Ruheständler, andererseits Kinder und Jugendliche. Gesellschaften können unter den Bedingungen dieser demografischen Dividende rasche Wohlstandssteigerungen erreichen. In China war der Effekt in den vergangenen Jahrzehnten deutlich sichtbar, eine Folge der staatlich erzwungenen Ein-Kind-Politik, die sich nun in ihr Gegenteil verkehrt. Indien ist dabei, in diese dynamische Phase zu gleiten, und könnte in den kommenden Jahrzehnten beachtliche Entwicklungssprünge hinlegen.
In Deutschland liegt das demografische Optimum schon einige Zeit zurück. Das Minimum des "Abhängigkeitsquotienten" – des Anteils der Jungen und Alten in Relation zur Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren – erreichte die Bundesrepublik in den 90er-Jahren. Seither steigt der Abhängigkeitsquotient, aber nur sachte.
In den kommenden zwölf Jahren jedoch wird sich die demografische Situation erheblich verschärfen. Weil die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer, in den 50er- und 60er-Jahren geboren, das Ruhestandsalter erreichen, steigt der Abhängigkeitsquotient rapide. Und zwar weitgehend unabhängig von der weiteren Entwicklung der Geburtenraten, der Zuwanderung und der Lebenserwartung, wie aus Szenariorechnungen des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Derzeit liegt der Wert bei 70 Prozent. Bis Mitte des kommenden Jahrzehnts wird er um zehn bis 15 Prozentpunkte ansteigen.
Absehbar wird der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zum Dauerzustand. Das engt die Entwicklungsmöglichkeiten der Wirtschaft ein. Und es belastet zugleich massiv die Staatsfinanzen. Bremsspuren lassen sich bereits im Bundeshaushalt erkennen. Der Zuschuss zur Rentenversicherung, finanziert aus Steuern und Schulden, steigt. Voriges Jahr waren es 81 Milliarden, 2026 werden es bereits fast 100 Milliarden Euro sein – Tendenz weiter steigend.
Die Rechnung, bitte!
Zusammengenommen stellen die sicherheitspolitischen und die demografischen Aussichten eine enorme Belastung dar. Die politische Debatte umschifft beide Themen bislang, obwohl eine nüchterne Auseinandersetzung nötig wäre. Wie wollen wir mit diesen Herausforderungen umgehen? Hier sind drei mögliche Ansatzpunkte:
Das Ruhestandsalter für gesunde Beschäftigte heraufzusetzen, wäre eine enorme Entlastung. Im Schnitt gehen Werktätige immer noch mit 64 Jahren in Rente, trotz gestiegener Lebenserwartung.
Für die EU insgesamt wäre es viel günstiger, wären die Mitgliedstaaten bereit, ihre Streitkräfte zusammenzulegen und die Rüstungsindustrie zu konsolidieren. Deutschland müsste so oder so mehr fürs Militär ausgeben und die Streitkräfte von lähmender und teurer Bürokratie befreien. Aber die zu erwartenden Effizienzgewinne einer europäischen Lösung wären stattlich.
Insgesamt wird sich in den kommenden Jahren zeigen, dass der Staat an die Grenzen seiner finanziellen Möglichkeiten stößt. Während der Corona- und der noch andauernden Energiekrise hat sich gerade Deutschland der Illusion quasi unbegrenzter öffentlicher Mittel hingegeben. Diese Zeiten gehen zu Ende. Fragen der Effizienz rücken ins Zentrum.
Wie gesagt, auf uns kommt nicht unbedingt eine Katastrophe zu. Aber je länger wir die erforderlichen Weichenstellungen hinauszögern, desto teurer wird’s – und desto gefährlicher wird die Lage.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Montag
London – Winter of Discontent – Streik der Pflegekräfte des britischen Gesundheitsdiensts NHS.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Aurubis, Pinterest.
Dienstag
Frankfurt – Mehr Geld, bitte! – Beginn der Tarifverhandlungen in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie.
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Siemens Energy, BNP Paribas, Banca Monte dei Paschi di Siena, BP, DuPont, Linde, Qiagen.
Mittwoch
Washington – According to Joe – US-Präsident Joe Biden hält seine Ansprache zur Lage der Nation.
München – Auf der Suche nach 1,9 Milliarden – Im Wirecard-Prozess steht die erste Aussage und Befragung des früheren Vorstandschefs Markus Braun an.
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Börse, Vestas, Akzo Nobel, ABN Amro, Totalenergies, Metro, A.P. Moller-Maersk, Walt Disne, Soc Gen, Hannover Rück.
Donnerstag
Brüssel – Spannung! – EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs (bis Freitag). Topthemen: Der Ukraine-Krieg und die Herausforderung durch die US-Green-Tech-Subventionen.
Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Siemens, Delivery Hero, AstraZeneca, L' Oréal, KWS Saat, Unilever, ArcelorMittal, AbbVie, Credit Agricole, Zurich, Legrand, Credit Suisse, Volvo Cars, Pepsico.
Freitag
Peking – Überraschung? – Chinas Statistikamt gibt die Entwicklung der Verbraucherpreise bekannt.