Chinas stark wachsender Rivale "Indien könnte zur neuen Lokomotive der Weltwirtschaft werden"

Mit dem Adani-Absturz rückt Indien ins Rampenlicht der weltweiten Wirtschaftsnachrichten. Doch auch die Großaufträge häufen sich. Indien-Experte Nils Stieglitz weiß, warum das Land als Handelspartner und als Standort für die Industrieproduktion an Attraktivität gewinnt.
Das Interview führte Helmut Reich
Bald das bevölkerungsreichste Land der Welt: Indische Jugendliche, gekleidet in den Nationalfarben

Bald das bevölkerungsreichste Land der Welt: Indische Jugendliche, gekleidet in den Nationalfarben

Foto: NARINDER NANU / AFP

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Noch gilt China als Werkbank des Westens. Doch Industrieländer und Investoren schauen nach neuen Wachstumsmärkten – und stoßen dabei immer häufiger auf Indien. Die staatliche Eisenbahngesellschaft Indian Railways bestellte kürzlich für drei Milliarden Euro 1.200 Lokomotiven bei Siemens Mobility, die indische Airline Air India hat im größten Flugzeug-Deal der Geschichte 250 Jets bei Airbus bestellt und knapp 300 weitere beim US-Rivalen Boeing. Die Reederei Hapag-Lloyd steigt mit 40 Prozent bei einem indischen Terminal- und Transportdienstleister ein. Und Apple plant, einen weiteren Teil seiner iPhone-Produktion nach Indien zu verlegen. Für Nils Stieglitz, Präsident der Frankfurt School of Finance & Management, zeigen diese Meldungen, welche Schlüsselrolle Indien künftig bei der Suche nach neuen Märkten spielen dürfte.

manager magazin: Herr Stieglitz, Indien ist mit 1,4 Milliarden Menschen schon bald das bevölkerungsreichste Land der Welt, steht aber wirtschaftlich klar im Schatten Chinas. Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?

Nils Stieglitz: Die Rolle Indiens als ein maßgeblicher Akteur der Weltwirtschaft wird zunehmend wichtiger. Noch ist die Diskussion zwar stark dominiert durch das Verhältnis des Westens zu China. Doch in Indien hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, das zeigt die aktuelle wirtschaftlich Entwicklung.

An China kommt Indien jedoch noch nicht ran, oder?

Indien ist kaum vergleichbar mit China, abgesehen von der ähnlich großen Bevölkerung. Die Kultur, die Politik und die wirtschaftliche Ausgangslage sind hier völlig anders. Wenn man sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf anschaut, dann liegt China mit mehr als 12.000 Euro klar vor Indien mit gerade mal etwas mehr als 2.000 Euro pro Kopf. Doch die indische Wirtschaft wird weiter gewaltig Fahrt aufnehmen. Bereits 2022 ist Indien an Großbritannien vorbeigezogen als nun fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt und wird zum Ende der Dekade auf Rang drei stehen – da zeigt sich schon das große Potenzial.

Viele westliche Unternehmen vermelden Großaufträge aus Indien. Sind das noch Einzelfälle oder sehen wir hier bereits einen Trend?

Das sind keine Einzelfälle mehr, denn die strukturelle Entwicklung geht genau in diese Richtung. Die Aufträge für Siemens und Airbus zeigen, dass stark in die Infrastruktur investiert wird. Auch das Mobilfunknetz wird weiter ausgebaut und es sind 50 Prozent mehr Autobahnen geplant. Was wir hier erst einmal sehen, ist eine Stärkung des Binnenmarktes, aber auch dieser öffnet sich zunehmend – Indien wird für andere Länder als Industriestandort interessant. Das hat zum einen damit zu tun, dass viele multinationale Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten diversifizieren wollen, zum anderen aber auch damit, dass es Indien in den vergangenen Jahren gelungen ist, die Standortqualität deutlich zu erhöhen. Es greifen also zwei Entwicklungen ineinander, die zu einer neuen Rolle Indiens in der Welt führen werden.

Inwieweit könnte der Absturz der Adani-Gruppe diese Entwicklung gefährden?

Ich sehe hier keine grundsätzlichen Auswirkungen auf die langfristige Entwicklung Indiens und seiner Wirtschaft. Das Land muss aber ein großes Interesse daran haben, die Geschehnisse um die Adani Group und ihre Ursachen transparent aufzuklären. Denn es ist wichtig, das Vertrauen ausländischer Investoren und Firmen in den Standort weiter zu stärken. Der Fall zeigt erneut, dass Politik und Wirtschaft nicht zu eng miteinander verwoben sein sollten.

Wird Indien von der westlichen Welt unterschätzt?

Kaum noch, denn viele Unternehmen haben die Potenziale erkannt. Ökonomisch hat Indien in den vergangenen Jahren seine Hausaufgaben gemacht, unter anderem durch die Einführung eines nationalen Umsatzsteuersystems oder den über die digitale Identität vereinfachten Zugang zu Finanzdienstleistungen. Auch die stark verbreitete Korruption ist auf dem Rückzug, auch wenn das Land im aktuellen Antikorruptionsindex von Transparency International immer noch auf einem unrühmlichen 85. Platz steht . Doch wir sehen hier klare Verbesserungen: War es in der Vergangenheit oft schwierig, in Indien Geschäfte zu machen, wird das gerade einfacher und vorhersehbarer.

"Deutschland ist schon jetzt in Europa das beliebteste Land für indische Studentinnen und Studenten."

Indien schien mit der Fokussierung auf seinen Binnenmarkt lange wirtschaftlich abgeschottet, was würde ein Freihandelsabkommen mit der EU bringen?

Das ist ja eine schon lange andauernde Diskussion, die zuletzt jedoch eine gewisse Dringlichkeit bekommen hat. Die Globalisierung ist aus vielen Gründen unter Druck, doch hier besteht für Indien und Europa die große Chance auf eine Renaissance des Freihandels. Ein entsprechendes Abkommen würde für beide Seiten erhebliche Wohlstandsvorteile bringen. Perfekt ergänzt wäre eine solche Freihandelsvereinbarung übrigens durch ein ebenfalls angedachtes Mobilitätsabkommen, gerade auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Deutschland ist schon jetzt in Europa das beliebteste Land für indische Studentinnen und Studenten, wie wir auch selbst an der Frankfurt School und an unserem Indo-German-Centre for Business Excellence sehen – hier liegt also auch ein großes Potenzial für hiesige Unternehmen.

Was ist politisch von Indien, das kürzlich den Vorsitz der G20 übernommen hat, zu erwarten? Wird die Rolle des Landes im Ukraine-Krieg weiterhin so neutral bleiben können?

Ich bin zwar kein Außenpolitiker, doch die Vorstellung, dass Indien sich in irgendeiner Form einem Block anschließen wird, ist unrealistisch. Historisch hat Indien immer eine friedliche Zwischenposition zwischen Ost und West eingenommen. Und das wird auch in Zukunft so sein – vor dem Hintergrund der starken wirtschaftlichen Entwicklung sogar mit deutlich mehr Selbstbewusstsein. Der IWF sagt für Indien hohe Wachstumsraten von 6,1 Prozent für das laufende Jahr und 6,8 Prozent für 2024 voraus . Damit steht das Land an der Spitze aller großen Länder und scheint auch China zumindest beim Wachstum dauerhaft abzuhängen. Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann könnte Indien zur Lokomotive der Weltwirtschaft werden und diese Rolle von China übernehmen. Insgesamt halte ich das für eine gute Nachricht, denn mit einem stärkeren Indien könnten wir geostrategisch wieder herauskommen aus dem zuletzt vorherrschenden Blockdenken. Mit Indien bekommen wir zudem einen weiteren Akteur auf der Weltkarte, der dazu beitragen kann, globale Herausforderungen wie den Klimawandel erfolgreich anzugehen.

Wie ist Indien denn hier aufgestellt, welches Potenzial haben erneuerbare Energien?

Ein großer Teil der Energieerzeugung in Indien wird immer noch durch Kohle gedeckt. Doch da das Land selbst stark vom Klimawandel betroffen ist, wurden viele Schritte zu mehr Nachhaltigkeit eingeläutet – so ist Indien bereits der weltweit drittgrößte Investor in die Solarenergie. Zudem hat das Land auch den grünen Wasserstoff als Wachstumstreiber identifiziert. Die indische Regierung nimmt das Thema also ernst, denn sie weiß, wenn die wirtschaftliche Entwicklung in Indien weiter so stark verläuft und man dabei weiter auf braune Energie setzen würde, dann könnte das für erhebliche Probleme in der ganzen Welt sorgen. Bemerkenswert ist aber auch, dass Indien ebenso stark auf Atomenergie setzt, dieser Beitrag an der Energieerzeugung wird künftig noch ausgebaut.

"Indien ist zu einem Land der Start-ups geworden und zählt mittlerweile mehr als 100 "Einhörner", also Unternehmen, die eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar haben."

Welche Branchen gehen in Indiens Wirtschaft voran?

In der Industrie tut sich einiges. Während wir in Deutschland über Deindustrialisierung sprechen, rückt Indien hier weltweit in den Blickpunkt. Unternehmen wie Siemens und Bosch sind zwar schon seit Jahrzehnten auch in Indien aktiv, doch das hatte zumeist etwas mit dem Binnenmarkt zu tun. Nun entsteht die qualitativ neue Möglichkeit, dort für den Weltmarkt zu produzieren. Zudem gilt Indien mittlerweile auch als "Apotheke der Welt", besonders in der Produktion von Generika. Und die dritte wichtige Branche sind die IT-Services. Ging es in Indien lange vor allem darum, besonders kostengünstig zu produzieren, spielt mittlerweile Innovation eine wichtige Rolle. So ist Indien zu einem Land der Start-ups geworden und zählt mittlerweile mehr als 100 "Einhörner", also Unternehmen, die eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar haben. Die Zahl zeigt eindrucksvoll, was gerade in diesem Land passiert.

Wenn man an indische Unternehmen denkt, fällt einem sofort Tata ein.

Die Tata Group mit Aktivitäten in 150 Ländern und mehr als 900.000 Mitarbeitern steht natürlich an der Spitze. Fast typisch für Indiens Wirtschaft ist dabei die Struktur eines klassischen Konglomerats. Der wichtigste Teil ist sicherlich die IT-Services und Consulting-Tochter Tata Consultancy, aber auch der Automobilhersteller Tata Motors und das für die weltweite Schwerindustrie bedeutende Unternehmen Tata Steel.

Welche weiteren Konzerne spielen wichtige Rollen für die Wirtschaft des Landes?

Auf jeden Fall Infosys Technologies, ein weiterer IT-Serviceprovider, bei dem wir gerade eine starke Entwicklung hin zu einem innovativen Digitalunternehmen erleben. Aber auch Reliance Industries, ein Mischkonzern mit über 340.000 Mitarbeitern und Hauptgeschäftsfeldern wie Petrochemie und Textilien. Spannend ist auch die Entwicklung von Larsen & Toubro mit mehr als 300.000 Beschäftigten in den klassischen Bereichen Baugewerbe, Maschinenbau und Konstruktion. Entscheidend ist, dass diese Unternehmen nicht nur zunehmend im Ausland aktiv werden, sondern auch weiterhin stark in dem enorm großen indischen Markt agieren. So wollen die genannten Unternehmen und noch eine Handvoll mehr in den kommenden fünf bis acht Jahren zusammen mehr als 250 Milliarden US-Dollar in die indische Wirtschaft investieren. Allein dieses Ausmaß zeigt, wie gigantisch sich die Wettbewerbsfähigkeit der indischen Wirtschaft künftig entwickeln dürfte.

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