
Ein Kontinent in der Polykrise Europa verspielt seine Zukunft


Korrupte EU-Politikerin Kaili: Auch die Steigerung der Krise zur Polykrise lässt die EU achselzuckend vorbeiziehen
Foto:Jalal Morchidi / EPA
Was ist die Steigerung von Krise? Seit einigen Jahren ist das Schlagwort von der "Polykrise" im Umlauf. 2022 ist es in den allgemeinen Sprachgebrauch eingezogen. Es ist mein Wort des Jahres.
Gemessen an dem, was im abgelaufenen Jahr über Europa hereingebrochen ist, waren die vergangenen Jahrzehnte eine Ära der Ruhe, Verlässlichkeit und Langeweile. Man muss schon diverse Generationen zurückdenken, um eine ähnlich heikle Konstellation zu finden. Krieg, Energieknappheit, Inflation, Unsicherheit – und all das kurz nach der großen Pandemie, die uns zeitweise bewegungslos ans Haus gefesselt hat. Nein, es war im Großen und Ganzen kein gutes Jahr. Und ja, es hätte noch schlimmer kommen können, doch es war – und ist – schlimm genug.
Noch vor ein paar Jahren war von "Polykrise" vor allem im Zusammenhang mit Europa die Rede. Die EU war von inneren Rissen durchzogen, die sich anscheinend immer weiter vertieften. Der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker benutzte den Begriff nach dem Brexit-Referendum von 2016 immer wieder . Er sprach damals davon, er führe nun "die Kommission der letzten Chance". Das klang wie: Neustart – oder das Verderben.
Wie wir wissen, blieb der Neustart aus. Irgendwie ging es trotzdem weiter.
Der Berliner Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik definierte die europäische Polykrise als Parallelentwicklung aus "Eurokrise, samt Wachstumsschwäche und zunehmender Ungleichheit, Flüchtlingskrise, dem Austrittsvotum Großbritanniens, einem Erstarken des antieuropäischen Populismus sowie der Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in einzelnen Mitgliedstaaten".
Bald sechs Jahre ist das Zitat alt. Aus heutiger Sicht liest es sich wie eine Erinnerung an gute, alte Zeiten.
Ein Landkrieg mit hunderttausenden Soldaten im Feld
Polykrise heißt jetzt: ein Landkrieg mit hunderttausenden Soldaten im Feld, mit Panzern und Haubitzen, inklusive gezielter Angriffe auf die Zivilbevölkerung und lebenswichtige Infrastruktur, nur 1000 Kilometer von Berlin entfernt; Drohungen mit Atomwaffeneinsatz; gesprengte Pipelines; Cyberangriffe auf westliche Institutionen und Infrastruktur; dazu Inflationsraten, wie sie seit Generationen nicht mehr gemessen wurden; kühle Wohnungen; teure Lebensmittel; ach ja, Covid kursiert nach wie vor, und die Atmosphäre heizt sich weiter auf.
Europa ist herausgefordert wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Entspannung ist nicht in Sicht. Die Aussichten für 2023 sind nicht gerade heiter. Was ist die Steigerung von Polykrise? Selbstaufgabe?
"Europa wird in Krisen geschmiedet" – oder auch nicht
Krisen sind Zeiten, in denen sich einiges bewegen lässt. Denn es wird klar, dass es wie gewohnt nicht weitergeht. Die Gleise, auf denen sich Denken und Handeln bis hierher bewegten, sind zerborsten. Wer nicht der Lage ist, sich neue Pfade in die Zukunft zu ebnen, ist dazu verdammt, bewegungslos und ungeschützt in der Weltgeschichte herumzustehen.
Der Zweite Weltkrieg war so ein Ereignis. Als das Morden zu Ende war, änderte die Geschichte ihre Richtung. Die Westeuropäer dachten neu. Sie malten sich Wege in die Zukunft aus. Und dann fingen sie an, sie zu bauen. Es war die Methode Monnet: kleine Schritte, die sich über die Zeit zu einem langen Pfad aneinanderreihen.
Jean Monnet, eine der Gründungspersönlichkeiten der europäischen Integration und in vielerlei Hinsicht ihr Vordenker, hat einen Satz geschrieben, der seither zum Schatz der europäischen Mythen zählt: "Europa wird in Krisen geschmiedet, und es wird einst die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen ersonnen hat." Daraus nähert sich die Gewissheit, dass jede Krise die Chance in sich birgt, den Raum des Möglichen zu weiten und festgemauerte Widerstände zerbröseln zu lassen.
Die letzten Krisen haben wir Europäer gehörig vergeigt
Ein schöner Gedanke. Es ist nur so: Die letzten großen Krisen haben wir Europäer gehörig vergeigt. Auch die aktuelle Steigerung zur Polykrise scheinen wir achselzuckend an uns vorbeiziehen zu lassen.
Die letzten großen konstitutionellen Weichenstellungen gab es in den frühen 90er Jahren. 1993 wurde der europäische Binnenmarkt eröffnet. Im Vertrag von Maastricht, unterzeichnet 1992, adelte sich die Gemeinschaft zur "Union". 1999 vollzog ein Teil der Mitgliedstaaten den Übergang zur Währungsunion. Es waren Reformen, die nicht von Krisen ausgelöst wurden, sondern von Überzeugungen: Erstens sollte Europa wettbewerbsfähiger werden; dazu musste es die kleinräumigen nationalen Märkte überwinden.
Zweitens gefährdete auf lange Sicht gesehen das große, nun wiedervereinigte Deutschland das Machtgleichgewicht in Europa; deshalb sollte das europäische Institutionsgerüst gestärkt werden. Seither jedoch geht es nur noch in Trippelschritten voran, und manchmal auch rückwärts. Angesichts existenzieller Bedrohungen ist ein Festhalten am Weiter-so extrem risikoreich.
Die Europäer raufen sich zusammen. Aber das reicht nicht
Um nicht missverstanden zu werden: Die EU hat immer wieder bewiesen, dass sie sich zusammenraufen kann, wenn es darauf ankommt. So ist es auch dieses Mal.
In der Euro-Krise haben die Staaten der Währungsunion Kriseninterventionsfonds (EFSF, ESM) eingeführt und schließlich auch die Europäische Zentralbank (EZB) von der Kette gelassen, um ein Auseinanderbrechen des Euroraums zu verhindern. In der Flüchtlingskrise wurden die zwischenzeitlich eingeführten Grenzkontrollen bald wieder abgeschafft, nachdem Angela Merkel und ihr niederländischer Kollege Mark Rutte in der Türkei vorstellig geworden waren, um von Recep Tayyip Erdogan Hilfe beim Schließen der Zuzugswege zu erbitten (und im Gegenzug eine Menge Geld ins Fenster stellten). Anders als befürchtet, folgte kein weiterer Mitgliedstaat Großbritanniens Beispiel. In der Corona-Krise einigten sich die EU-Staaten auf einen 750-Milliarden-Umverteilungstopf ("Next Generation EU"), um ein weiteres ökonomisches Auseinanderdriften der EU zu verhindern.
Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine hat sich die EU im abgelaufenen Jahr bemerkenswert einig gezeigt: Sie ist in der Lage, harte Sanktionen zu verhängen, auch wenn die in vielen Mitgliedsländern erhebliche Kosten verursachen. Die Mitgliedstaaten haben sich gegenseitig pragmatisch bei Energieengpässen unterstützt. Was die Hilfen für Kiew angeht, herrschte zunächst in vielen Ländern peinliche Zurückhaltung. Inzwischen hat die EU ein Unterstützungspaket in Höhe von 18 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Zusammen haben Brüssel und die Mitgliedstaaten mehr Hilfen zugesagt als die USA , wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft ermittelt hat. Spät, aber beachtlich.
Keine Frage, die EU kann sich durch Krisen hangeln. Auf dem Weg Richtung Abgrund hat der Zug bislang immer wieder den Abzweig zur Ausweichstrecke erwischt. Eine absichtliche Auflösung der EU ist keine Option, auch nicht für nationalistisch gestrickte Regierungen wie die in Budapest und Warschau. Schließlich sind die Mitgliedstaaten inzwischen so eng verflochten, dass die Union faktisch unauflösbar ist – jedenfalls nicht zu tragbaren Kosten. Und wie wollten sie allein im globalen Powerplay bestehen? Großbritannien gibt jedenfalls seit dem Brexit-Referendum ein trauriges Bild ab. (Achten Sie auf die Streikwelle in der bevorstehenden Woche.)
Aber das Weiterwursteln im Status-quo-Modus wird nicht ausreichen. Die geostrategische Lage hat sich radikal verändert. Die Polykrise des Jahres 2022 zeigt, wie verletzlich wir sind. Ohne die schnelle und massive Hilfe der USA wäre die Ukraine längst überrannt worden. Womöglich stünden russische Truppen inzwischen in den EU-Mitgliedstaaten des Baltikums, vielleicht in Finnland, vielleicht in Polen. Denn Europa kann sich nicht selbst verteidigen. Obwohl die EU-Staaten plus Großbritannien zusammen an die 300 Milliarden Dollar pro Jahr fürs Militär ausgeben, hängt unsere äußere Sicherheit von der atomaren und sonstigen Schützenhilfe der USA ab.
Wo wir am Ende dieses Jahres stünden, wäre nicht Joe Biden US-Präsident, sondern immer noch Donald Trump, kann man sich leicht ausmalen: Europa in seinen bisherigen Umrissen hätte aufgehört zu existieren. Die Antwort auf die Frage, was die Steigerung von Polykrise ist, hätte dann gelautet: Katastrophe.
Was fehlt, ist der Wille
Es gibt wirklich keine Zeit zu verlieren. Absehbar werden die USA ihre bisherige Präsenz in Europa kaum aufrechterhalten können. Sie sind anderswo gefordert, zumal durch China. Angesichts der geopolitischen Lage, die vom Ringen der Großmächte bestimmt wird, ist der einzig sinnvolle Weg für die EU: nach vorn. Es bräuchte einen neuen Integrationssprung. Im Zentrum stünde dann eine ordentlich legitimierte föderale Ebene – mit eigenem Gemeinschaftshaushalt samt Steuereinnahmen, mit vergemeinschaftetem Militär und konsolidierter Rüstungsindustrie.
Damit ließe sich die EU absichern, nach innen und nach außen. Auch die Währung ließe sich leichter stabilisieren, weil die EZB entlastet würde; sie müsste dann weniger Rücksicht auf hoch verschuldete Mitgliedstaaten, insbesondere Italien, nehmen. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbank und der Eurozone insgesamt würde gestärkt. Wie jeder andere Währungsraum auf dem Globus bekäme Europa eine fiskalische Zentralebene. Das würde vieles erleichtern.
Leider ist der aktuelle Korruptionsskandal um Europaparlamentarier, die sich offenkundig buchstäblich säckeweise Bargeld von ausländischen Regierungen haben zustecken lassen, nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme seitens der Brüsseler Institutionen. Entsprechend wichtig ist eine schonungslose Aufklärung.
Europa hat die Mittel und die Größe, mit den USA und China auf Augenhöhe mitzuspielen. Was fehlt, ist der Wille. Selbst im Polykrisenjahr 2022 ging kein Ruck durch Europa. Genauso wenig wie 2011, als die Eurokrise ihrem Höhepunkt zustrebte und zeitweise das gesamte Integrationsprojekt samt Währung und Binnenmarkt auf dem Spiel stand. Warum eigentlich nicht?
Öffentlich ist das Thema EU-Reform tot
Europa sei eine "polity in the making", ein im Entstehen begriffenes Gemeinwesen, haben Politikwissenschaftler immer wieder konstatiert. Tatsächlich geht es voran. Dreiviertel der Einwohner der EU bezeichnen sich in Umfragen inzwischen als EU-Bürger. Mehr als 60 Prozent sagen, sie fühlten sich der EU emotional zugetan; 90 Prozent sagen das gleiche über ihren jeweiligen Heimatstaat. Was zeigt, dass Europa kein ausschließendes Konzept ist: Nationale und europäische Identität koexistieren friedlich, sogar innerhalb ein und derselben Person. Übrigens: In Ländern mit schrill tönenden Nationalisten an der Regierung, wie Polen und Ungarn, bekennen Dreiviertel der Befragten eine emotionale Nähe zur EU.
Viele Bürger sind durchaus bereit, weitere Kernbereiche staatlicher Souveränität an die EU-Ebene abzugeben, wie eine Eurobarometer-Umfrage im Auftrag der Kommission gezeigt hat: 71 Prozent der Befragten in den Mitgliedstaaten sind für eine gemeinsame Außenpolitik, 77 Prozent für gemeinsame Verteidigung, 78 Prozent für eine gemeinsame Energiepolitik.
Warum also geht es nicht voran? Was fehlt? Nicht zuletzt eine offene europaweite Debatte über mögliche Wege in die Zukunft. Und zwar seit langem.
In einer Studie mit Kollegen des Brüsseler Thinktanks Bruegel haben wir kürzlich analysiert, wie Medien in den drei größten Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Italien seit Beginn des Jahrtausends über Ideen zur Reform der EU berichtet haben. Das Ergebnis ist ernüchternd: Faktisch ist das Thema tot. Dadurch mangelt es an öffentlichem Druck, den schwierigen europäischen Reformprozess voranzubringen – obwohl sich viele Bürger genau das zu wünschen scheinen, weil sie spüren, dass sich all die großen anstehenden Fragen von Frieden, Sicherheit, Wohlstand wenn überhaupt, dann nur in einem engeren EU-Verbund beantworten lassen.
Unsere datengestützte Analyse zeigt, dass die europäische Reformdebatte seit 2005 weitgehend aus der Berichterstattung verschwunden ist. Zuvor hatte Europa noch große Pläne. Ein Konvent erarbeitete eine Verfassung. Das europäische Spitzenpersonal wähnte sich, nach Währungsunion und Osterweiterung, an der Schwelle zur europäischen Staatswerdung. Doch die Bürger in Frankreich und den Niederlanden sagten per Referendum: Nein. In den folgenden Jahren versuchte die EU noch, mittels weiterer Verträge die Arbeitsfähigkeit der Union zu gewährleisten. Doch seither gilt in der europäischen Politik als ausgemacht, dass große Sprünge keine Chance haben.
Allerdings ist seit 2005 eine Menge geschehen. Die Prämissen, unten denen Europa lebt und arbeitet, haben sich radikal verschoben. Immer mal wieder versuchen die Medien, das Thema von sich aus auf die Agenda zu setzen. Aber es verfängt nicht, nicht bei den Lesern, nicht bei Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft. In seiner ersten Amtszeit wagte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch mit ein paar kühnen Plänen für einen Umbau der EU und der Eurozone hervor. Aus Berlin erntete er Schweigen. Daran hat sich wenig geändert, egal, ob nun gerade Polykrise ist oder "Zeitenwende" (Kanzler Olaf Scholz).
Bei allem Krisenmanagement bleiben die Antworten, gemessen an den existenziellen Fragen, mager. Statt großer Sprünge – etwa dem Aufbau einer gemeinsamen atomaren Abschreckung – gibt es kleine Hüpfer.
Ein Kanzler ohne Überschrift
Ende August hielt Scholz in Prag eine Rede . Es sollte um Grundsätzliches gehen – um die großen Weichenstellungen, um die historische Mission Europas und die Frage, was nun geschehen muss, um sie zu erhalten für die Zukunft. Immerhin bekannte sich Scholz zu einem starken Europa, das im weltweiten Kräftemessen auf Augenhöhe mitspielen und die "Herausforderungen von außen" kontern soll.
Der Redetext wurde ohne Überschrift veröffentlicht. Das ist wohl kein Zufall. Denn der Vortrag geriet wieder mal zu einer Ansammlung von Einzelmaßnahmen: von der Chipproduktion über die Migrationspolitik und die Wasserstoffwirtschaft bis hin zur militärischen Luftabwehr. Er forderte die Einführung von EU-Mehrheitsentscheidungen bei Politikfeldern, wo noch Einstimmigkeit im Ministerrat gilt, und zeigte sich offen für Änderungen der europäischen Verträge. Man kann das Pragmatismus nennen. Oder Mutlosigkeit. Hoffentlich haben wir dafür genug Zeit.
Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche
Montag
München – Stimmungstest kurz vor Ultimo – Das Ifo-Institut veröffentlich neue Zahlen zum Geschäftsklimaindex, dem wichtigsten Frühindikator für die deutsche Konjunktur.
Stuttgart/Frankfurt – Turbo-Kapitalismus – Nur wenige Monate nach dem Börsengang des Sportwagenbauers Porsche kommt die Aktie in den Dax, den Index der 40 wichtigsten deutschen öffentlich notierten Unternehmen.
Brüssel – Klar zur Wende? – Treffen der EU-Energieminister. Es geht ums Klima, die Energiewende und den Krieg.
Dienstag
London – Winter of Discontent I – Streik des britischen Klinikpersonals.
Tokio – Außenseiter – Geldpolitische Entscheidung der japanischen Zentralbank: Während die Notenbanken rund um den Globus die Zügel anziehen, hält man sich in Tokio bislang zurück – und die Zinsen extrem niedrig.
Mittwoch
London – Winter of Discontent II – Rettungskräfte und andere Mitarbeiter des britischen Gesundheitsdiensts NHS streiken.
Donnerstag
London – Winter of Discontent III – Die Streikwelle im Königreich reißt nicht ab. Jetzt geht das Sicherheitspersonal des Hochgeschwindigkeitszugs Eurostar in den Ausstand.
Freitag
London – Winter of Discontent IV – Mitarbeiter des Grenzschutzes an britischen Flughäfen streiken.
Samstag
London – Winter of Discontent V – Ausgerechnet Heiligabend: Streik bei der Royal Mail und bei britischen Bahnen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.