Henrik Müller

Unternehmensgewinne und Löhne Die Preistreiber

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Unternehmen stellen in Zeiten hoher Inflationsraten satte Zuschläge in Rechnung. Wachsende Gewinne bei steigenden Preisen sind ein Alarmsignal – vor allem, wenn gleichzeitig die Kaufkraft der Bürger schrumpft.
Gewinne sind kein Selbstzweck, sondern ein Privileg auf Zeit. Hohe Gewinne, sinkende Reallöhne und steigende Preise ergeben eine politisch brisante Gemengelage.

Gewinne sind kein Selbstzweck, sondern ein Privileg auf Zeit. Hohe Gewinne, sinkende Reallöhne und steigende Preise ergeben eine politisch brisante Gemengelage.

Foto: Ann-Marie Utz / dpa

Gewinne gelten als Treibstoff der Marktwirtschaft. Ohne Aussicht auf finanzielle Belohnung im Erfolgsfall wird kaum jemand wirtschaftliche Risiken eingehen – investieren, Neues ausprobieren, Unternehmen gründen und großziehen. Wenn Firmen ordentliche Überschüsse erwirtschaften, ist das erst mal kein Skandal, sondern eine Notwendigkeit. Wer keine oder nur geringe Gewinne macht, weil ihm nichts Neues mehr einfällt, droht vom Markt zu verschwinden oder zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen. Und zwar völlig zurecht.

Gewinne sind kein Selbstzweck. Sie sind auch kein eigentliches Ziel des Wirtschaftens. Sie sind ein Mittel, um übergeordnete Ziele zu erreichen: den gesellschaftlichen Wohlstand in einem umfassenden Sinn zu mehren, die freiheitliche Selbstentfaltung der Bürger zu fördern und vieles mehr. Demokratische Marktwirtschaften können sich in dieser Hinsicht sehen lassen. Es gibt (bislang) kein anderes System, das über lange Zeiträume hinweg produktiver und stabiler wäre, aller wiederkehrenden Krisen zum Trotz. Nirgends ist die Lebenserwartung länger und die Lebenszufriedenheit höher als in westlich geprägten Marktdemokratien.

Doch damit sich individuelle Gewinne in kollektiven Wohlstand übersetzen, müssen sie immer wieder aufs Neue erarbeitet werden. Es braucht Wettbewerb, damit ambitionierte Newcomer die Vorsprünge von Unternehmen mit starken Marktpositionen infrage stellen können. Konkurrenz vermehrt das Angebot, erhöht die Löhne und senkt die Preise, sodass Gesellschaften in der Breite profitieren.

Umgekehrt gilt: Dauerhaft hohe Gewinne bei steigenden Preisen sind ein Alarmsignal, eine geradezu wohlstandsfeindliche Kombination, die anzeigt, dass irgendetwas nicht stimmt im marktwirtschaftlichen System – ein Fall für Wettbewerbsbehörden oder Notenbanken, oder beide.

Eine politisch brisante Gemengelage

Damit sind wir in der Gegenwart. Seit rund anderthalb Jahren erlebt Europa den heftigsten Preisanstieg seit Generationen, während parallel dazu viele große Unternehmen rekordverdächtige Gewinne eingefahren haben. Die Konzerne, die im deutschen Aktienindex Dax zusammengefasst sind, haben 2021 und 2022 Spitzenergebnisse eingefahren, wie die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY vorgerechnet hat .

Währenddessen sind die Löhne der Beschäftigten voriges Jahr im Schnitt um 3,5 Prozent gestiegen, deutlich langsamer als die Konsumentenpreise. Real, also nach Abzug der Inflation, lagen sie um 3,1 Prozent niedriger als im Jahr zuvor, so das Statistische Bundesamt. Und dabei waren die Reallöhne bereits in den Corona-Krisenjahren 2020 und 2021 gesunken.

Im Schnitt waren die Unternehmen in der Lage, steigende Energie-, Rohstoff- und Arbeitskosten auf die Preise umzulegen. Mehr noch: Quer durch die Branchen haben sich viele auch noch ordentliche Zuschläge genehmigt – und damit ihre Betriebsüberschüsse hochgetrieben, wie Joachim Ragnitz vom Wirtschaftsforschungsinstitut ifo feststellt . Die Dynamik habe sich zwar im letzten Quartal 2022 etwas abgeschwächt, aber die Preisanstiege seien immer noch beträchtlich gewesen.

Hohe Gewinne, sinkende Reallöhne, steigende Preise – das ergibt eine politisch brisante Gemengelage.

Die Preis-Lohn-Spirale und die Schuldfrage

Das Phänomen der Gewinnmitnahmen ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Es zeigt sich auch anderswo in der Eurozone. Isabel Schnabel (51), Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB),  konstatierte bereits im vorigen Jahr , dass Preiszuschläge der Unternehmen für die Inflation in der Eurozone mitverantwortlich seien. Kürzlich haben EZB-Ökonomen in einem Blogbeitrag  nachgelegt und vorgerechnet, dass die Firmen 2022 mehr zur Verselbständigung der Inflation in der Eurozone beigetragen hätten als die Lohnforderungen von Beschäftigten und Gewerkschaften – ein klarer Trendbruch gegenüber den vergangenen anderthalb Jahrzehnten.

Für Deutschland isoliert betrachtet zeigen die volkswirtschaftlichen Rechenwerke zwar bislang keine massive Umverteilung zugunsten der Gewinne an. Aber das kann sich rasch ändern. Fachleute verweisen darauf, dass gesamtwirtschaftliche Verteilungsindikatoren am aktuellen Rand stets mit großer Unsicherheit behaftet sind und typischerweise im Nachhinein erheblich korrigiert werden.

In jedem Fall gehen die üblichen Warnungen vor einer "Lohn-Preis-Spirale" an der Realität vorbei. In Wirklichkeit erleben wir in der Eurozone eine Preis-Lohn-Spirale: Die Firmen erhöhen Preise (und Gewinne); mit Zeitverzögerung versuchen Beschäftigte und Gewerkschaften, den Kaufkraftschwund zu stoppen, was ihnen bislang nicht gelungen ist.

Es stellen sich zwei Fragen: Woher rührt die Preistreiberei? Und was lässt sich dagegen tun?

Covid, Krieg und Panik

Verantwortlich für die forschen Preisforderungen ist einerseits die makroökomische Großwetterlage. Andererseits haben Covid und Krieg Verschiebungen angestoßen, die die Wirtschaftsstrukturen verändert haben – vermutlich auf Dauer. (Achten Sie auf die industriepolitischen Debatten auf der Hannover Messe ab Montag.)

Beginnen wir mit der Makrolage: Nachdem vor drei Jahren die Corona-Pandemie ausgebrochen war, fluteten Notenbanken und Regierungen beiderseits des Atlantiks die Gesellschaften mit Geld. Beispiellose Konjunkturprogramme, die dem Absturz ins Bodenlose entgegenwirken sollten.

Die Überwindung des Panikmodus zu Beginn der Pandemie gelang ziemlich gut. Als dann jedoch das Vertrauen in die Wirtschaftslage zurückkehrte, die Shutdowns gelockert wurden und die Bürger wieder Geld ausgaben, entfaltete sich ein massiver Nachfrageschock. Die durch Staatsgelder aufgepumpten Konsumwünsche stießen auf ein Angebot, das durch Lieferengpässe und verbleibende Alltagsbeschränkungen immer noch eingeschränkt war. Wenig überraschend, dass die Preise stiegen und Firmen, die liefern konnten, ihre Margen erhöhten. In Europa halfen außerdem großzügige Kurzarbeitsprogramme, die es den Unternehmen zeitweise erlaubten, ihre Personalkosten massiv zu senken und niedrigeren Umsätzen anzupassen. Ohne diese staatlichen Maßnahmen wäre das Gewinnplus von 2021 kaum möglich gewesen.

Dass die Gewinninflation 2022 anhielt, liegt maßgeblich am späten Gegensteuern der Notenbanken. Die EZB und die Washingtoner Federal Reserve verließen sich zu lange darauf, dass die Preisdynamik schon von allein nachlassen werde, wenn erst die covidbedingten Lieferengpässe beseitigt seien. Anstatt frühzeitig gegenzuhalten, agierten sie lange passiv. Das rächt sich jetzt: Nach langen Jahren relativer Stabilität sind die Inflationsraten seit Herbst 2021 weit über die Zielnorm von 2 Prozent jährlich hinausgeschossen und längst noch nicht wieder gefallen, auch wenn Fed und EZB seit vorigem Jahr immer fester auf die Bremse drücken und die Zinsen anheben.

Auch die Preiserwartungen für die weitere Zukunft sind aus dem Ruder gelaufen. In einer solchen Situation akzeptieren Kunden Preiserhöhungen eher, wobei Unsicherheit darüber herrscht, wie viel Zuschlag eigentlich angemessen wäre. Eine Gelegenheit, die sich viele Firmen nicht entgehen ließen.

Wettbewerbshüter gegen "Gierflation"?

Man kann solche inflationstreibenden Mitnahmeeffekte moralisch verwerflich finden. In den USA kursiert schon seit einiger Zeit der Vorwurf der "Greedflation" (Gierflation). Ich fürchte allerdings, dass Maßhalteappelle im gegenwärtigen Umfeld wenig nützen: Unternehmen, die sich mit Preiserhöhungen zurückhalten, geraten leicht ins Hintertreffen, wenn nämlich Konkurrenten fette Margen einfahren, Finanzpolster anlegen und sich dadurch Vorteile verschaffen. An einer verlässlich strikten Geldpolitik durch die Notenbanken wird kein Weg vorbeiführen.

Die Unternehmenssteuern zu erhöhen, um "Übergewinne" abzuschöpfen, wäre jedenfalls ein sehr grober wirtschaftspolitischer Eingriff. Zumal sich kaum objektiv festlegen lässt, wieviel Überschuss jeweils angemessen wäre. Besser wäre es, die Firmen würden ihre Gewinne nutzen, um in neue Kapazitäten und Technologien zu investieren – also in Angebotsausweitungen, die wiederum preisdämpfend wirken, wenigstens mittel- bis langfristig.

Gefordert sind auch die Wettbewerbsbehörden in Brüssel, Bonn, Washington und anderswo. In den vergangenen Jahrzehnten war ihr Job relativ entspannt: Die Globalisierung und die europäische Integration erhöhten den Wettbewerbsdruck. Einst dominierende Machtpositionen auf engen nationalen Märkten wurden geschleift. Ein schier unendliches globales Güterangebot stand bereit und drückte auf die Preise. Forsche Lohnforderungen der Beschäftigten konterten Konzerne gern mit der Drohung, dann doch lieber Aktivitäten ins Ausland zu verlagern.

Dieses Umfeld existiert nicht mehr. Die noch vor wenigen Jahren offenen, grenzenlosen Märkte werden zunehmend durchzogen von Blockgrenzen. Die USA reden von einer "Entkopplung" ("de-coupling") von China, nicht nur bei Hochtechnologie und kritischen Rohstoffen. Amerikanische Firmen sollten lieber bei Freunden einkaufen ("friend-shoring"), meint Finanzministerin Janet Yellen (76) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (64) spricht feiner von einem "de-risking" der Wirtschaftsverbindungen. Unter dem Strich läuft es auf Ähnliches hinaus: weniger intensiver, über die Kontinente übergreifender Austausch, mehr Produktion an teureren Standorten, weniger Wettbewerbsdruck. China seinerseits drangsaliert ausländische Investoren, zumal Mittelständler ohne enge Drähte in westliche Regierungskreise.

Derlei politisch motivierter Protektionismus erhöht potenziell die Marktmacht in nun wieder engeren Märkten. Die Wettbewerbshüter sollten gegenhalten, um die Segnungen der gewinnorientierten Wirtschaft zu erhalten.

Dazu kommt auch noch die Demografie: In alternden Gesellschaften werden Arbeitskräfte immer knapper. Entsprechend steigt der Spielraum für Lohnerhöhungen. Steigende Arbeitskosten, die sich in einem Umfeld straffer Geldpolitik und konsequenter Wettbewerbspolitik nicht so einfach auf die Preise umlegen lassen, dürften die Firmenüberschüsse auf Sicht schrumpfen lassen.

Wie gesagt, Gewinne sind kein Selbstzweck, sondern ein Privileg auf Zeit. Vor allem sind sie keine letztliche Zielgröße des Wirtschaftens: Sie sind das, was am Ende übrigbleibt. Firmen sollten sie sinnvoll nutzen – solange sie fließen.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Montag

Hannover – Zwischen De-Coupling und De-Risking – Beginn der Hannover Messe (bis Freitag). Die exportstarke deutsche Industrie agiert in einem radikal veränderten geopolitischen Umfeld. Insbesondere die Zukunft des Chinageschäfts bereitet den Firmen Kopfzerbrechen.

München – Build better – Beginn der Messe Bau 223 (bis Samstag). Es geht um Innovationen am Bau, Wohnungsnot, Nachhaltigkeit, Fachkräftemangel…

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Faurecia, State Street.

Dienstag

Shanghai – Das große Surren – Auftakt zur internationalen Automesse "Auto Shanghai 2023". Zentrale Frage: Wie stark sind Chinas E-Auto-Produzenten, die auch nach Europa drängen?

Peking – Dynamik, geplant – Chinas Statistikamt gibt Zahlen zum Wirtschaftswachstum im ersten Quartal bekannt. Positive Außenhandelszahlen in der abgelaufenen Woche deuten auf eine rapide Wiederbelebung der Wirtschaft nach dem Ende der langen Corona-Beschränkungen an.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Ericsson, Easyjet, Lockheed Martin, Bank of New York Mellon, Bank of America, Goldman Sachs, Johnson & Johnson, Netflix.

Mittwoch

Luxemburg – Wenn mehr nicht besser ist – Die EU-Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht neue Zahlen zur Inflation.

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Fresenius, Fresenius Medical Care, L' Oréal, Heineken, Just Eat, Tesla, Morgan Stanley, Ally Financial, U.S. Bancorp, IBM, Abbott Laboratories, Alcoa.

Donnerstag

Berlin – Entrepreneure vor der Ampel – Start der "Familienunternehmertage", mit Politpromis Scholz, Habeck, Lindner.

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von EssilorLuxottica, Nokia, Sartorius Stedim Biotech, Volvo AB, Rio Tinto, American Express, Blackstone, AT&T, Philip Morris.

Freitag

Berichtssaison V – Geschäftszahlen von SAP, Vontobel, Investor, BB Biotech, Schlumberger, Procter & Gamble.

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