Vor dem Jahreswechsel Die kritischen 2020er Jahre

EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel: Die europäische Identität könnte in den Zwanzigerjahren konkretere Formen annehmen
Foto: Alain JOCARD/ AFPAls das vorvorletzte Jahrzehnt begann, war gerade die Mauer gefallen. Es war offensichtlich, dass große Veränderungen in der Luft lagen. Und tatsächlich brachten die 90er Jahre tiefe Umwälzungen: deutsche Einheit, die Globalisierung, die Popularisierung des Internets.
Als das vorletzte Jahrzehnt begann, stand sogar ein neues Jahrtausend bevor. Viele Hoffnungen verbanden sich damit: Eine "New Economy" versprach sagenhafte Produktivitätszuwächse; dass China und andere diktatorische Staaten sich öffnen und demokratisieren würden, galt als wahrscheinlich. Tatsächlich wurden die 2000er Jahre eine Dekade, die für die Terroranschläge des 11. September 2001, den größten Finanzcrash (2008) seit Generationen und den deutschen Blues im Gedächtnis bleiben wird.
Als das letzte Jahrzehnt begann, herrschte tiefer Pessimismus. Die große Rezession nach dem Crash war noch nicht überwunden. In Europa schwelte bereits die Euro-Krise, die dann ein Jahrfünft lang den Kontinent und den Rest der Finanzwelt in Atem halten sollte. Was 2010 kaum jemand kommen sah: Smartphones und Social Media haben die Art und Weise, wie Gesellschaften kommunizieren und sich organisieren, grundlegend verändern. Deshalb wurden die Zehnerjahre das Jahrzehnt der Sozialen Bewegungen (vom Arabischen Frühling bis Fridays for Future), des Populismus und der Auflösung klassischer Parteien. Politik ist flüssig und erratisch geworden.
Mittwoch beginnt ein neues Jahrzehnt. Was werden die Zwanzigerjahre bringen?
Gehen Sie mit der Konjunktur
Für den Beginn des neuen Jahrzehnts zeichnen sich keine dramatischen wirtschaftlichen Umschwünge ab. Die aktuellen Konjunkturprognosen und Indikatoren deuten auf eine gewisse Entspannung hin. Der Handelskrieg zwischen den USA und China, der 2018/19 die Welt in Atem gehalten hatte, scheint abzuflauen. Die Gefahr eines harten Brexit ist, vorerst, gebannt.
Dennoch bleibt ein gehöriges politisches Unsicherheitsmoment. So könnte sich im US-Wahljahr 2020 der Handelskonflikt zwischen den USA und der EU erneut zuspitzen. Aber immerhin: Derzeit sieht es so aus, als ob der große merkantilistische Schlagabtausch abgesagt wäre. Das könnte gerade der bedrängten deutschen Industrie helfen, deren Produktion zuletzt geschrumpft ist und die mitten in einem tiefgreifenden Strukturwandel steckt. Ansonsten bleibt die Beschäftigung in Deutschland hoch; die Löhne steigen; die Konsumnachfrage und die Bauwirtschaft stabilisieren die Konjunktur.
Klar ist aber auch: Die nächste große Rezession, wann auch immer sie kommen mag, könnte ziemlich ungemütlich werden. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Unternehmen hoch, während die Notenbanken die Zinsen kaum noch senken können. Eine erneute Finanzkrise könnte rund um den Globus eine ganze Reihe von Pleiten nach sich ziehen. Allerdings muss diese Entwicklung keineswegs im "größten Crash aller Zeiten" oder gar einem "Weltsystemcrash" enden, um zwei derzeit populäre Buchtitel zu zitieren. Untergangspropheten sind selten gute Ratgeber.
Welche Themen also werden uns in den Zwanzigerjahren beschäftigen?
Absehbar werden im kommenden Jahrzehnt drei Fragen oben auf der Agenda stehen: Was können wir tun, um mehr Zuwanderer nach Deutschland zu locken? Wie können wir mit dem Klimawandel leben lernen? Und: Wieviel Europa steckt in uns allen?
Wettbewerb um Zuwanderer (und Roboter)
In den 2020ern werden die großen Jahrgänge der in den 50er und 60er Jahren Geborenen allmählich in den Ruhestand gehen. Dadurch verschiebt sich die Zusammensetzung der westlichen Gesellschaften grundlegend. Ein rasch steigender Anteil Älterer muss von einer perspektivisch schrumpfenden Zahl von Beschäftigten mitgetragen werden. Was in den vergangenen Jahrzehnten ganz allmählich vonstatten ging, dürfte sich in Zukunft enorm beschleunigen.
Da diese Entwicklung nicht nur Deutschland, sondern viele westliche Länder in ähnlicher Weise trifft, wird es einen verstärkten internationalen Wettbewerb um qualifizierte Zuwanderer geben. Die Bekämpfung des Arbeitskräftemangels wird ein Thema mit Toppriorität werden.
Da es immer weniger Länder mit nennenswerten Geburtenüberschüssen gibt, werden sich viele westliche Staaten auf jene noch wachsenden Gesellschaften konzentrieren, die über ausgebaute Bildungssysteme verfügen, was eine rasche Integration hierzulande begünstigt. Dies trifft insbesondere auf Indien sowie auf einige lateinamerikanische Länder zu.
Angesichts anhaltender Knappheiten auf dem Arbeitsmarkt dürfte auch die Roboterisierung zunehmen. Was immer sich automatisieren lässt, dürfte maschinell bearbeitet werden. Eine Entwicklung, die für die Zukunft enorme Produktivitätszuwächse - und womöglich auch deutlich steigende Löhne - verspricht.
Mit dem Klimawandel leben
Die Erwärmung der Erdatmosphäre wird sich bestenfalls bremsen, nicht aber umkehren lassen. So frustrierend dieser Befund gerade aus Sicht der jungen Generation sein mag, die globale politökonomische Dynamik, die sich 2019 auch wieder bei der gescheiterten Klimakonferenz von Madrid gezeigt hat, spricht dagegen, dass sich der CO2-Ausstoß rasch und drastisch verringern lässt.
Entsprechend wird es mehr und mehr darum gehen, die Folgen des Klimawandels zu managen. Deiche zu erhöhen und Sperrwerke zu verstärken ist für reiche Küstenstaaten eine Daueraufgabe. Wo dies nicht möglich ist, müssen künftig Siedlungen, kritische Infrastruktur und womöglich ganze Städte verlegt werden; Indonesien plant bereits eine neue Hauptstadt im Landesinneren.
Die Palette möglicher Maßnahmen ist groß. Sie reicht von der Entwicklung neuer Nutzpflanzen und Anbaumethoden, die steigende Temperaturen und unregelmäßigere Niederschläge besser vertragen, über die Schaffung von Kühlangeboten für Metropolenbewohner in Entwicklungsländern, die zeitweise extremer Hitze ausgesetzt sind, bis zur Entwicklung neuer Technologien, mit denen sich der Atmosphäre CO2 entziehen lässt.
Parallel dazu dürfte sich der Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen, einfach weil sich damit deutlich billiger Strom produzieren lässt als mit herkömmlichen Methoden.
Wer ist Europa?
Vielleicht war die überraschendste Erkenntnis des zu Ende gehenden Jahrzehnts diese: Europa ist enorm widerstandsfähig. In den Zehnerjahren haben wir die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise, die Brexit-Hängepartie und noch einige andere Kalamitäten überstanden. Doch anders als von vielen Untergangspropheten vorhergesagt, existieren die EU und die Euro-Zone immer noch. Womöglich lässt sich aus dieser Erfahrung für die Zukunft schöpfen.
Im kommenden Jahrzehnt wird Europa deutlich enger zusammenwachsen müssen, um in einer Welt der Großmächte bestehen zu können. Die EU braucht im Innern finanzielle Ausgleichsmechanismen und nach außen ein ernstzunehmendes Militär.
Bislang scheitert eine verstärkte Integration an der schwachen Legitimierung der Gemeinschaftsebene. Wenn weitere Kernbereiche der Staatlichkeit auf die EU übertragen werden sollen, braucht es eine stärkere Demokratisierung: ein Parlament, das die Bürger Europas gleichmäßiger repräsentiert, sowie eine grenzüberschreitende Öffentlichkeit, in der politische Prioritäten und mögliche Lösungen verhandelt werden.
Letztlich geht es deshalb auch um die Frage der Identität: Was bedeutet es, Europäer zu sein?
Die Zehnerjahre haben ein Erstarken des nationalen Moments gebracht. In den Zwanzigerjahren wird der Druck von außen so groß werden, dass eine europäische Identität konkretere Formen annehmen kann.
Wegen der Feiertage erscheint "Müllers Memo" diese Woche ohne Terminkalender.