
Zeitenwende Gestandene Industrie plündert das Silicon Valley
Kalifornien/USA - General Motors durchkämmt Kalifornien nach IT-Leuten. Der Mischkonzern General Electric heuert zahlreiche Systemarchitekten und Datenspezialisten im Silicon Valley an. Auch Wal-Mart, Amerikas größter Retailer, bedient sich in Kaliforniens IT-Schmieden. Und das Ziel der Begierde der Wal-Mart-Manager steht stellvertretend für einen neuen Trend.
Die Retail-Kette mit ihren 4000 US-Läden ist fieberhaft auf der Jagd nach Software-Ingenieuren und kauft zudem Start-Ups, um die E-Commerce-Sparte gegen wachsende Konkurrenz von Amazon zu positionieren. Dafür sollen auch in Windeseile die nötigen Suchfunktionen und Apps gestrickt werden. Ganz klar: Gestandene US-Firmen aus der "old Economy" und deren internationale Mitstreiter haben begonnen, die Talentschmieden des Silicon Valley zu plündern. Nie war der Run so groß wie derzeit - doch warum?
Hinter der groß angelegten Headhunting-Attacke auf Amerikas Tech-Mekka stehen im wesentlichen drei große Trends: Der Siegeszug der Software in der Industrie ist einer. Große Datenberge, die für neue Geschäftsideen ausgebeutet werden sollen, ist der zweite. Und schließlich: Die Vernetzung industrieller Geräte und Maschinen mit dem Internet. Das ist ein Megatrend, den General Electric in einer viel beachteten Konferenz kürzlich als das "industrial Internet" bezeichnete.
General-Electric-Chef Jeff Immelt nennt ein Beispiel für diese Entwicklung, die sich von Triebwerken über medizinische Scanner bis hin zu Kraftwerken erstreckt : "Wir warten Tausende von Triebwerken jeden Tag, aber unsere Techniker wissen erst nach der Landung des entsprechenden Flugzeugs, was zu tun ist - in der Zukunft wird das digital ablaufen, wenn der Flieger landet, sind wir schon voll im Bilde."
Datenberge werden zu Goldminen
Der vielleicht größte Treiber ist die explosive Ausbreitung der Software für inzwischen fast sämtliche industriellen Anwendungen. Software macht derzeit rund ein Viertel aller privaten Anlageinvestitionen von US-Firmen aus, sagt der Erfolgsautor Bret Swanson, von dem die Analyse "Soft Power" stammt. Mehr noch: Die Zahl der Apps, die effizienzsteigernde Anwendungen mit industriellen Maschinen erlauben oder nützliche Funktionen mit Mobilgeräten wie Smartphones und Tablets bieten, ist binnen weniger Jahre weltweit von nahezu Null auf 60 Milliarden Dollar gestiegen, sagt Swanson.
Unternehmen, die wissen wollten wie ihre Kunden die verkauften Geräte einsetzen, mussten sich bis vor Kurzem auf Meinungsforscher und Analysefirmen verlassen. Hierfür wurden Befragungen unter ausgewählten Kunden durchgeführt. Doch immer mehr langlebige Konsumgüter und Kommunikationsgeräte erfassen Benutzungsdaten und geben sie an die Hersteller zurück.
Große Datenberge türmen sich auf, die wie eine Goldmine ausgebeutet und für neue Anwendungen genutzt werden können. Pkw, deren Scheibenwischer bei einsetzendem Regen automatisch angehen, können einer Datenzentrale Informationen liefern, die sich zu Wetteranalysen bündeln und verkaufen lassen - zum Beispiel für Sportflieger, Flughäfen oder Landwirte. Das Internet und die Datenspeicher von Herstellern sind voll von Daten: Marketingkanäle, elektronische Bezahlsysteme, Smartphones, Kundenplattformen im Internet sind nur einige davon.
"Software frisst die Welt auf"
Sie alle liefern wichtige Hinweise, die sich auswerten lassen. So kann das Energiemanagement industrieller Gebäude verbessert werden, oder der Betrieb einer Bohrplattform. In den USA will die National Highway Traffic Safety Administration bis zum September 2014 flächendeckend in allen neuen Pkw "schwarze Boxen" wie in den Flugzeugen einführen. Die Kontrollinstrumente werden bis zu 80 Funktionen auswerten. Das erlaubt nach Unfällen einem Richter im Streitfall nicht nur festzustellen, ob ein Fahrer wirklich angeschnallt war, oder ob er frühzeitig gebremst hat.
Für die Autofirmen tun sich hier Fundgruben für Verbesserungen und Kundenwerbung auf. Facebook sammelt täglich bis zu 2,7 Milliarden "Likes" und 300 Millionen Photos. Das sind Informationen, die sich für Werbezwecke nutzen lassen. Ein weiteres Beispiel: Immer mehr US-Städte setzen in öffentlichen Bussen Mikrofone und Kameras ein. Zur Sicherheit der Fahrgäste, wie betont wird - aber ein entscheidender Aspekt des Ganzen verheimlicht wird. Was das ist zeigen Städte wie San Francisco, Baltimore oder Athens in Georgia.
Dort platzieren die Busgesellschaften je Bus drei Mikrofone und sechs bis acht Kameras. Dabei entstehen in der Tat Mitschnitte, die gegebenenfalls einmal bei Gericht in einem Verfahren verwendet werden können. Aber die Anlagen dienen jeden Tag auch zur Auswertung für Anzeigen, die sich auf bestimmten Buslinien am besten verkaufen lassen. Von der Schuhmode über Krawattenfarben bis hin zu den beliebtesten Fast Food-Gerichten lässt sich alles auswerten. Und das ist nur ein Beispiel. Weitere gefällig?
Die Audio-Systeme in Bussen lassen sich zum Beispiel mit Ticketverkäufen, GPS und der Benutzung von Handys abstimmen. Für Datenschützer ein Albtraum, für Marketingexperten die sich mit Datentechnikern zusammen raufen, sind das Schatzinseln. Aber die immensen Datenberge müssen erst einmal ausgewertet werden. Und dafür braucht man industrieerfahrene Spezialisten.
Höheres Entwicklungstempo, mehr Kundenorientierung
"Software frisst die Welt auf", sagt Hewlett-Packard-Aufsichtsrat und Netscape-Mitbegründer Marc Andreessen. Er ist ein Multimillionär, der die eskalierende Jagd auf Softwareingenieure aus nächster Nähe beobachten kann. Andreessen verweist darauf, dass der größte Buchhändler, der größte Videoverleiher, das am schnellsten wachsende Unterhaltungs-Unternehmen sowie die führende Direktmarketingplattform der Welt - Google - allesamt Software-Konzerne sind.
"Ungefähr 50 Prozent unserer IT-Aufgaben wurden bis vor Kurzem von Mitarbeitern anderer Unternehmen erledigt", erklärt GE-Chief Information Officer Cherlene Begley, "das hatte was für sich, aber es hatte auch viele Nachteile, wir haben viel technische Kapazitäten verloren, die wir kontrollieren sollten." GE hat um Abhilfe zu schaffen im Großraum San Francisco ein eigenes Softwarebüro eröffnet und investiert in viel versprechende Start-Up-Firmen. Die Investition umfasst eine Milliarde Dollar für 400 Softwareexperten, die innovative Programmierungen für immer smartere Geräte entwicklen sollen.
Wal-Mart hat im April 2011 sein eigenes Software-Labor im Silicon Valley eröffnet. Die Belegschaft ist seitdem von 50 auf 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen. Das Umsatzziel des weltweit größten Retailers wurde für den E-Commerce-Bereich für 2013 auf neun Milliarden Dollar veranschlagt. Amazon, der unbestritten größte Online-Händler, macht inzwischen mehr als 13 Milliarden Dollar Umsatz pro Quartal.
Doppelte Entwicklungsgeschwindigkeit angepeilt
Randy Mott, der neue Chief Information Officer bei General Motors, will bis zu 10.000 IT-Leute einstellen und in den USA vier Software-Innovationszentren aufbauen. "Das Outsourcing-Modell bei GM für IT war teuer, wenig effizient, und hat sich überholt", urteilt CEO Dan Akerson. Was er jetzt will, ist ganz simpel ausgedrückt mehr Tempo bei der Entwicklung und ein besserer Zuschnitt der Technologie auf Kundenwünsche.
"Wenn man Arbeit nach draußen vergibt", erklärt Akerson, "will man die Kosten für etwas senken, das gleich bleibt, aber wir wollen uns jetzt nach vorne bewegen." Angepeilt wird doppelte Entwicklungsgeschwindigkeit für neue IT-Anwendungen. Der Hintergrund ist die revolutionäre Ausbreitung von Software in den Fahrzeugen.
Diese Trends haben die Jagd auf Talente im Silicon Valley derart verschärft, dass Finanzinvestoren wie Bain ganze Start-Up-Akademien hochziehen, um sogar schon in den Unis die Talentiertesten an sich zu binden. Der Milliardär und Finanzinvestor Peter Thiel bietet Studenten Stipendien von 100.000 Dollar, damit sie zwei Jahr Pause vom Büffeln machen und sich in jungen Firmen engagieren. Am meisten gesucht sind Softwareentwickler, Business-Analysten, Projektmanager und Qualitätstester.