Nobelpreisträger Stiglitz "Ein Gang am Rande des Abgrunds"

Austeritätskritiker: Joseph Stiglitz hält nichts vom europäischen Spardiktat
Foto: DPAmm: Professor Stiglitz, die neue Geldschwemme, mit der Fed-Chef Ben Bernanke den US-Konsum ankurbeln und die Arbeitslosigkeit senken will, ist nicht nur bei den Republikanern umstritten. Haben Sie Hoffung, dass der geplante Ankauf hypothekenbesicherter Anleihen die gewünschte Wirkung entfaltet?
Stiglitz: Ich rechne nicht mit einem echten Erholungsimpuls. Die Fed als Mitverursacher der Immobilienblase ist natürlich versucht zu agieren. Und als Regierung muss man wenigstens den Eindruck erwecken, dass man etwas tut - was mit QE3 geschieht. Ich bin aber nicht sehr zuversichtlich, dass das Ganze etwas bringt. Die meisten, die ihre Hypotheken bislang nicht refinanziert haben, sind schlicht nicht in der Lage dazu. Auch dass der Konsum durch höhere Aktienwerte nachhaltig angekurbelt wird, ist meiner Ansicht nach wenig wahrscheinlich. Dass die Rohstoffpreise steigen, kann sich sogar bremsend auf den Konsum auswirken. Meiner Ansicht nach wird aber wohl weder das eine noch das andere passieren.
mm: Wenn der Anleiheankauf nichts bringt, welche Mittel bleiben dann noch der Politik, das Wachstum anzukurbeln?
Stiglitz: Der einzige Weg führt meiner Überzeugung nach über haushaltspolitische Maßnahmen. Leider erleben wir derzeit, zumindest auf lokaler Ebene, das Gegenteil. Wir feuern Lehrer zu einer Zeit, in der wir in unsere jungen Menschen investieren sollten. Und zum Jahresende könnten sich die Dinge dramatisch verschärfen. Wir steuern auf das "fiskal cliff" zu ...
mm: ... das Auslaufen der Steuererleichterungen der Bush-Regierung und das In-Kraft-Treten der Ausgabenkürzungen, auf die man sich 2011 beim Erreichen der letzten Schuldengrenze geeinigt hatte…
Stiglitz: … wenn sich die politischen Lager nicht einigen. Und danach sieht es derzeit nicht aus. Und wir erreichen eine neue Schuldengrenze. Es gibt also drei Dinge, die ziemlich schlecht laufen können. Und die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens eins davon eintritt, ist ziemlich hoch. Viele in Washington glauben zwar, dass wir die Kurve noch kriegen können. Aber es sieht nicht gut aus.
mm: Das sind ziemlich bedrückende Aussichten.
Stiglitz: Wir sollten jedenfalls keinen bedeutenden Anstieg des Konsums erwarten. Präsident Barack Obama hatte gehofft, dass der Export die Lücke füllen kann. Aber Ausfuhren funktionieren nur, wenn es den Handelspartnern gut geht. Und Europa geht es schlecht. Die beste Diagnose ist, dass die US-Wirtschaft schwach bleibt. Die schlechteste, dass sie sehr schlecht bleibt.
Giftige Medizin
mm: In Europa hat die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi zum unbegrenzten Anleihenkauf zumindest kurzfristig für etwas Ruhe an den Finanzmärkten gesorgt …
Stiglitz: Ich habe wirklich das Gefühl, dass die politisch Verantwortlichen in Europa entschlossen sind, dem Euro zum Erfolg zu verhelfen. Und sie sind bereit, fast alles dafür zu tun - bis auf das, was wirklich nötig wäre. Draghis Ankündigung, unbeschränkt Staatsanleihen zu kaufen, war sehr stark - aber gleichzeitig an zwei Bedingungen geknüpft. Ein Land muss einen Antrag stellen und die Auflagen erfüllen. Und dazu gehörte bislang die Aufgabe wirtschaftlicher Souveränität - etwas, das Politiker in der Regel nicht gerne tun.
Zudem hat die Medizin, die den Ländern in der Vergangenheit verordnet wurde, zu einer wirtschaftlichen Abschwächung und bei Griechenland in die wirtschaftliche Depression geführt. Die Bereitschaft sie zu schlucken ist daher nicht besonders ausgeprägt.
mm: Was wäre die Alternative zum Sparkurs?
Stiglitz: Es gibt keinen Wachstumspakt. Dabei ist die Idee, dass Sparmaßnahmen die Krise verhindert hätten, absurd. Sparmaßnahmen machen alles nur schlimmer - sie schwächen die Nachfrage, erhöhen die Arbeitslosigkeit und die Sozialkosten - und führen in die Rezession. Es gibt keine größere Wirtschaft, die jemals durch Sparmaßnahmen eine Krise überwunden hätte.
mm: Sehen Sie denn überhaupt eine Überlebensmöglichkeit für den Euro?
Stiglitz: Die Krise kann gelöst werden. Aber bislang ist der Euro eine mit fundamentalen Fehlern behaftete Institution. Dass das Projekt unvollendet ist, war den europäischen Staats- und Regierungsschefs von Anfang an klar. Aber sie haben konstant zu wenig und zu spät getan. Der Ausweg aus der Krise ist nun entweder über mehr Europa möglich, instititutionelle Reformen, die Vergemeinschaftung von Schulden und ein gemeinschaftliches Bankensystem. Die andere Alternative ist eben weniger Europa - dass eine Reihe von Staaten das Netzwerk verlässt.
mm: Etwas Bewegung in Richtung mehr Europa gibt es ja bereits...
Stiglitz: Der Vorschlag für eine gemeinsame Bankenaufsicht geht in die richtige Richtung. Aber er reicht nicht aus. Nötig ist eine gemeinsame Einlagensicherung, ein gemeinsamer Rückhalt. Und der kann nicht nur für die großen Banken gelten.
mm: Glauben Sie denn, dass der Euro überleben wird?
Stiglitz: Das ist eine politische Entscheidung. Eine Vergemeinschaftung der Schulden und des Finanzsystems sind derzeit schwer vorstellbar. Es ist in gewisser Weise ein Gang am Rande des Abgrunds. Und wenn man dort wandelt, besteht das Risiko, dass man hinunterstürzt - selbst mit den besten Absichten.
Aber die Staatschefs haben noch nicht in den Abgrund geschaut. Vielleicht schauen sie über den Rand und kommen zu dem Schluss, dass es sie selbst zu teuer zu stehen kommen wird, wenn der Euro zerfällt. Ich halte es für möglich, dass der Euro am Ende gerettet wird. Aber die Dynamik kann sich auch so entwickeln, dass er auf der Strecke bleibt.