Wachstumsdelle Supertanker Brasilien auf Schlingerkurs

Nullwachstum und keine Aussicht auf Besserung? Von wegen. Brasilien hält das Modell aus öffentlichen Investitionen, Importbarrieren und Subventionen noch eine Zeitlang durch. Zumindest bis zur nächsten Krise.
Von Stefan Biskamp
Neue Lage: Abflauende Wirtschaft - ohne externe Schocks

Neue Lage: Abflauende Wirtschaft - ohne externe Schocks

Foto: epa efe Lacerda/ dpa

Sao Paulo - An Brasilien scheiden sich derzeit die Geister. Durchlebt Südamerikas größte Volkswirtschaft nur eine Wachstumsdelle, die Präsidentin Dilma Rousseff wie auf dem Serviertablett - bitte zugreifen! - die Gelegenheit zu Strukturreformen schenkt? Oder markiert das Jahr 2012 das Ende des nicht gerade orthodox-marktwirtschaftlichen Versuchs, finanziert von Fiskus und Rohstoffexport die Nachfrage anzuschieben und das Land mit gigantischen Infrastrukturprojekten binnen weniger Jahrzehnte in eine Industrienation zu verwandeln?

Für die einen ist die sechstgrößte Volkswirtschaftin in Gefahr, seinen Status als Brics-Mitglied zu verlieren. Gerade senkten Finanzmarktanalysten in einer monatlichen Umfrage der brasilianischen Zentralbank erstmals die Wachstumsprognose für dieses Jahr auf unter 2 Prozent - weniger, als für die USA vorausgesagt wird. Im Mai schrumpfte die Wirtschaft im Vergleich zum Vormonat inflationsbereinigt sogar um 0,02 Prozent.

Wenn Brasilien nun nicht schnell wieder Fahrt aufnimmt, sagt Jim O'Neill, "dann fängt das B in Bric an, etwas seltsam auszusehen". O'Neill, Asset-Management-Chef der Investmentbank Goldman Sachs , erfand den Terminus 2001 als Marketingformel für die großen Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien, China und zuletzt ergänzt um Südafrika.

Stellvertretend für das andere Lager, die Optimisten, steht von Amts wegen Staatschefin Rousseff.

"Wir werden systematisch die Kosten senken" rief sie vor wenigen Tagen bei der Taufe einer Ölplattform den jubelnden Arbeitern zu, "aber nicht bei Sozialausgaben und Löhnen, wie sie es im Ausland machen",gemeint sind die europäischen Schuldenstaaten wie Griechenland und Spanien: "Wir gehen nicht den Weg der Länder, die heute eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent haben." Sie werde, stattdessen, vor allem an zwei Schrauben drehen: die Steuern senken und den Wechselkurs anpassen - letzteres bemerkenswert, da sich Brasilien lange über einen "Währungskrieg" beschwerte, in dem vor allem China und die USA den Wechselkurs manipulierten.

Zudem, und das erwähnte Rousseff nicht extra, schiebt sie gewaltige Infrastrukturprojekte an: neue Bohrtürme, neue Häfen, Stahlwerke, Minen, Kraftwerke, Straßen und Bahnlinien. Und nun beginnt auch noch ein wahrer staatlicher Einkaufsrausch: Für 8,4 Milliarden Real (3,4 Milliarden Euro) kauft der Staat demnächst unter anderem Traktoren, Waffen und Schuleinrichtungen.

Wachstum lahmt ohne Zutun von außen

Darüber hinaus verkündete Rousseff ein Förderprogramm im Volumen von sieben Milliarden Real für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in 75 mittelgroßen Städten. Und statt das notorisch komplizierte brasilianische Steuersystem zu vereinfachen, wird es um weitere Ausnahmen ergänzt, werden gezielt die Abgaben auf einige Produkte wie Autos und Elektrowaren gesenkt - und Kredite für einige strategische Branchen subventioniert.

Genau daran scheiden sie sich, die Geister. Denn das ist kein Kurswechsel hin zu mehr Marktöffnung und weniger Protektionismus. Im Gegenteil, Kapitän Rousseff steuert Brasilien nach der Devise "stur Kurs halten". So verwies sie in ihrer Rede - wie stets - auf ihren immer noch wie ein Volksheld verehrten Vorgänger und einstigen Mentor LuizInácio Lula da Silva, dessen "Sturheit" es zu verdanken sei, dass eine brasilianische Werft erstmals seit drei Jahrzehnten eine Bohrinsel wie das 11.000 Tonnen schwere Monstrum der neuen P-59 vom Stapel lassen konnte. Ein Symbol für den Aufstieg Brasiliens unter die größten Werftennationen.

Diese Sturheit beklagen die einen: "Brasiliens Weg ins Nirgendwo", titelte die Londoner Financial Times. Dagegen die Keynesianer: "Wenn die Regierung nicht noch viel mehr ausgibt, dann", sagt Roberto Messenberg, "dann landen wir im Nirgendwo." Der Chefökonom des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts Ipea hält das bisherige Programm der Regierung geradezu für eine "Beruhigungspille". Es gebe keinen Mangel an Kapital, das mit dem Geld aus der Staatskasse etwas anfangen kann; die Nachfrage lahme, die Produktion sei nicht ausgelastet - "alle Argumente gegen ein stärkeres Engagements des öffentlichen Sektors fallen in sich zusammen".

Wohin also driftet der ins Schlingern geratene Supertanker Brasilien unter Rousseffs Kommando? Seit dem zweiten Halbjahr 2011 ist Brasilien in einer Situation, "die in der jüngeren Geschichte keine Parallele kennt", sagt Ökonom Messenberg. Das Wachstum lahmt "ohne einen größeren externen Schock". Verantwortlich dafür ist nicht etwa ein aufgrund lahmender Weltkonjunktur schwächelnder Rohstoffexport.

Das läge aufgrund der Abhängigkeit Brasiliens vor allem vom Rohstoffabnehmer China nahe, dessen Wachstum derzeit zurückgeht. Brasiliens Exporte stiegen in den zwölf Monaten bis April dieses Jahres um 11 Prozent auf 143 Milliarden US-Dollar, allein 44,5 Prozent der Zunahme besorgen Bergbau, Sojaanbau sowie Erdöl. Und China ist mit 38,8 Prozent an der positiven Handelsbilanz beteiligt.

Bislang macht Brasilien jedoch weniger der Rohstoffsektor zu schaffen. Sondern der Konsum schwächelt - er erlebte im Mai den stärksten Abschwung seit 2008 -,und die Auslastung der Fertigungsindustrie sank zuletzt auf 81 Prozent - unter das Niveau vor dem globalen Finanzmarktschock von 2008. Seit damals stieg der Anteil der Importe am heimischen Konsum auf inzwischen 21 Prozent, und die Exportquote liegt heute bei 15 Prozent, vier Prozentpunkte unter dem Peak von 2005.

Diese Zahlen verweisen auf die Kernprobleme Brasiliens: einer geringen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und einem akuten Mangel an Fachkräften. Die Produktivität der Fertigungsindustrie sinkt seit 2009, als sich die brasilianische Wirtschaft vollgepumpt mit Geld aus staatlichen Investitionsprogrammen schnell aus der Krise zog. Dabei blieb die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe zuletzt trotz Wachstumsschwäche stabil. Insgesamt liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei rund 6 Prozent.

Hoffnung auf baldiges Wachstum

Grund dafür ist zum einen die Zunahme schwerer kündbarer Arbeitsverhältnisse; zweitens wohl die Hoffnung der Unternehmen auf einen baldigen Aufschwung; und drittens eben jener - einem Bildungssystem, das mit dem Wirtschaftswachstum nicht mithält, geschuldeter - Fachkräftemangel: Wer jetzt opportunistisch die Belegschaft ausdünnt, muss die Leute, wenn es wieder bergauf geht, von der Konkurrenz abwerben.

Die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit ist die Sollbruchstelle des brasilianischen Modells, einzelne strategische Industrien wie Auto- und Schiffsbau zu subventionieren und durch Buy-Brasil-Klauseln sowie Einfuhrbarrieren vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Ähnlich geht auch China vor, allerdings in einer Vielzahl von Branchen, Brasilien dagegen vor allem in rohstoffnahen Schwerindustrien.

Und der Devisensegen des Erz-, Öl- und Sojaexports birgt die Gefahr, den Anschluss im Kampf um Wertschöpfung, Innovation und damit auch um die Massen besser bezahlter Arbeitsplätze zu verlieren. China schaffte es, als Werkbank der Welt Stück für Stück lukrative Teile der Wertschöpfungskette ins Land zu holen. Es ist weitaus schwieriger, eine Rohstoffförderung um Wertschöpfung zu ergänzen, als eine Billigproduktion, die ja in der Kette schon ein Glied über dem Abbau des Grundmaterials liegt.

Das ist das Kernproblem Brasiliens, weiter Teile Südamerikas und auch Afrikas. Denn selbst mit gesunden Staatsfinanzen wie in Brasilien sind die Möglichkeiten dieser Länder, durch öffentliche Projekte die Wirtschaft anzukurbeln begrenzt - und einen Großteil des Staatsgeldes müssen sie in rohstoffnahe Projekte stecken, um den Devisenzufluss durch diese Branche zu sichern.

Aufgrund der Steuereinnahmen durch jahrelange Exportrekorde hat Brasilien die Staatsverschuldung im Griff, und die Inflation von nur knapp fünf Prozent - kein Wunder bei schwachem Konsum und niedriger Kapazitätsauslastung - ist keine Gefahr. So konnte die Zentralbank den seit Jahren extrem hohen Leitzins seit August vergangenen Jahres um bis heute satte 450 Basispunkte senken - vor wenigen Tagen um weitere 50 auf 8 Prozent. Die Finanzmärkte rechnen bis Ende des Jahres mit weiteren Senkungen. Brasilien hat so noch jede Menge geldpolitischen Spielraum.

Niedrigere Zinsen bremsen zwar den Zufluss an spekulativem Kapital, das Brasilien aufgrund hoher Zinsen zuletzt überflutete. Auf der anderen Seite ändern sie nichts am strukturellen Wettbewerbsproblem Brasiliens. Und: Sie fördern den Abzug von Investoren, die inzwischen Mexiko als Zugpferd Lateinamerikas wiederentdeckt haben. Mexiko steigt mit einer weitaus marktfreundlicheren Wirtschaftspolitik als Brasilien, geringerer privater Verschuldung und Abhängigkeit vom Rohstoffexport zum neuen Liebling der Anleger auf.

Bis aus den Brics dank Mexiko ein BRIMSC oder gar ein Mircs wird, dauert es aber mit Sicherheit noch länger als sich Goldman-Sachs-Manager O'Neill vorstellt. Denn mittelfristig, da hat der brasilianische Ökonom Messenberg durchaus recht, kann in Brasilien der Staat die Lücke schließen und dafür sorgen, dass ein bis zwei Millionen Menschen pro Jahr von Armen zu Konsumenten werden - was unweigerlich Kapital anlocken wird. Wenn Rousseff die Gelegenheit verpasst, in der heutigen Krise die Wirtschaft ihres Landes zu mehr Wettbewerbsfähigkeit zu zwingen, dann rächt sich das erst in der nächsten.

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