Müllers Memo Die deutsche Illusion vom Daueraufschwung

Export-PKW in Bremerhaven: Wirtschaftsstark und wettbewerbsfähig wie kaum ein anderes Land
Foto: © Fabian Bimmer / Reuters/ REUTERSIn seinem neuen Buch "Wirtschaftsirrtümer - 50 Denkfehler, die uns Kopf und Kragen kosten" greift Henrik Müller populäre Fehlurteile auf. Bei manager magazin online lesen Sie in den kommenden Wochen Auszüge daraus.
Erinnern Sie sich? Es ist noch gar nicht so lange her, da fürchteten sich die Deutschen vor nichts so sehr wie vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Job-Angst - das war das prägende Lebensgefühl, zwei Jahrzehnte lang. Wenn Demoskopen die Bundesbürger danach fragten, was ihnen die größten Sorgen bereite, dann stand der Verlust des Arbeitsplatzes stets auf Platz eins, weit vor Inflation, Zuwanderung oder Klimawandel. Es galt die Formel: Jobverlust gleich Absturz.
In der Tat war die Ära der Dauermassenarbeitslosigkeit desaströs - ökonomisch, sozial, psychisch. Wer seine Stelle verlor, hatte schlechte Chancen, eine neue zu finden; kaum irgendwo in der reichen Welt saßen so viele Langzeitarbeitslose so lange auf den Ersatzbänken der Ökonomie wie in Deutschland.
Sie merken, ich schreibe in der Vergangenheitsform. Denn die Lage hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verbessert. Heute sind die Deutschen das Volk Europas, das sich am wenigsten um Arbeitslosigkeit sorgt, wie die regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen zeigen. Inzwischen ängstigen sie sich eher vor hohen Staatsschulden und Inflation - was gemessen an der aktuellen Stabilität im Land eher abstrakte Befürchtungen sind.
Gewissheit schier unkaputtbarer wirtschaftlicher Stärke
Man kann es auch so sehen: Wer sich vor derart vagen Problemen fürchtet, die - möglicherweise - in der Zukunft auftreten könnten, dessen gegenwärtiges Leben ist ziemlich gut. Das verführt zu Sorglosigkeit.
Die lange vorherrschende Absturzstimmung, die Deutschland im unaufhaltsamen Niedergang sah, ist einer neuen Gewissheit von schier unkaputtbarer wirtschaftlicher Stärke gewichen. Entsprechend verschiebt sich die politische Agenda. Nicht mehr die (falsche) Annahme der unausweichbaren Massenarbeitslosigkeit bestimmt den Kurs. Nun gibt die (ebenso falsche) Erwartung, der Weg in die Vollbeschäftigung sei sicher, die Richtung vor.
Also rücken andere Themen auf die Agenda. Die Politik ergeht sich in Aussagen, welche Jobs man nicht mehr will: keine Billigjobs, keine Zweitjobs, keine befristete Arbeit, keine Leiharbeit…
So ändert sich der Zeitgeist. So wird die Saat für die nächste Krise gelegt.
Irrtümer, die uns am Ende Kopf und Kragen kosten können
Das deutsche Beispiel zeigt, wie mächtig ökonomische Narrative sind. Vorherrschende Erzählungen über die Wirtschaft prägen unsere Wahrnehmung der Realität. Sie sind nützlich und gefährlich zugleich. Nützlich, weil sie die große, abstrakte Ökonomie überhaupt erst erfassbar machen. Gefährlich, weil dominante Narrative ganze Gesellschaften dazu verleiten, heraufziehende Risiken zu übersehen und über längere Zeit in die falsche Richtung zu steuern.
Auch die noch immer andauernde Schuldenkrise ist ein Beispiel für die Macht der großen ökonomischen Erzählungen. Im Rückblick muss man sich fragen, wie es möglich war, so lange Zeit eigentlich offensichtliche Fehlentwicklungen zu übersehen. Über Jahre stieg in vielen Ländern - in den USA, in Großbritannien, in vielen Euro-Volkswirtschaften - die private Verschuldung immer weiter. Ganze Nationen ruinierten sich in absurden Baubooms. Bis die Schuldenberge schließlich untragbare Höhen erreicht hatten und das Kartenhaus 2008 zusammenbrach.
Die Fehlentwicklungen waren erkennbar, lange bevor es knallte. Nur interessierte es kaum jemanden - weder Politiker, noch Ökonomen, noch Journalisten. Zahlen wurden ignoriert, Indizien übersehen, Bedenken kleingeredet. Die dominante Erzählung vom Globalisierungsboom, der nun in die "Große Beruhigung" der Weltwirtschaft gemündet war, klang einfach bezaubernd. Und viele in der Finanz- und der Baubranche verdienten eine Zeitlang trefflich Geld damit.
Erst Illusionen, dann Probleme
Typischerweise produzieren dominante ökonomische Narrative zuerst Illusionen und dann große Probleme. Wo eine Geschichte von Marktteilnehmern, Regulierern und Beobachtern vorbehaltlos akzeptiert wird, ist der Boden bereitet für Irrtümer, die uns am Ende Kopf und Kragen kosten können, wie ich meinem neuen Buch seziere.
Wir sollten uns nichts vormachen: Auch wir angeblich so nüchternen Deutschen sind keineswegs immun gegen die Verführungskraft der Narrative. In den 90er Jahren übersah die wiedervereinigte Kohl-Republik allzu lange den aufgestauten Reformbedarf, um dann angesichts von Massenarbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und Staatsschuldenrekorden ein Jahrzehnt lang in Depression und Lethargie zu verfallen. Kein Gegenmittel schien zu funktionieren, und überhaupt habe ja sowieso alles keinen Zweck mehr.
Mitte des vorigen Jahrzehnts hatte ein spezifischer deutscher Blues die Nation erfasst - der uns wiederum über Jahre daran hinderte zu erkennen, wieviel sich damals schon zum Positiven gewandelt hatte.
Seit 2006 hat sich das deutsche Selbstbild abermals gewandelt. Das alte negative Narrativ ist einem dynamischen neuen gewichen.
Was nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet
Nicht nur die Deutschen selbst glauben inzwischen, sie seien so wirtschaftsstark und wettbewerbsfähig, wie kaum ein anderes Land auf dem Globus. Auch viele andere Nationen betrachten uns mit einer Mischung aus Anerkennung, Bewunderung und Neid. Kaum jemand zweifelt noch an Deutschlands ökonomischer Power.
Entsprechend geht die Politik dazu über, die Beschäftigungsrekorde für selbstverständlich zu nehmen - und eine Welle von Regulierungen einzuführen, die das Erreichte gefährden. Wo noch vor wenigen Jahren Panik herrschte, weil angeblich das Ende der Arbeit drohte, greift nun unbeschwertes Vertrauen in die Belastbarkeit des deutschen Arbeitsmarktes um sich, alle heraufziehenden und längst sichtbaren Risiken ignorierend.
Vordergründig gibt es natürlich jede Menge Indizien dafür, dass die glänzend schwarzrotgoldene Erzählung wahr ist. Die Exportstärke der Industrie, der in Teilen leergefegte Arbeitsmarkt, der Immobilienmarkt, der sich angeblich nach einem langen Durchhänger normalisiert - das sind Kernelemente des derzeitigen Hurra-Deutschland-Narrativs. Die Geschichte vom zweiten Wirtschaftswunder wirkt einfach überzeugend. Was nicht ins Bild passt, wird ausgeblendet.
Dass die Erfolge der Industrie auf der raschen Industrialisierung der Schwellenländer fußen, die allerdings gerade im Abflauen begriffen ist. Dass die Globalisierung auf dem Rückzug ist durch Krisen, Krieg und Terror. Dass die deutsche Wirtschaft unterfinanziert ist nach fast einem Jahrzehnt mit gigantischen außenwirtschaftlichen Überschüssen. Dass die Politik des ultrabilligen Geldes die Wirtschaftsstrukturen verzerrt, auch hierzulande. Dass die Euro-Krise keineswegs vorbei ist und Deutschland deutlich mehr wird tun müssen, um zur Stabilisierung des europäischen Heimatmarktes beizutragen. Dass die Digitalisierung auch die produktionslastige deutsche Wirtschaft fundamental durcheinander wirbeln wird. All das ist seit Jahren sichtbar. Aber es sickert bestenfalls mit erheblicher Zeitverzögerung ins kollektive Bewusstsein.
Die Rechnung wird nicht lange auf sich warten lassen.
Lesen Sie nächsten Sonntag von Henrik Müller: Der Mythos der Hartz-Reformen
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
MONTAG
BERLIN - Zukunft? Start des bundesweiten Forschungsprogramms "Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen". Mit Politpromis (Wanka, Grillo, Bsirske)
WIESBADEN/PEKING - Großexporteure - Neue Zahlen zum Außenhandel von den Statistikern Deutschlands und Chinas.
DIENSTAG
MAILAND Flaggen zeigen (1) - Informelles Treffen der EU-Verteidigungsminister in Zeiten der Ukraine-Krise
BERLIN - Bilanz in Schwarz und Rot - Der Bundestag debattiert den Bundeshaushalt 2015 und startet mit einer allgemeinen Debatte zur Finanzlage. Dann geht es in die Details - bis Freitag.
TOKIO - Glaubenssachen - Neue Zahlen zum Vertrauen der japanischen Verbraucher geben Aufschluss darüber, ob Premier Abe mit seinem Jede-Menge-Yen-Programm die Bürger überzeugen kann.
MITTWOCH
BERLIN - Nullen und Einsen - Kongress der Gewerkschaft Verdi zum Thema "Arbeitswelt, Selbstbestimmung und Demokratie im digitalen Zeitalter!"
FRANKFURT - Klarer Blick im Zorn - Axel Weber, Ex-Bundesbank-Chef und jetzt UBS-Verwaltungsratspräsident, hat immer wieder Bankern und Notenbankern die Leviten gelesen. Nun spricht er in Frankfurt über die "Zukunftsperspektiven des Europäischen Bankensystems".
DONNERSTAG
MAILAND - Globalisierung im Arbeitsmodus - Treffen europäischen und asiatischen Finanzminister (Asia-Europe Meeting)
DÜSSELDORF/ESSEN - Abbruch oder Aufbruch? - Voraussichtlich trifft sich der Karstadt-Aufsichtsrat, um über die neuen Sanierungspläne zu beraten. Währenddessen steht Ex-Karstadt-Chef Thomas Middelhoff wieder mal wegen des Vorwurfs der Untreue vor Gericht.
VIHULA - Flaggen zeigen (2) - Treffen der Außenminister der baltischen und nordischen Staaten in der estnischen Stadt in Zeiten russischer Expansionsgebärden.
PEKING - Preisfragen - Chinas Statistiker zeigen neue Zahlen zur Inflationsentwicklung.
FREITAG
MAILAND - Wider die Krise - Gerade hat EZB-Chef Draghi der Euro-Zone attestiert, sie stehe am Rande einer Dauermalaise. Nun treffen sich im Anschluss ans Asia-Europe Meeting (ASEM) die Finanzminister der Eurogruppe.
BERLIN - Schlussrunde - Noch einmal Luftholen zum Ende der Haushaltsdebatte: Es geht um den Verkehrsetat - und damit um die absurde Mautdiskussion.
KIEW - Flaggen zeigen (3) - Besuch von EU-Noch-Kommissionspräsident Barroso in der Ukraine, bis Samstag.
RIGA- Flaggen zeigen (4) - Konferenz mit OECD-Generalsekretär Gurria und den Verteidigungsministern von Polen und Norwegen in der baltischen Hauptstadt.
SAMSTAG
MAILAND - Europas Gelder - Informelles Treffen der EU-Finanzminister.
PEKING - Abkühlung - Neue Zahlen zu Chinas Industrieproduktion
SONNTAG
POTSDAM/Erfurt - Zwischen Linken und AfDlern - Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen
STOCKHOLM - Ende der Gemütlichkeit? - Wahlen zum schwedischen Reichstag