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Globale Arbeitsmarktkrise: Wo 2030 noch Talente zu finden sind

Foto: Marcus Brandt/ picture alliance / dpa

BCG-Partner Rainer Strack "Deutschland braucht zehn Millionen Mitarbeiter zusätzlich"

Nicht nur in Deutschland droht bis 2030 ein Arbeitskräftemangel, sondern sogar weltweit, mahnt Boston Consulting. Im Interview erklärt BCG-Partner Rainer Strack, wie wir einen Zehn-Billionen-Dollar-Schaden vermeiden können.
Von Arvid Kaiser

mm: Herr Strack, in Ihrer neuen Boston-Consulting-Studie (PDF)  warnen Sie vor einem globalen Arbeitskräftemangel bis 2030. Wie kommen Sie zu dieser Prognose?

Strack: Wir analysieren, wie entwickeln sich Personalbestand und Personalbedarf an Arbeitskräften bis 2030 für 25 der größten Volkswirtschaften. Beim Personalbedarf machen wir keine Vorhersage, sondern berechnen zwei Szenarien. Wenn Deutschland im Bruttoinlandsprodukt genauso wachsen will wie in den letzten zehn oder 20 Jahren, mit der gleichen Produktivitätssteigerung, dann können wir mit einer einfachen Formel genau vorhersagen, wie viele Arbeitskräfte dafür benötigt werden. Wer soll das produzieren, wenn die Mitarbeiter dafür nicht da sind?

Für den Personalbestand gibt es Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Die sind relativ stabil bis auf das Thema Migration, denn die Arbeitskräfte von 2030 müssen heute schon geboren sein. Und dann stellen wir Personalbedarf und Personalbestand gegenüber und können so sehen, wo eher ein Mangel oder ein Überschuss an Arbeitskräften besteht.

mm: Der angedrohte Schaden für die Weltwirtschaft von zehn Billionen Dollar klingt schon dramatisch.

Strack: In der Öffentlichkeit sprechen wir momentan nur über die Finanzkrise und Schuldenkrise, aber vielleicht steht uns noch eine viel größere Krise auf dem Arbeitsmarkt bevor. Wenn wir nur in den Rückspiegel schauen, sieht das alles nicht so dramatisch aus. Aber wir sind gerade an einem Wendepunkt. In mehreren Ländern beginnt das Angebot der Arbeitskräfte zu schrumpfen. Das gab es in den vergangenen 1000 Jahren nur bei großen Kriegen oder Pestepidemien.

Ich bin 1964 geboren, das war das Jahr mit der höchsten Geburtenzahl in Deutschland, knapp 1,3 Millionen. Letztes Jahr waren es etwas mehr als 600.000. Gegensteuern ist jetzt schon in vielen Bereichen schwierig.

mm: Kann man das nicht auch positiv sehen, weil wir uns vom Problem der Massenarbeitslosigkeit verabschieden können? Wird es der Jahrgang 2014 leichter haben, sich am Arbeitsmarkt zu behaupten als der Jahrgang 1964?

Strack: In Deutschland definitiv. Das Talent wird zukünftig das Unternehmen aussuchen und nicht umgekehrt. Unsere Studie ist die erste, die ein weltweites Bild zeichnet. Da sieht es mancherorts ein bisschen anders aus. Kurzfristig, bis 2020, ist Deutschland stark betroffen, aber auch andere Länder wie die Schweiz, Polen, Russland, Südkorea oder Brasilien. Bis 2030 wird es fast weltweit zu einem dramatischen Problem. Deshalb wird es auch schwieriger, nur auf Migration zu setzen, um die Lücke zu schließen.

"Afrikanische Einwanderer werden bei uns nicht in die Bresche springen können"

mm: Was ist mit Ländern, die nicht in der Studie auftauchen, vor allem in Afrika und dem Nahen Osten?

Strack: Afrika ist der Kontinent, wo Bevölkerungswachstum in diesem Jahrhundert noch stattfindet. Wir haben mit Ägypten und Südafrika zwei afrikanische Länder in der Studie untersucht und mit Saudi Arabien ein Land aus dem Nahen Osten. Aber wir reden über 2030. So kurzfristig werden afrikanische Einwanderer bei uns nicht in die Bresche springen können, nicht in ausreichender Zahl mit der Qualifikation für die Jobs, um die es geht.

Auch andere Länder wie beispielsweise die USA haben noch einen Arbeitskräfteüberhang, der bis 2030 zwar kleiner wird, aber nicht verschwindet. Selbst dort gibt es jetzt schon Probleme, in manchen Regionen bestimmte Stellen zu besetzen.

mm: Sie sagen Vollbeschäftigung für Deutschland schon 2015 voraus. Das scheint doch eine gute Nachricht zu sein, da wir jetzt noch in manchen Regionen sehr hohe Arbeitslosigkeit haben.

Strack: Vollbeschäftigung ist eine Definitionsfrage. Eine Art strukturelle Arbeitslosigkeit, 4 bis 6 Prozent, wird immer da sein, weil Angebot und Nachfrage nie perfekt zusammenpassen.

mm: Aber es gab ja schon Zeiten wie in den 60er Jahren mit Arbeitslosenraten nahe Null.

Strack: Das kann vielleicht zeitweise eintreten. Die Volkswirte sind unterschiedlicher Ansicht, was die richtige Sockelarbeitslosigkeit ist. Ein paar Prozent werden es immer sein.

mm: Müsste nicht die Konsequenz sein, dass die Löhne stark steigen? Die Diskussion um Fachkräftemangel in manchen Berufen haben wir ja schon einige Jahre. An den Einkommen zeigt sich noch nicht so, dass Talente stärker umworben werden.

Strack: Das zählt zu den wirtschaftlichen Folgen. Ein Arbeitskräftemangel, den wir in Deutschland wahrscheinlich haben werden, kann zu einer Lohninflation führen und letztlich zu einem geringeren Wachstum. Auf der anderen Seite ist ein Angebotsüberhang negativ wegen der Arbeitslosigkeit und im Extremfall sozialer Unruhen. Beides ist für eine Volkswirtschaft nicht optimal. Ideal ist, wenn Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. Dieses Gleichgewicht wird aber in vielen Märkten eher die Ausnahme sein.

"Die Leute müssten 30 Prozent schneller arbeiten"

mm: Ihre Grafiken zeigen aber für die unmittelbare Zukunft in den meisten Ländern, dass sich die Linien von Angebot und Nachfrage kreuzen. Also steht uns erst einmal der Idealzustand bevor, ehe sich die Schere wieder öffnet.

Strack: Italien , Frankreich oder Spanien werden erst einmal eine hohe Arbeitslosenquote haben, danach wird es allerdings knapper. 2020 bis 2030 schrumpft das Arbeitskräfteangebot in vielen europäischen Ländern. Dass Europa aus der Schuldenkrise herauswächst, wird zunehmend schwieriger, weil der Anteil der arbeitenden Bevölkerung kleiner wird, der Wachstum generieren kann.

mm: Sie haben selbst gesagt, dass es auch ganz anders kommen kann als in Ihrem Szenario. Für wie realistisch halten Sie es? Der größte Knackpunkt liegt in der Annahme, die vergangenen Wachstumsraten einfach fortzuschreiben. Sollten wir uns nicht einfach darauf einstellen, dass die Arbeitskräftenachfrage geringer wird?

Strack: Wie würde man dieses Thema aus der Unternehmensperspektive sehen: Unternehmen setzen sich ein Umsatzziel und müssen sich überlegen, wie sie dieses Ziel mit konkreten Maßnahmen erreichen können. So würde ich das auch für das Land sehen. Für Deutschland wäre das Ziel, mindestens so zu wachsen wie in den letzten Jahrzehnten, und das war ja mit 1,3 Prozent jährlich nicht so stark. Dafür brauchen wir eine Strategie, eine Personalstrategie.

mm: Nämlich?

Strack: 2030 brauchen wir zehn Millionen Mitarbeiter zusätzlich, wenn wir dieses Wachstum halten wollen. Wir haben ausgerechnet, mit welchen Maßnahmen das zu erreichen wäre. Zum Beispiel müssten statt bisher 4 Prozent der über 65-Jährigen 10 Prozent arbeiten. Statt 71 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter müssten 80 Prozent arbeiten, und dann auch viel mehr in Vollzeit statt Teilzeit. Wir brauchen jedes Jahr bis 2030 netto 460.000 Zuwanderer.

Gleichzeitig muss die Produktivitätssteigerung deutlich nach oben gebracht werden: von 0,87 Prozent auf 1,15 Prozent. Die Leute müssen im Prinzip 30 Prozent schneller arbeiten, was völlig unrealistisch ist. Sie müssten viel höher qualifiziert sein, viel mehr müsste in Bildung investiert werden, und so weiter …

"Das Personalmanagement wird einen Riesenaufschwung nehmen"

mm: … oder wir brauchen eine Roboter-Revolution

Strack: Das geht auch. Aber auch im bisherigen Produktivitätswachstum der letzten Jahre war eine Internet-Revolution enthalten. An all diesen Themen muss gleichzeitig gearbeitet werden. Die eine Prozentzahl kann geringer ausfallen und die andere dafür höher, aber es sind alles große Herausforderungen.

Es gibt das interessante Beispiel von Japan, das vor Jahren schon in einer ähnlichen Situation war wie Deutschland jetzt. Sie haben nur bedingt an diesen Maßnahmen gearbeitet. Und das Resultat war, dass sie über Jahre kaum gewachsen sind oder die Wirtschaft sogar geschrumpft ist. In ein ähnliches Szenario könnten wir auch in Deutschland hineinkommen.

mm: Vielleicht ist das eine Frage der Vorlieben: Werden alternde Gesellschaften konservativer, wollen lieber das Erreichte bewahren, bevorzugen Stabilität gegenüber Wachstum, bekommen Angst vor Schulden und Investitionen?

Strack: Wir sind davon ausgegangen, dass wir weiter wachsen wollen. Wenn das so ist, müssen wir die Arbeitsmarktlücke schließen.

mm: Nehmen wir einmal an, dass Ihr Negativszenario eintritt: In 15 Jahren fehlen in Deutschland zehn Millionen Arbeitskräfte. Was raten Sie den Unternehmen, die Boston Consulting engagieren, um sich für diese Situation zu wappnen?

Strack: Wir glauben, dass der Talentmarkt viel intensiver wird. Ich muss mich als Unternehmen viel mehr darum kümmern, dass ich die erforderlichen Ressourcen und Mitarbeiter bekomme. Wir sehen jetzt schon, dass Firmen viel stärker in Employer Branding investieren, um attraktiver zu werden. Für eine offene Stelle bekommen sie vielleicht nur noch zwei Bewerbungen statt bisher zehn.

Sie müssen besser und attraktiver sein als der Wettbewerb, genauso wie Deutschland attraktiver sein muss als die Nachbarländer, um die nötigen Zuwanderer anzuwerben. Auch brauchen Unternehmen eine systematische Strategische Personalplanung. Was wir hier für Deutschland gemacht haben, muss jedes Unternehmen auch für sich durchführen und das auf Qualifikationsebene.

Das Personalmanagement wird einen Riesenaufschwung in Unternehmen erleben, weil das Humankapital die knappe Ressource wird, nicht mehr das investierte Kapital. Unternehmen müssen viel mehr tun, um den Mitarbeiter zu hegen, zu pflegen und ihn überhaupt zu bekommen. Der Mitarbeiter wird viel mehr im Fokus stehen.

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