Wie der Boom am Arbeitsmarkt wirklich aussieht Teilzeit-Republik Deutschland - das ist das wahre Jobwunder

Pendler am Frankfurter Hauptbahnhof
Foto: Marius Becker / picture alliance / dpaSchon wieder ein Rekord. 44,8 Millionen Erwerbstätige haben die Statistiker in Deutschland 2018 gezählt, so viele wie noch nie - und das ist nur die Zahl für den Jahresdurchschnitt. Die aktuellen Monatswerte liegen seit August über 45 Millionen, Tendenz weiter steigend (abgesehen von dem im Winter üblichen saisonalen Rückgang). Der seit zwölf Jahren fast ununterbrochen starke Arbeitsmarkt gilt Ökonomen als wichtigste Stütze der Konjunktur gegen den drohenden Abschwung - und hält laut allen gängigen Indikatoren auch weiter Stand.
Doch bieten die vielen neuen Jobs auch gute Arbeit, hebt der Beschäftigungsboom den Wohlstand im Land? Hier sind die wichtigsten Daten, so aktuell wie möglich.
Wie das Statistische Bundesamt hervorhebt, wächst vor allem die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Im September (den aktuellsten detaillierten Monatsdaten der Bundesagentur für Arbeit) waren 33,4 Millionen Arbeitnehmer in einem solchen geregelten Arbeitsverhältnis, das zumindest im Prinzip die Sicherheit des deutschen Sozialstaats verspricht - 675.000 oder 2 Prozent mehr als im Vorjahr (seit dem Tiefpunkt 2005 sogar 27 Prozent mehr), und zwar quer durch fast alle Branchen; angeführt von Information und Kommunikation, aber auch Metall- und Elektroindustrie oder Bau, selbst die Land- und Forstwirtschaft verzeichnete ein leichtes Plus. Nur die Finanzbranche und besonders deutlich die Leiharbeitsfirmen bauen mehr Stellen ab, als sie schaffen.
Die Zahl der Beamten stabilisiert sich bei etwa 2 Millionen - der von Privatisierungen getriebene Rückgang wurde 2017 gestoppt, inzwischen stellt der öffentliche Dienst hier und da auch wieder ein.
Zugleich wurden 2018 nur noch 4,2 Millionen Selbständige gezählt, ein Minus von 1,8 Prozent. Die Zahl ist bereits seit fünf Jahren rückläufig - die auffälligste Umkehrung der Arbeitsmarkttrends aus den Flexibilisierungs- und Reformjahren der 90er und frühen 2000er Jahren. Damals sorgten die so genannten Ich-AGs und später der Gründungszuschuss für einen regelrechten Boom von Solo-Selbständigen ohne eigene Angestellte.
Den nun folgenden Rückgang auf das Niveau von 2003 könnte man als nachlassende Gründerdynamik beklagen. Die Forscher vom zur Bundesagentur gehörenden Institut IAB sehen jedoch eher ein positives Zeichen: Die vielen Angebote sicherer Jobs böten eine früher nicht so greifbare Alternative zur Selbständigkeit, die oft nur aus Not gewählt wurde.
Bald mehr neue Teilzeit- als Vollzeitstellen
Auch die Zahl der marginal Beschäftigten schrumpft. Mit 5,3 Millionen (immer noch fast jeder Achte) ist laut IAB bald der niedrigste Stand seit 2002 erreicht. Es sieht fast wie eine Rückkehr zum Normalarbeitsverhältnis vor Gerhard Schröders Agenda 2010 aus. Allerdings ist der Begriff marginale Beschäftigung sehr weit gefasst - und auch unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verbergen sich manche mit prekären Verhältnissen.
Besonders markant ist die Zunahme der Beschäftigten in Teilzeit. Während die Vollzeitjobs im Jahresvergleich um 1,8 Prozent zulegten, wuchs die Zahl der (sozialversicherten) Teilzeitkräfte um 2,8 Prozent auf 9,4 Millionen - fast 40 Prozent der Arbeitnehmer. Die IAB-Prognose hatte zuletzt jedoch eine noch stärkere Verschiebung in Richtung Teilzeit vorhergesehen als jetzt von der Statistik gemessen. 2019 sollen demnach erstmals mehr neue Teilzeit- als Vollzeitjobs entstehen. Die Zahl der Arbeitsstunden wächst dennoch im Gleichschritt mit der Zahl der Beschäftigten.
Der Arbeitgeberverband BDA argumentiert in einer Broschüre über "die Mär von der prekären Arbeitswelt", Teilzeit sei "fast immer aus privaten Gründen gewollt" - also kein Ausdruck negativen Drucks auf das Normalarbeitsverhältnis. Zum Jahreswechsel hat der Bund den Anspruch der Beschäftigten auf Teilzeitarbeit (genauer gesagt auf anschließende Rückkehr in Vollzeit) ausgeweitet. Mehr Teilzeit gilt als Fortschritt in Richtung Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Auf der anderen Seite vergrößert der Teilzeittrend die Kluft zwischen Männern und Frauen, die mehr als drei Viertel der Teilzeitjobs ausüben - die privaten Gründe heißen oft Kinder oder pflegebedürftige Angehörige. Für den Koblenzer Ökonom Stefan Sell ist das deutsche Jobwunder, wenn auch nicht absolut schlecht, doch "schlechter als sein Ruf", weil die sozialen Sicherungssysteme immer noch auf der Annahme jahrzehntelanger Vollzeitarbeit beruhten. Die vielen Teilzeitjobs vor allem im Einzelhandel oder dem Gastgewerbe seien "eine sichere Quelle für zukünftige Altersarmut".
Immer noch der größte Niedriglohnsektor Europas
Ob es wirklich so kommt, hängt vor allem von den Einkommen ab. Die Zahl der Minijobber schrumpft in der Statistik nur auf den ersten Blick: 4,64 Millionen gingen 2018 einer geringfügig entlohnten Beschäftigung (450-Euro-Job) im Hauptberuf nach, ein Minus von 1,6 Prozent dank Jobwunder. Zugleich hatten jedoch 2,91 Millionen regulär Beschäftigte noch einen Mini-Nebenjob - offenbar, weil das Geld in Teilzeit nicht reicht. Dass diese Zahl um 4,9 Prozent wuchs und damit auch das Minijob-Segment insgesamt, ist ein Warnzeichen.
Die Zahl der Aufstocker, die zusätzlich zum Erwerbseinkommen noch auf Hartz IV angewiesen sind, steht bei rund 1,1 Millionen. Die Hälfte davon ist eigentlich in sozialversicherter Beschäftigung, zumeist in Teilzeit. Deren Zahl stagniert seit Jahren, ähnlich wie der harte Kern von rund 800.000 Langzeitarbeitslosen offenbar nicht vom Boom profitiert.
Wie es um den Niedriglohnsektor insgesamt steht, lässt sich so aktuell nicht sagen. Immerhin gibt es neuerdings ausführliche Daten bis 2016 aus einer Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Demnach stagniert der Anteil der Niedriglöhner seit Jahren bei 22,7 Prozent der Beschäftigten - einer der höchsten Werte in der EU, übertroffen nur von wenigen osteuropäischen Staaten. In Ländern mit hoher Tarifbindung wie Schweden, Belgien oder Frankreich sind die Quoten einstellig.
Immerhin ist die Niedriglohnschwelle (von der OECD definiert als zwei Drittel des mittleren Lohnniveaus) in den vergangenen Jahren stark gewachsen, auf 10,44 Euro je Stunde 2016. Absolut gesehen dürften die Einkommen der Niedriglöhner also deutlich schneller wachsen als die der Normalverdiener - auch dank des 2015 eingeführten Mindestlohns, der jedoch mit aktuell 9,19 Euro weiterhin klar unterhalb dieser Schwelle liegt.
Für befristete Arbeitsverträge meldete das IAB einen steilen Anstieg bis 2017 (neuere Daten liegen noch nicht vor) auf den Rekordstand von 3,15 Millionen. Gut die Hälfte davon war ohne Sachgrund befristet - die Große Koalition hat sich also durchaus ein relevantes Problem am Arbeitsmarkt für ihren Reformplan vorgenommen, den Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in diesem Jahr verwirklichen will. Vor allem die so genannten Kettenbefristungen sollen begrenzt (nicht abgeschafft) werden. Laut IAB dürften einige Hunderttausend Fälle von dem neuen Gesetz erfasst werden.