Weltwirtschaft Große allgemeine Verunsicherung

Gurgaon in Indien: Der Westen hat als Vorbild ausgedient, einfache Lösungen sind nicht mehr zu haben
Foto: CorbisKuala Lumpur/Hamburg - Um große Worte sind die versammelten Denker und Macher nicht verlegen. Beginnen wir also groß, ganz groß: Die alte Ordnung ist im Begriff zu verschwinden. Eine neue Epoche beginnt, alles wird anders: wirtschaftlich, sozial, technologisch, geopolitisch. Nur wie die neue Ordnung danach aussehen wird, das weiß noch niemand.
Es ist diese Mischung aus Verunsicherung und Aufbruch, die sich beim diesjährigen Global Economic Symposium (GES) in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur durch alle Sitzungen zieht. Zwei Tage lang sondierten Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen Anfang dieser Woche die globale Großwetterlage (manager magazin ist Medienpartner der Veranstaltung). Sie versuchten sich am Big Picture.
Ökonomische Stagnation, Polarisierung von Einkommen und Vermögen, soziale Unruhen, geopolitische Instabilität - all das sind aus diesem Blickwinkel letztlich nur "Symptome für die große Umwälzung", lässt Dennis Snower, Initiator des GES und Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, wissen. "Wir leben in einer Ära des radikalen Wandels." Am Ende werde kaum etwas bleiben, wie es ist.
Denn die Gegenwart, so Snower, sei durchaus vergleichbar mit der großen Transformation, die die Menschheit durchmachte, als sich die ersten Jäger und Sammler niederließen, um Ackerbau zu betreiben, Privateigentum zu erfinden, Städte zu gründen und schließlich Imperien.
Rein ökonomische Ansätze genügen nicht mehr - es geht um viel mehr
Zur GES-Sicht auf die Welt gehört die Vorstellung, dass große Umbrüche selten ohne gravierende Verspannungen und Krisen abliefen. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Normalität der vergangenen Jahrzehnte mag groß sein: dass die geopolitischen Spannungen sich lösen und die Terrorwelle abebbt, dass die Euro-Krise verschwindet, dass Amerika wieder regierbar wird, die Liste ließe sich verlängern. Die Teilnehmer des GES jedoch machen sich daran, die Anatomie des Wandels mit langem Zollstock zu vermessen und nebenher Lösungen zur praktischen Weltverbesserung zu skizzieren.
Ein Gedanke zieht sich quer durch die Veranstaltung: Rein ökonomische Ansätze genügten nicht mehr, es gehe längst um viel mehr. Da fordert Snower, die Menschen müssten wieder "Mitgefühl und Kooperation" lernen; in solchen Momenten klingt er fast wie ein Erweckungsprediger.
Nobelpreisträger Josef Stiglitz erklärt den rund 600 Gästen, Märkte seien "nicht sehr gut darin, große Transformationen" wie die derzeitige zu managen. Irgendwie müsse es die Politik richten. Aber leider sei die amerikanische Demokratie "zerbrochen", und Europas Antworten auf seine Währungskrise blieben ohnehin immer mangelhaft.
Die Zukunft des Geldes: Zentralbanken abschaffen oder "Vollgeld" schaffen?
Akademisch gefärbte Diskussionen kommen in ungewohnt radikalem Sound daher. Der Kieler Konjunktuforscher Stefan Kooths leitet eine Gesprächsrunde, in der es um "die Zukunft des Geldes" geht. Die Positionen changieren zwischen zwei ziemlich extremen Positionen: der Privatisierung des Geldes samt faktischer Abschaffung der Zentralbanken einerseits und andererseits der Schaffung von "Vollgeld", was den staatlichen Notenbanken absoluten Durchgriff gäbe und den Geschäftsbanken große Teile des Geschäfts wegnähme.
Um die krisenanfällige Weltwirtschaftsunordnung auf ein solideres Fundament zu stellen, kann sich Daniel Stelter, Ex-Boston-Consulting-Partner (und manager-magazin-online-Kolumnist) vorstellen, eine Art globale Zentralbank einzurichten mit weitreichenden Kompetenzen zu schaffen. Hauptziel: Staaten und Privatwirtschaft das Schuldenmachen weitgehend zu verbieten, so dass sich eine neue Finanzkrise nicht wiederholen kann.
Ideen, die auch anwesende Vertreter der OECD oder der EU-Kommission nicht mehr als völlig absurd abtun. Die große allgemeine Verunsicherung zeigt auch bei etablierten Fachleuten Wirkung.
Westliches Leitbild am Ende: Eine neue Erzählung für die Welt
Chandran Nair, Leiter des Hongkonger Thinktanks Global Institute for Tomorrow, fordert eine "neue Erzählung" für die Welt. Neue Ziele, neue Visionen - weil das westliche Leitbild des Immer-mehr an materiellem Wohlstand und Geld, dem Asien so erfolgreich nachgeeifert hat in den vergangenen Jahrzehnten, an sein Ende geraten sei. Es sei doch völlig klar, tönte Nair, dass es so nicht weitergehe. Aber: "Wir schlafen am Steuerrad."
So könne doch jeder sehen, wie die vordergründig glitzernden neuen Metropolen Asisens in Wirklichkeit unter Ökostress, Dauerstau und krassen sozialen Gegensätzen litten, also offfensichtlich an den wirklichen Befürfnissen vorbei gebaut seien.
Überhaupt, der Westen: Azman Mokhtar, Chef des Staatsfonds Malaysias, spottete über die Europäer, die ihre Probleme im Finanzsektor immer noch nicht im Griff haben. Eben jene Leute, die den Asiaten während ihrer Krise 1997/98 mächtig Druck machten und via IWF auf radikale Maßnahmen drängten.
Malaysias Vize-Premier Muhyiddin bin Mohd Yassin nannte die Europäer zwar nicht beim Namen. Aber als er über die dramatisch hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Leute, und die großen Finanzrisiken sprach, die die Welt nach wie vor in Atem hielten, war auch so deutlich, wer gemeint war.
"Don't globalize local problems, but localize global problems!"
Der alte Westen dankt als Vorbild ab. Auch wenn die EU als Modell einer offenen, befriedeten Weltregion gerade jetzt viele in Südostasien fasziniert. Diverse Gesprächsrunden suchten nach einem neuen Leitbild für die Region, die am Ende einer langen Phase rücksichtslosen Wirtschaftswachstums die Nebeneffekte versucht zu lindern.
In Kuala Lumpur lässt sich das körperlich erleben: Es gibt Tage, da ist die Luft zum Schneiden dick. Dann weht wieder mal der Rauch herüber aus Indonesien, wo der Dschungel brennt, weil Platz geschaffen wird für Palmöl-Monokulturen. Man geht dann besser nicht vor die Tür.
Also, was tun? Wo sind die Lösungen? Gibt es einen Masterplan für das Management des großen Umbruchs?
Vorschläge hat das GES jedenfalls eine Menge produziert - und sie fallen, gemessen am düsteren Big Picture, überraschend pragmatisch aus, manchmal sogar geradezu handfest. Beispiele: Um die Armen in Entwicklungsländern mit Strom zu versorgen, sollte man Kleinstunternehmerinnen fördern, die dann Solaranlagen aufbauen und vor Ort Elektrizität verkaufen könnten. Oder: Um Korruption zu bekämpfen, sollten öffentliche Beschaffungsmaßnahmen transparent ins Internet gestellt werden - dann könne klagen, wer unfaire Vorteilsnahme vermute. Oder: Um die Innovationskraft Asiens zu stärken, sollte der Studentenaustausch nach dem Vorbild des Erasmus-Programms der EU gefördert werden.
Der Top-Down-Ansatz ist gescheitert: "Localize global problems!"
Gegen Ende der Konferenz tritt Pascal Lamy ans Rednerpult. Kahler Schädel, durchtrainiert, Drei-Tage-Bart. Bis voriges Jahr war der Franzose Chef der Welthandelsorganisation WTO. Einen großen, globalen Handelsabschluss hat er in seiner Amtszeit nicht hinbekommen. Zu zahlreich die Spieler, zu komplex die Themen.
Vermutlich ist Lamy deshalb zu dem Schluss gekommen, einen Masterplan zur Rettung der Welt könne es nicht geben. Der alte Top-Down-Ansatz, bei dem sich ein Haufen Regierungsvertreter zusammensetzt und dann der Welt eine große, umfassende Lösung präsentiert - der sei gescheitert. Es gehe nur so: "Don't globalize local problems, but localize global problems." Globale Probleme müsse man eben konkret vor Ort angehen.
Und weil das arg kleindimensional klingt, zieht Lamy dann doch noch einen dicken Strich unter das große Bild: Wirtschaft und Gesellschaft seien dabei, sich zu entkoppeln, sagt er. "Wir müssen das ökonomische System wieder in den Gesellschaften verankern."
Na bitte! Geht doch.
Henrik Müller, Professor an der TU Dortmund und sonntäglicher Kolumnist auf manager magazin online ("Müllers Memo"), engagiert sich beim GES als Moderator.