Wirtschaftsprognosen Wie die Deutschland-Statistiker irren

Aufwärts: Deutschland könnte auch 2011 mit rund 3 Prozent wachsen
Foto: dapdHamburg - Im Januar veröffentlicht das Statistische Bundesamt traditionell eine erste Schnellschätzung für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im abgelaufenen Jahr. Die Datengrundlage ist zu diesem Zeitpunkt zwar noch sehr unvollständig: Über den Dezember liegen noch keinerlei Informationen vor; Daten zur Produktion in der Industrie und im Baugewerbe sind frühestens Anfang Februar verfügbar, ähnlich verhält es sich mit harten Zahlen zum Umsatz im Handel und im Gastgewerbe; Daten zum Dienstleistungssektor kommen ohnehin erst viel später.
Wer die konjunkturelle Entwicklung nicht Monat für Monat genau verfolgt, für den ist diese Schnellschätzung gleich nach Ablauf des Jahres gleichwohl eine wertvolle Information. Um 3,6 Prozent soll sich die Leistung der deutschen Wirtschaft nach den aktuellen Schätzungen aus Wiesbaden im Jahr 2010 erhöht haben. Das wäre rund ein halber Prozentpunkt weniger, als der manager-magazin-Konjunktur-Indikator fürs Gesamtjahr 2010 ausweist. Wir von Kiel Economics berechnen diesen Indikator exklusiv für mm; es ist die einzige monatlich aktualisierte BIP-Vorhersage in Deutschland.
Wie wir im aktuellen manager magazin darlegen, sind unsere Prognosen auch für 2011 deutlich höher als die aller anderen Institute. Aktuell steht der mm-Indiktor bei 3,4 Prozent. Tendenz: steigend. Sollte uns das zu denken geben? Wenn wir so weit über den Zahlen der anderen liegen, machen wir dann einen systematischen Fehler? Um vorschnelle Schlüsse zu vermeiden: Unser Ziel ist es nicht, die erste Schätzung des Statistischen Bundesamts möglichst exakt zu treffen, sondern das letztliche ökonomische Ergebnis korrekt vorherzusagen.
Mehr als 3,6 Prozent Wachstum sind wahrscheinlich
Und allein im laufenden Jahr wird das Amt noch weitere Schätzungen veröffentlichen, die deutlich vom Wert 3,6 Prozent abweichen dürften. Mutmaßlich nach oben. Denn das Amt revidiert die BIP-Zahlen immer wieder. Nächster Termin dafür ist bereits der 15. Februar. Dann wird die offizielle Schätzung zum BIP im Schlussquartal 2010 bekannt gegeben, die dann die Dezember-Daten zur Industrieproduktion und zum Einzel- und Großhandels- und Gastgewerbeumsatz sowie erste Erkenntnisse über das Ausmaß der Steuereinnahmen im abgelaufenen Quartal enthalten.
Im weiteren Verlauf des Jahres wird das Amt die BIP-Daten für 2010 voraussichtlich weiter anpassen. Wie die Konjunktur im aktuellen Jahr läuft, darüber wird es erstmals Anfang Mai Auskunft aus Wiesbaden geben, wenn die erste Schätzung zum Bruttoinlandprodukt im ersten Quartal 2011 eröffentlicht wird. Dann wird auch eine überarbeitete Schätzung für das Schlussquartal 2010 vorgestellt, die sich aufgrund einer mittlerweile wieder umfangreicheren Datengrundlage abermals von der ersten und der zweiten Schnellschätzung unterscheiden dürfte.
Statistik: Die langwierige Suche nach der Wahrheit
Richtig zur Sache geht es dann im August: Dann werden mit den ersten Schätzungen für das zweite Quartal 2011 nicht nur neue Schätzungen für das Winterhalbjahr 2010/2011 vorgelegt, sondern die gesamte nähere ökonomische Vergangenheit umgeschrieben: Bis dahin werden alle in den vergangenen drei Jahren veröffentlichten Daten im Lichte immer noch eintreffender neuer Informationen neu berechnet und falls notwendig revidiert. Doch selbst jene Daten, die vor dem jeweiligen Dreijahreszeitraum liegen, können noch nicht als unverrückbare wirtschaftliche Fakten gelten.
Bei größeren Umstellungen der Berechnungsmethoden - so etwas kommt alle fünf bis zehn Jahre vor, die nächste steht für 2012 an - werden auch sie noch einmal in die Luft geworfen und so verändert, dass sie mit den neueren Daten vergleichbar sind. Für Statistiker ist die Suche nach der Wahrheit ein langwieriger und mühsamer Prozess.
Man mag diese schrittweise Annäherung an ein niemals endgültiges Ergebnis lästig finden, zumal die Revisionen zuweilen beträchtlich sind: Für das Jahr 2006 beispielsweise lag die erste Schätzung über das BIP-Wachstum bei 2,5 Prozent; heute wird die Zunahme auf 3,4 Prozent taxiert. Die Schnellschätzung für 2008 lag bei 1,3 Prozent, heute steht die Rechnung bei 1,0 Prozent.
Die Allwissenheit der chinesischen Statistikbehörde
Manch einer wünscht sich da vielleicht eine vorgebliche Allwissenheit, wie sie die chinesischen Statistikbehörde hat: Die kennt bereits heute, und damit drei Wochen vor den deutschen Behörden und sogar schneller als die sehr flinke US-Statistik, den Anstieg der Wirtschaftsleistung im Schlussquartal 2010 in ihrem Berichtsgebiet. Vor allem aber kennt sie diese offenbar in einer Qualität, die es nicht notwendig macht, Revisionen vorzunehmen; die chinesischen Statistiken werden generell nach der Veröffentlichung nicht weiter angepasst, außer bei großen methodischen Veränderungen.
Aber möchte man den Zahlen wirklich trauen? Die Alternative: der mm-Indikator.
Der ist so konstruiert, dass er die Revisionen des Statistischen Bundesamtes bereits vorwegzunehmen versucht. Dies funktioniert, weil er auf Befragungen von Managern basiert, die nicht revidiert werden, sowie auf 60 Jahren Daten für das BIP, die - bis auf die jüngsten Werte - als relativ gesichert angesehen werden können. Deshalb lag er beispielsweise Ende 2008 schon unter jenen 1,3 Prozent, mit denen das Amt im Januar 2009 als erster Schnellschätzung für das abgelaufene Jahr heraus kam - und die es mittlerweile auf 1,0 Prozent revidiert hat.
Aktuell halten Deutschlands Manager den amtlich ausgewiesenen Anstieg des BIP von 3,6 Prozent im Jahr 2010 für untertrieben. Der mm-Indikator für das abgelaufene Jahr steht bei 4,1 Prozent. Das Statistische Bundesamt wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahl für 2010 im Jahresverlauf noch etwas nach oben anpassen. Und auch 2011, so sieht es momentan aus, wird die deutsche Wirtschaft abermals die gängigen Vorhersagen weit übertreffen.