Gespräch mit Goldman-Sachs-Chefvolkswirt und Europa-Anlagechef der Allianz Brexit, Flüchtlingskrise, Schulden - zerbricht Europa?

Britisches Pfund, US-Dollar, Hong Kong Dollar, Euro: Die Anlagestrategen von Allianz Global Investors und Goldman Sachs sind optimistisch, dass Europa die aktuellen Krisen übersteht. Die Europäische Idee sei "so groß, dass sie weitere Jahrzehnte halten wird"
Foto: REUTERSZerbricht Europa? Und wenn ja: mit welchen ökonomischen Folgen? Dirk Schumacher, Goldman-Sachs-Chefvolkswirt für Deutschland, und Jörg de Vries-Hippen, Europa-Aktienchef von Allianz Global Investors, sind trotz aller Krisensignale viel optimistischer für den Kontinent als es die aktuelle Lage erwarten lässt. Wie sie ihre Zuversicht begründen, warum das China-Problem beherrschbar ist und welche Hoffnung sie auf Russland setzen, sagen sie im Gespräch mit manager-magazin.de.
mm: Meine Herren, es scheint, als sei Europas Niedergang kaum aufzuhalten. Die Flüchtlingskrise entzweit die Union, die Schuldenkrise ist ungelöst, Großbritanniens Austritt aus der EU wird immer realistischer. Droht ein verlorenes Jahrzehnt?
de Vries-Hippen: Das ist mir zu negativ. Dass wir Probleme haben, ist offenkundig. Aber das sind hauptsächlich politische Probleme, wo sich unglaubliche Differenzen offenbaren. Europa ist immer stärker geworden in Krisenzeiten. Die Idee ist so groß, dass sie weitere Jahrzehnte halten wird.
Schumacher: Es gibt sicherlich große Herausforderungen. Kurzfristig die größte ist der Brexit, mittelfristig noch gravierender ist die Flüchtlingskrise. Hier bergen nationale Lösungen die Gefahr, dass der Handel massiv Schaden nimmt. Spätestens dann, wenn Österreich die Grenze zu Italien schließt. Deshalb ist es so wichtig, die Außengrenzen zu schützen. Dass die Bundesregierung im Herbst im Alleingang die Türen für Flüchtlinge aufgemacht hat, macht eine gemeinsame Lösung nicht gerade einfacher. Aber ich glaube, dass wir die Krise lösen können.
mm: Aber was macht Ihnen Hoffnung, dass es gut ausgeht - außer die historische Gewissheit, dass es noch immer so gekommen ist?

Dirk Schumacher ist Chefvolkswirt von Goldman Sachs für Deutschland.
Schumacher: Die Vermutung, dass es letztlich ein großes Maß an Rationalität und keine besseren Alternativen gibt. Das haben wir ja in der Griechenland-Krise gesehen, als wir ganz tief in den Abgrund schauen mussten.
mm: Aber gelöst ist dieses Problem dadurch nicht!
Schumacher: Nein, aber es hätte viel schlimmer kommen können. Wenn der Druck groß genug ist, hat man sich bislang noch immer geeinigt. Das ist keine Garantie, aber es spricht dafür, dass es wieder so kommt.
de Vries-Hippen: Ich fürchte auch, dass wir noch etwas mehr in den Abgrund schauen müssen, eher wir eine Lösung hinkriegen. Dabei ist Angst eigentlich der schlechteste Ratgeber. Mit Emotionen kriegt man keine Krise gelöst.
mm: Der Ausgang des britischen Referendums zum Verbleib in der Europäischen Union wird stark von Tagesaktualität bestimmt sein. Das ist doch hoch riskant, oder?
de Vries-Hippen: Schon, aber wir stehen ja erst am Anfang der Debatte. Mich stimmt positiv, was der britische Premier David Cameron in den Verhandlungen mit den Europäern sagt: dass Europa seine Struktur grundlegend reformieren muss. Das will die Mehrheit der Deutschen auch.
mm: Aber abstimmen müssen die Briten, nicht die Deutschen!

Jörg de Vries-Hippen ist Europa-Aktienchef von Allianz Global Investor.
de Vries-Hippen: Sicher, aber die öffentliche Diskussion bringt Europa weiter. Es wäre unglaublich schwierig, wenn die Briten nicht mehr Mitglied der EU wären. Das, was Cameron fordert, würde Europa gut tun.
mm: Die Gefahr ist groß, dass nach einem Brexit der Einfluss protektionistischer Kräfte in Europa immer stärker wird. Deutschland wäre fast isoliert.
Schumacher: Ein Brexit würde die Gewichte innerhalb der EU verschieben. Das ist sicherlich ein guter Grund dafür zu kämpfen, dass die Briten drinbleiben. Andererseits: Der Freihandel in der EU würde ja nicht einfach so verschwinden. Dafür garantieren schon Frankreich und Deutschland.
Hat die EZB die Lage noch im Griff?
mm: Nicht, wenn Marine Le Pen französische Präsidentin wird. Sie liebäugelt offen mit dem Austritt aus der Eurozone, neuen Handelsbarrieren, der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien. Das ist das Gegenteil von Freihandel.
Schumacher: Le Pen ist bei vielen Positionen inzwischen zurückgerudert, zum Beispiel was ein Referendum zum Austritt aus der Eurozone angeht.
de Vries-Hippen: Wenn ich alles ernst nehmen würde, was Politiker vor einer Wahl sagen, dann wäre das politische System heute ein völlig anderes. Also ruhig Blut.
mm: Kommen wir zur Europäischen Zentralbank (EZB), die ihr Programm zum Ankauf von Staatsanleihen immer stärker ausweitet und damit indirekt Staatsfinanzierung betreibt. Hat sie die Lage noch im Griff?
Schumacher: Ich kann die jüngsten Maßnahmen der EZB nachvollziehen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung im Dezember gab es genügend Prognosen dafür, dass die Inflation weiter sinken wird und die EZB handeln muss, um glaubwürdig zu bleiben. Dabei macht es makroökonomisch kaum einen Unterschied, ob das Ankaufprogramm länger läuft oder nicht. Wir erwarten sogar, dass die EZB das Programm nochmals verlängern wird, um sicherstellen, dass wir nicht noch einmal eine Situation wie im Sommer 2012 erleben, als kein Mensch mehr europäische Staatsanleihen kaufen wollte.
de Vries-Hippen: Die Zinsen bleiben für längere Zeit niedrig, und einige Staaten brauchen das auch. Um endlich etwas Inflation zu erzeugen, benötigen wir ohnehin andere Impulse, steigende Ölpreise etwa. Wobei die einzige echte Inflationsquelle steigende Löhne sind. Und die sehen wir ja bereits. In Europa wird mehr konsumiert, Arbeitsplätze entstehen. Das kann die Inflation beflügeln.
mm: In den USA hat die Federal Reserve inzwischen die Zinsen angehoben. Zur rechten Zeit?
Schumacher: Ich glaube, die Entscheidung war damals vertretbar. Allerdings würde die Fed anhand der heutigen, eingetrübten Konjunkturdaten sicherlich anders entscheiden. Insgesamt scheint mir dennoch, dass die US-Wirtschaft passabel läuft. Dafür ist der Arbeitsmarkt ein besserer Indikator als das Bruttoinlandsprodukt. Wir glauben daher nach wie vor, dass die Fed 2016 noch vier Mal die Zinsen erhöhen wird, allerdings nicht schon im März. Dafür waren die letzten US-Konjunkturdaten eben doch zu schwach, zumal ungewiss ist, wie es mit Chinas Wirtschaft weitergeht.
mm: Halten Sie die Angst vor einem China-Crash für übertrieben?
Schumacher: Das Land steht vor riesigen Herausforderungen, hat aber viel mehr Möglichkeiten als andere. So ist China nicht auf ausländisches Kapital angewiesen. Peking könnte also nötigenfalls die Kapitalausfuhr beschränken. Das wäre zwar ein Rückschritt in den Bemühungen, den Renminbi freizugeben. Aber die Macher werden lieber einen Schritt zurückgehen und dann wieder zwei nach vorn. Die Regierung darf bei allem Mikromanagement nur nicht das große Bild aus den Augen verlieren: den Weg in Richtung Marktwirtschaft.
"Die Stimmung in Europa dreht sich"
de Vries-Hippen: Das sehe ich ganz ähnlich. Im 19. Jahrhundert gehörte China zu den mächtigsten Wirtschaftsnationen der Erde, und das sind sie jetzt auch wieder. Das Land ist in einem gigantischen Modernisierungsprozess und versucht jetzt vor allem, die Binnennachfrage zu stärken. Wie wir Deutsche auch.
mm: Das ist ja ein relativ neues Phänomen für Deutschland und genau das, was der Internationale Währungsfonds und andere jahrelang gefordert haben, worauf die Deutschen oftmals beleidigt reagiert haben.
de Vries-Hippen: Und das haben wir unter anderem der Flüchtlingskrise zu verdanken. Denn der Staat ist gezwungen, seine Ausgaben zu erhöhen, um das Problem in den Griff zu kriegen. Das unterstützt den Konsum. Der erste wirtschaftliche Effekt der Krise ist also positiv.
mm: Systematische Wirtschaftspolitik sieht allerdings anders aus...
de Vries-Hippen: Schon klar. Aber hinzu kommen ja auch noch die Negativzinsen, die den Konsum anregen.
Schumacher: Die Stimmung in Europa dreht sich, der Arbeitsmarkt erholt sich auf breiter Front, die Menschen haben wieder mehr Zuversicht. Es wird mehr verdient und konsumiert. Wir haben noch nicht volle Flughöhe erreicht, aber die Situation ist viel besser als noch vor zwölf Monaten. Es bräuchte schon einen viel größeren Schock als früher, um den Zug wieder zum Entgleisen zu bringen.
mm: Noch einmal zurück zu China: Wie brisant ist die wirtschaftliche Abschwächung für die Exportnation Deutschland? Und könnte etwa Iran einspringen nach Aufhebung der Sanktionen?
de Vries-Hippen: Iran ist ein Sonderfall, das kann ich nicht absehen. Aber China fällt ja nicht aus als Absatzmarkt, viele deutsche Unternehmen setzen dort so viel um wie noch nie! Das Land ist halt nicht mehr die verlängerte Werkbank des Westens. Viele Ausländer produzieren direkt vor Ort für den chinesischen Markt. Das fällt dann aus der Exportstatistik heraus.
Schumacher: Natürlich stagnieren Deutschlands Ausfuhren nach China. Aber die Zuwächse in die USA und nach Frankreich kompensieren das. Was ein willkommener Sondereffekt für deutsche Exporteure wäre: Wenn die Sanktionen gegen Russland aufgehoben würden. Das wäre vor allem für unsere Maschinenbauer positiv.
de Vries-Hippen: In der Tat: Russland ist viel wichtiger als Iran. Und die müssen ihre Einfuhren ja auch erst einmal finanzieren.
Schumacher: Da werden durch die Aufhebung der Sanktionen 100 Mrd. Dollar frei, aber wo die landen werden, weiß man eben noch nicht.
mm: Die Lage in Europa ist also besser als die Stimmung, zugleich aber die Gefahr unvorhersehbarer Ereignisse, sogenannter "schwarzer Schwäne", größer denn je. Was sollten risikobewusste Anleger mit mittlerem Anlagehorizont jetzt tun?
de Vries-Hippen: Jedenfalls keine Anlageklasse explizit ausschließen. Wer kein Geld verlieren will, sollte stärker in Aktien investieren, vor allem in europäische Titel.
mm: Es sei denn, man glaubt, dass Europa den japanischen Weg gehen und jahrelang stagnieren wird ...
de Vries-Hippen: Davon kann bei einer Million Zuwanderer in einem Jahr nun wirklich keine Rede sein!