Vier Szenarien für die britische Wahl Warum die Wahl der Briten wieder alles spannend macht

Fernsehdebatte der Spitzenkandidaten ohne Theresa May
Foto: WPA Pool/ Getty ImagesDie britische Parlamentswahl an diesem Donnerstag hat Schock-Potenzial. Sir David Butler, ein Veteran der Wahlforschung, sieht laut "Huffington Post" "eine größere Bewegung in den Umfragen während des Wahlkampfs als vor jeder anderen Wahl, die ich seit 1945 begleitet habe". Damals musste der überparteilich als Kriegsheld gefeierte Winston Churchill einer Labour-Regierung Platz machen, die anschließend den britischen Sozialstaat einführte.
Ein ähnliches Resultat erscheint plötzlich zumindest möglich. Die aktuelle Premierministerin Theresa May hat zwar keinen Krieg gewonnen, aber immerhin den "harten Brexit" gegen die EU versprochen. Die eigentlich erst 2020 fällige Wahl hat sie extra vorgezogen, um sich dafür ein Mandat zu holen. Nach den Umfragen von Mitte April schien die Gelegenheit günstig: 50 Prozent für ihre Konservative Partei gegen 25 Prozent für die Labour-Partei unter Linksaußen Jeremy Corbyn.
Doch in den zwei Monaten seitdem hat May das Heimspiel zum Thema Brexit vergeigt. Schon in diesem Kernthema ändert sie ständig ihre Positionen oder lässt zentrale Fragen offen. Ihr Wahlprogramm mit der "Demenzsteuer" genannten Privatisierung der Pflegekosten kam denkbar schlecht an und wurde schnell geändert. Zur TV-Debatte trat sie gar nicht erst an.
Selbst die jüngsten Terrorattacken - unter normalen Umständen Wahlhilfe für die Konservativen als Partei der Sicherheit - brachten Mays Verantwortung für Kürzungen im Polizeietat ans Licht und die eher hilflos wirkende Haltung, zur Not die Menschenrechte aufzugeben. May ist nicht einmal stark und stabil genug, um noch zum Wahlkampfslogan "strong and stable" zu stehen.
In der Zwischenzeit hatte Jeremy Corbyn reichlich Gelegenheit, sich als wählbare Alternative mit populärem Programm zu präsentieren - und nicht als der Bürgerschreck, als den ihn der Großteil der Medien und sogar die meisten Abgeordneten seiner eigenen Partei schmähten. Die "Corbynmania" der jungen linken Basis erlebt nun nach seiner überraschenden Wahl zum Parteichef und anschließenden Wiederwahl ihre dritte Auflage.
Alle Prognosen sehen weiterhin einen Sieg der Konservativen voraus - aber nur noch in etwa mit der Gewissheit, mit der sie ein Pro-EU-Votum im Referendum 2016, die Niederlage Donald Trumps in der US-Präsidentenwahl oder der britischen Tories ein Jahr zuvor weissagten. In jedem dieser Fälle kam es anders. Auch die jetzige Wahl kann innerhalb der Fehlermarge der Prognosen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen - mit weitreichenden Folgen für Wirtschaft und EU. Hier sind die wichtigsten Szenarien.
Die Eiserne Lady

Premierministerin Theresa May
Foto: Getty ImagesIhr Wahlziel hätte Theresa May erreicht, wenn sie die aktuell knappe Mehrheit ihrer Konservativen Partei im Unterhaus deutlich ausbauen würde. Sie müsste dann keine Rücksicht auf Abweichler mehr nehmen und könnte die Partei, in der sich noch reichlich Brexit-Skeptiker tummeln ebenso wie noch radikalere EU-Gegner, auf ihre Linie einschwören. Das Bild der "eisernen Lady" soll an Amtsvorgängerin Margaret Thatcher erinnern, die zweimal wiedergewählte Tory-Ikone.
Der aktuelle Wahlkampf lässt dieses Bild abwegig erscheinen. Doch nur das Ergebnis am Donnerstagabend zählt. Einige wenige Umfragen sehen weiterhin einen Vorsprung der Konservativen von 10 Prozentpunkten oder mehr voraus - immerhin haben sie mit ihrem Brexit-Kurs praktisch die gesamte Wählerschaft der Anti-EU-Partei UKIP absorbiert.
Und selbst wenn andere Institute Recht behalten und Labour ähnlich viele Stimmen einsammelt wie die Tories, könnten diese vom britischen Mehrheitswahlrecht profitieren. Die Labour-Wähler konzentrieren sich in urbanen Wahlkreisen, mit Blick auf die Sitzverteilung im Parlament bedeuten die dort satten Mehrheiten verschenkte Stimmen.
Plausibel erscheint das Szenario wegen des historisch bekannten "Shy-Tory"-Effekts. Traditionell melden sich in Umfragen weniger konservative Wähler, als dann tatsächlich zur Wahl gehen. Vor allem ältere Wähler neigen zu hoher Wahlbeteiligung und zu den Konservativen, "Demenzsteuer" hin oder her. Allerdings rechnen die Institute diesen Effekt bereits ein und korrigieren die Umfragen für May um ein paar Punkte nach oben.
Am Finanzmarkt gilt eine Wiederwahl Mays mit folgendem Hard Brexit als "eingepreist". So unangehm die Brexit-Folgen erscheinen, die Alternativen könnten noch unangenehmer werden.
Weak and Wobbly

Parlamentssitzung zur Neuwahl im April
Foto: AFPAls wahrscheinlichster Fall muss gelten, dass die Konservative Partei ihre Mehrheit im Parlament verteidigt, aber nur so gerade eben. Nach der Wahl wären die Machtverhältnisse so wie vor der Wahl - mit dem Unterschied, dass May sich an den zuvor hohen Erwartungen messen lassen müsste und als führungsschwach erscheinen würde. Sollte die Partei sogar Sitze verlieren, könnte die Ära May nach einem knappen Jahr schon wieder vorbei sein.
Eine Regierung zu bilden, wäre noch die leichte Übung. Aber wofür diese Regierung dann steht, wäre vermutlich eher erratisch, weil sie nervös auf inner- wie außerparteiliche Opposition reagieren und zugleich mit Verzweiflungstaten Stärke beweisen wollen würde. Sie könnte im einen Moment die Energieversorger verstaatlichen, im nächsten den Gesundheitsdienst zerschlagen, internationale Konzerne mit Steuerrabatten anlocken und Millionen EU-Bürger ausweisen - oder das Gegenteil.
All das ist im May-Universum möglich, das seit dem Brexit-Referendum herrschende Chaos würde zum Dauerzustand. Auch die EU-Unterhändler müssen sich auf weiterhin wechselnde Positionen einstellen. Dumm nur, dass mit dem vor der Wahl begonnenen Austrittsverfahren die Uhr tickt. Im März 2019 verlässt Großbritannien die EU, auch wenn bis dahin keine Einigung für Übergangsregeln steht. "Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal", heißt die May-Doktrin.
Hung Parliament

Brexit-Minister David Davis, innerparteilicher May-Rivale
Foto: Gareth Fuller/ APWenn der Stimmenvorsprung der Konservativen auf 3 Prozentpunkte oder weniger schrumpft, ist ihre absolute Mehrheit im Parlament wohl futsch - genau damit rechnet das Online-Umfrageinstitut Yougov. Dann wäre ein Rücktritt Mays und eine innerparteiliche Revolte zu erwarten, in jedem Fall eine schwierige Regierungsbildung. Von einem "hung parliament" sprechen die Briten, die absolute Mehrheiten gewöhnt sind.
Eine Koalition wie 2010 bis 2015 haben die Liberaldemokraten als mögliche Mehrheitsbeschaffer bereits ausgeschlossen. Sollte sie doch kommen, wäre das die größte Hoffnung der EU-Befürworter, den Brexit doch noch zu kippen - doch die ist minimal. Die Liberalen wollen zwar ein zweites Referendum über das Ergebnis der Brexit-Verhandlungen, doch auch sie rechnen nicht mit einem Erfolg. Außerdem haben sie, von ihren Wählern für den radikalen Sparkurs der Regierungszeit abgestraft, sich ein eher linksliberales Programm mit höheren Steuern gegeben.
Wahrscheinlicher wäre eine konservative Minderheitsregierung mit Unterstützung der nordirischen Unionisten, die aber untereinander zerstritten sind und zudem in der Krise ihres eigenen Landes mit Neuwahlen in Serie stecken. Zudem müsste sie darauf zählen, dass die irischen Nationalisten von Sinn Fein ihre Mandate in London weiterhin nicht annehmen und so die Zahl der für eine Mehrheit benötigten Sitze reduzieren - auch alles andere als stark und stabil.
Corbyn an der Macht

Labour-Parteichef Jeremy Corbyn
Foto: RUSSELL CHEYNE/ REUTERSÜber dieses Szenario hätten noch vor wenigen Wochen viele gelacht. Für eine eigene Mehrheit bräuchte Labour wohl einen Stimmenvorsprung von rund 10 Prozentpunkten, um auch ländliche Wahlkreise und die verlorenen Bastionen in Schottland zurückzugewinnen. Aber der Trend der Umfragen zeigt seit Beginn des Wahlkampfs unbeirrbar in diese Richtung. Nötig wäre nur noch ein im Rahmen der Fehlertoleranz liegender Irrtum der Prognostiker.
Außerdem hätte Jeremy Corbyn ohne eigene Mehrheit größere Chancen, Premier zu werden, als ein konservativer Kandidat. Mit den Liberaldemokraten, den schottischen, walisischen oder irischen Nationalisten und den Grünen könnte Labour leicht auf eine gemeinsame Linie kommen - vordergründig das Horrorszenario für viele in der Londoner City.
Andererseits böte das wohl die beste Chance, den Brexit ohne größeren Schaden über die Bühne zu bringen. Labour selbst verspricht, Großbritannien im Binnenmarkt zu halten und die Rechte der im Land lebenden EU-Bürger zu garantieren. Die EU-freundlichen Koalitionspartner würden das noch stärken.
Wirtschaftspolitisch würde Jeremy Corbyn tatsächlich eine Wende einläuten, mit der (Rück-)Verstaatlichung von Bahn, Post und Energienetzen, spürbar höheren Ausgaben für Gesundheit und Bildung inklusive gebührenfreien Unis. Finanzieren sollen das neben höheren Steuern für Reiche auch neue Schulden. Doch angesichts der chronischen Investitionsschwäche des Landes finden zahlreiche prominente Ökonomen, das sei "genau das, was Großbritannien jetzt braucht".
Die meisten Devisenmarktexperten rechnen für den Fall eines Labour-Siegs mit einem weiteren Pfund-Absturz. Aber "wenn der Staub sich einmal gelegt hat, wird der Markt Labour als ein gar nicht so schlechtes Ergebnis sehen", meint Jordan Rochester von der Nomura-Bank.