Tiefer geht´s nimmer? Von wegen Was Sie über Minuszinsen wissen müssen

Protest gegen EZB-Präsident Mario Draghi (Archiv, 2015): Es gibt einfach zu viel Geld
Foto: REUTERSEtwas verrückt kann es einem schon vorkommen: Zinsen dafür zahlen, dass man Geld anlegt, und welche kassieren dafür, dass man Geld ausleiht? Genau das ist das Prinzip negativer Zinsen. Es treibt kuriose Blüten wie die, dass Schweizer Kantone ihre Bürger anflehen, ihre Steuerschuld doch bitte nicht zu früh zu begleichen, oder dass Deutsche-Bank-Chef John Cryan meint, Kunden mit allzu großen Geldanlagewünschen müsste man eigentlich abweisen.
Doch was scheinbar alle wirtschaftlichen Grundsätze auf den Kopf stellt, wird zunehmend normal, und die erneute Zinssenkung der Europäischen Zentralbank an diesem Donnerstag dürfte den Trend verstärken. Der EZB-Rat "erwartet, dass die Leitzinsen für längere Zeit auf dem jetzigen oder einem noch niedrigeren Niveau liegen werden", sagte Draghi im Anschluss an die heutige Zinssenkung.
Neben der EZB haben auch die Zentralbanken Japans, Dänemarks, Schwedens und der Schweiz eine Negativzinspolitik gewählt. Ein gutes Viertel der Staatsanleihen weltweit, der liquideste Teil des Kapitalmarkts mit mehr als sechs Billionen Dollar Nennwert, wird bereits zu Renditen unter null gehandelt.
Es wird Zeit sich an negative Zinsen zu gewöhnen - und sich einigen Irrtümern zu stellen.
Irrtum 1: Negative Zinsen sind Strafzinsen
Diese Formulierung über negative Zinsen findet sich in der deutschen Öffentlichkeit immer wieder, zugegebenermaßen auch auf manager-magazin.de. Damit schwingt eine moralische (oder juristische) Bewertung in dieser wirtschaftlichen Frage mit. Gibt es ein Recht auf Rendite? Wohl eher nicht.
Tatsächlich wird Sparen mit Minuszinsen in dem Sinn "bestraft", dass es unattraktiv wird. Die positive Kehrseite davon ist, dass (in der Regel kreditfinanzierte) Investitionen belohnt werden, also an Attraktivität gewinnen. Das überschüssige angesparte Kapital, das seit Jahren keine produktive Verwendung findet, wird in Richtung der Realwirtschaft gelockt. Dieser Marktanreiz ist der Kernzweck der Negativzinspolitik.
Irrtum 2: Minuszinsen sind künstlich
Mit "künstlich" und "planwirtschaftlich" argumentiert die AfD in ihren per Mitgliedervotum erkorenen Bausteinen für ein Parteiprogramm. Ähnliche Gedanken ziehen aber auch weitere Kreise als nur am rechten Rand. Tatsächlich sind negative Zinsen genauso künstlich, wie es positive Zinsen sind: Sie sind Konditionen, zu denen die Zentralbanken den Geschäftsbanken Geld anbieten, und die können diese Bedingungen dann an ihre Kunden weiterreichen oder auch nicht.
Einen "natürlichen" Zins gibt es nur in einem beschränkten theoretischen Sinn. Der für die Geldpolitik angemessene Satz, nach der aus Inflation und Arbeitslosenrate berechneten Taylor-Regel, hätte zum Höhepunkt der Finanzkrise sechs oder sieben Prozentpunkte unter null gelegen. Die weit unter dem Ziel der EZB verharrende Inflationsrate spricht dafür, dass es nach wie vor weiter nach unten gehen müsste.
Man kann den Zentralbanken ihre Rolle bei der Geldversorgung natürlich grundsätzlich abstreiten. Aber würde ein vollkommen freier Markt zu einem anderen Ergebnis führen? Angebot und Nachfrage haben ja auch vor der Negativzinspolitik schon zu Minusrenditen für manche Anleihen geführt.
In Zeiten des Kapitalüberschusses und zumal mit negativen oder sehr niedrigen Inflationsraten kann es völlig rational sein, Geld mit der Aussicht auf (moderaten) Wertverlust anzulegen, wenn man riskantere Anlagemöglichkeiten scheut.
Irrtum 3: Viel tiefer geht es nicht
Die "Untergrenze null" spielt in der ökonomischen Diskussion eine große Rolle, John Maynard Keynes hatte das Wort von der "Liquiditätsfalle" geprägt: Wenn eine durch Nachfragemangel erzeugte Wirtschaftskrise so schwer wird, dass Geldangebot und -nachfrage selbst mit einem Zins von null nicht ins Gleichgewicht zu bringen sind, ist die Geldpolitik mit ihrem Latein am Ende. Wer würde Geld zu Minuszinsen auf der Bank lassen, wenn man genauso gut zu Hause Bargeld horten kann, wo der Nullzins garantiert ist?
Tatsächlich fürchten die Banken diese Reaktion von Kleinsparern und scheuen sich deshalb, Einlagen mit Negativzinsen zu belegen. Auf der anderen Seite bringt auch das Horten von Bargeld Kosten mit sich (allein schon für die Sicherheit), die größer sein können als die Minuszinsen auf dem Konto.
Vor allem für Anleger, die mit großen Summen hantieren, wie Versicherungen, Fonds oder die Banken selbst, ist Bargeld keine Alternative - schon allein, weil es bei weitem nicht genug davon gibt, um alle elektronischen Forderungen zu decken.
Die neuere Erfahrung lehrt, dass die Zentralbanken den Einlagenzins auf bis zu minus 1,25 Prozent wie in Schweden senken können, ohne dass das Geldsystem kollabiert - weitere Senkungen stehen noch zur Diskussion. Die Ökonomen von JPMorgan schätzen, dass die EZB sogar minus 4,25 Prozent statt nur minus 0,4 Prozent durchsetzen könnte, solange die Zinsen nur den Teil der Einlagen betreffen, der keine reale Chance zur Flucht hat.
Irrtum 4: Es gibt doch gar keine Deflation
So argumentieren derzeit die deutschen Sparkassen, die wegen der großen Bedeutung des Einlagengeschäfts zu den größten Verlierern der Negativzinspolitik gehören: Die EZB handle ohne echte Not, denn die Inflationsrate sei derzeit nur deshalb unter null, weil Rohstoffe wie Öl oder Nahrungsmittel billiger werden, was sich jederzeit umkehren könnte.
Die Kerninflationsrate, die tatsächlich ein verlässlicheres Bild abgibt, ist zwar positiv, sinkt aber weiter unter 1 Prozent - und entfernt sich damit vom 2-Prozent-Ziel der EZB. Zu niedrige Inflation hat wirtschaftlich aber ähnliche Folgen wie ein Sinken in den negativen Bereich: Investitionen lohnen sich weniger, Konsum wird möglicherweise aufgeschoben, vor allem aber wiegt die Last der Schulden schwerer auf Unternehmen und Bürgern.
Die große Gefahr, gegen die sich die EZB richtet, ist weniger eine dramatische Abwärtsspirale der Deflation als ein dauerhaftes Gewöhnen der Wirtschaft an Nullinflation, Nullzinsen und Nullwachstum. Und diese Gefahr der langfristigen Lähmung ist in Europa sehr real, vor allem jedoch schwieriger zu beantworten als das umgekehrte Risiko, dass eine zu lockere Geldpolitik plötzlich in hohe Inflation umschlagen könnte.
Die EZB hat sich schon wiederholt beim kleinsten Anzeichen von Inflation als zu vorsichtig erwiesen - auch deshalb traut der Markt ihr heute kaum Schlagkraft zu, um 2 Prozent Inflation durchzusetzen.
Irrtum 5: Das ist jetzt aber wirklich das letzte Mittel
Wie die noch negativeren Zinsen in Nachbarländern zeigen, sind der Fantasie der Geldpolitik kaum Grenzen gesetzt. Vor allem die Ausweitung der Geldbasis ist theoretisch unbegrenzt: Die EZB hat die Macht, immer neue Euro aus dem Nichts zu erschaffen. Es kann also längst keine Rede davon sein, dass sie mit allen Mitteln kämpft.
Hürden gibt es allerdings, vor allem politischer und juristischer Art. Schwerer als mögliche ungewünschte Nebenwirkungen wie vor allem Probleme der Banken, auf Kosten deren Profite die Negativzinsen in erster Linie gehen, wiegt aber die Sorge, dass der Effekt der Politik schlicht zu gering ist: Sie schadet kaum, nützt aber auch wenig, wenn es jenseits der Zinsen einfach an Anreizen zum Investieren mangelt.
Warum Banker nicht mit Minuszinsen umgehen können
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