Spieltheorie Wie die irre Strategie von Varoufakis aufgehen könnte

Souveränes Verhandeln ist, wenn man trotzdem lacht: Griechenlands Finanzminister Varoufakis (r.) mit IWF-Chefin Christine Lagarde und Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem auf der Finanzministersitzung am Mittwoch
Foto: REUTERSHamburg - Ein Spiel ist das nicht. Ziemlich ernst ist die Verantwortung des neuen griechischen Finanzministers Giannis Varoufakis, der mit einer Schuldenlast von mehr als 300 Milliarden Euro, einer am Boden zerstörten Volkswirtschaft, einer nur noch für Wochen reichenden Liquidität und dem akuten Risiko des Abschieds aus dem Euro umgehen muss. Zu einem guten Teil von seinem Handeln hängt "die größte Gefahr für die Weltwirtschaft" ab, wie sein britischer Kollege George Osborne nur leicht übertreibt.
Und doch scheint Varoufakis einen großen Auftritt nach dem anderen zu genießen, lacht, lässt seine "Partner" wie Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem wie Tölpel stehen, reist anscheinend ohne das vorher groß angekündigte Konzept zum entscheidenden Finanzministertreffen, verlässt es ohne Einigung über das weitere Vorgehen, geschweige denn einen dringend benötigten Deal, und gibt sich immer noch locker. Das irritiert nicht nur die Verhandlungsgegner, auf deren Entgegenkommen Varoufakis angewiesen ist.
Den Schlüssel zu diesem Auftreten könnte die Spieltheorie liefern, die durchaus auch für ernste Situationen gedacht ist. Darauf ist der Starökonom spezialisiert, er hat Lehrbücher über das Thema geschrieben und in den vergangenen Jahren im Auftrag des Videospielherstellers Valve Software dessen digitale Wirtschaft erforscht.
Nahe liegt das spieltheoretische Modell vom "Feiglingsspiel", in dem verliert, wer zuerst einknickt, auch wenn ein Weiterspielen für beide Gegner tödlich wäre. In einem Interview mit der BBC erklärte Varoufakis jedoch, er sehe die Situation nicht so: "Dies ist keine Frage von Nimm oder stirb, von Ultimaten, es ist keine Frage, wer zuerst abbiegt."
Zu einem anderen klassischen spieltheoretischen Modell hingegen, dem Gefangenendilemma, erklärte er ausdrücklich auf Twitter: "Wir sind schon darin." Das Modell besagt, dass zwei Häftlinge vor der Wahl stehen, den anderen zu verpfeifen oder mit längerer Haft für das eigene Schweigen zu bezahlen. Nach gängiger Auffassung führt das Unwissen über das Handeln des anderen dazu, dass beide aussagen, obwohl das beste für sie wäre, wenn beide schwiegen.
Experimentelle Forschung hat jedoch gezeigt, dass Menschen entgegen dieser Annahme eher zur kooperativen Lösung neigen, statt nur auf den persönlichen kurzfristigen Vorteil zu achten. Diese Erkenntnis will Varoufakis auch aus der Videospiel-Ökonomie von Valve gezogen haben, wie er dort bloggte. Und das ist auch seine Hoffnung für die aktuelle Lage: "Die Aufgabe heißt, mit kooperativen Gedanken aus dem Gefangenendilemma zu entkommen, im Sinne des gemeinsamen europäischen Interesses."
Nukleare Abschreckung: Der Schwächere gewinnt
Das klingt ein wenig naiv, und sein tatsächliches Verhalten scheint dem auch zu widersprechen. Der wohl meinende Ökonom Anatole Kaletsky schimpft im "Guardian", "Varoufakis' Verhandlungstaktik, ein unberechenbares Schwanken zwischen Aggressivität und Schwäche, ist das Gegenteil von dem, was Spieltheorie vorschreiben würde".
Er wirft dem Griechen vor, zu früh auf die für die deutsche Regierung toxische und für Griechenland gar nicht so wichtige Forderung nach einem Schuldenschnitt verzichtet zu haben, die noch den Wahlkampf dominierte. Die offensichtliche Kompromisslinie mit einer für Berlin letztlich unschädlichen Lockerung der Kreditauflagen, die eine echte Entlastung für Griechenland brächte, hätte erst am Ende des Pokers kommen sollen.
Nun stehe Varoufakis mit leeren Händen da, den Schaden hätten die Demokratie und Europas Wirtschaft. "Varoufakis' Idee einer Strategie ist, sich eine Waffe an den eigenen Kopf zu halten und eine Gegenleistung zu fordern, um nicht abzudrücken", ärgert sich Kaletsky.
Doch genau darin könnte tatsächlich die Strategie bestehen. Griechenland habe "klar" den vom Spieltheoretiker (und Begründer der nuklearen Abschreckung) Thomas Schelling beschriebenen Weg der "Coercive Deficiency" gewählt, meint der französische Ökonom Jacques Sapir. Für einen Akteur, der von vornherein aus einer Position der Schwäche agiert, sei es rational, diese Schwäche im Lauf der Verhandlung noch zu steigern, um dem starken Gegner Zugeständnisse aus moralischen Motiven aufzuzwingen.
Schwach ist die Position der Griechen zweifellos. Sie sind auf Hilfe der Euro-Partner angewiesen, wenn sie nicht entweder einseitig die Verträge oder ihre zentralen Wahlversprechen brechen wollen. Umgekehrt erscheinen die Planspiele aus Berlin durchaus glaubwürdig, man könne auch einen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro verkraften, damit einen Großteil der rund 60 Milliarden Euro an Forderungen abschreiben, nur um keine Nachahmer in Europa zu ermutigen. Die Angst würde den Rest der Euro-Zone zusammenhalten.
Zusätzlich geschwächt haben die Griechen ihre Position, indem sie mit dem Rauswurf der Troika auf die ausstehende Kredittranche von sieben Milliarden Euro verzichteten.
Schäuble spielt wohl eher das "Chicken Game"
Die britische Finanzbloggerin Frances Coppola hat daraufhin einen alten Tweet Varoufakis' ausgegraben, der schon im Juni 2014 einen Stopp der Finanzierung griechischer Banken durch die Europäische Zentralbank nach zyprischem Vorbild als "leere Drohung" beschrieben hatte. "Macht doch", würde die Antwort von griechischer Seite lauten - in der Hoffnung, dass die EZB das nicht wagen würde.
Deshalb deutet Coppola die jüngste Restriktion der EZB gegen griechische Anleihen als "Spiel in die Hände von Varoufakis. Es ist, als würde ein Schachspieler absichtlich genau die Strategie wählen, die sein Gegner ein halbes Jahr zuvor in einem Schachmagazin beschrieben hat." EZB-Präsident Mario Draghi wolle eher den Druck auf Deutschland erhöhen, einen Kompromiss mit den Griechen zur Rettung des Euro einzugehen. Denn mit der Aussicht auf einen Bankenkollaps im Land würden diejenigen, die Verhandlungen verweigern, international geächtet.
Auch der US-Wirtschaftsprofessor James Galbraith, an der Universität von Texas in Austin kürzlich noch Varoufakis' Kollege, stützt diese Version. "Welchen Hebel hat Griechenland? Keinen großen. Die schweren Waffen stehen auf der anderen Seite", schreibt er auf der Seite der "Deutschen Welle". Doch da die Griechen mit nichts mehr drohen könnten, wäre es "die richtige und moralische Geste der anderen Seite, ihre Keulen wegzuwerfen".
Je näher die verschiedenen Ultimaten rücken und je enger es um die griechischen Finanzen steht, desto weniger hat Griechenland in der Hand. Sogar das Fehlen eines Papiers auf der Euro-Gruppen-Sitzung könnte dafür symbolisch sein: Die griechische Regierung hat schon all ihre Vorschläge offenbart, jetzt ist es an Schäuble und Co., darauf einzugehen - oder als die Bösen in die Geschichte einzugehen, die Griechenland und am Ende vielleicht der Euro-Zone den Saft abgedreht haben.
Die Strategie steht und fällt allerdings damit, ob die das Spiel genauso wahrnehmen. Schäuble beharrt bisher darauf, für Griechenland gebe es "das Programm" zu den bisherigen Bedingungen oder eben keins. Kompromissbereitschaft: null. Schäuble spielt wohl eher das "Chicken Game", das Varoufakis nicht will.