Referendum in der Türkei Die gespaltene Nation

Erdogan-Anhänger in Istanbul
Foto: YAGIZ KARAHAN/ REUTERSWarum wurde von regierungsnahen türkischen Zeitungen frühzeitig ein Sieg des Ja-Lagers gemeldet, obwohl noch längst nicht alle Stimmen ausgezählt waren? Und obwohl das Ergebnis so knapp ist? Wieso lässt die Wahlkommission Stimmzettel gelten, denen der erforderliche Stempel fehlt? Gab es also Wahlbetrug?
Das Referendum in der Türkei über das umstrittene Präsidialsystem zeigt, wie gespalten das Land ist. Und wie immer glaubt Recep Tayyip Erdogan sich im Recht, er sieht sich trotz aller Bedenken am Ziel: Nach seiner Ansicht hat er die Abstimmung gewonnen. Zwar stellen die beiden größten Oppositionsparteien, die CHP und die HDP, das Ergebnis in Frage, verlangen eine Neuauszählung und wollen die unzulässigen Stimmzettel nicht gelten lassen. Doch Erdogan interessiert das nicht.
Er sieht nur, dass er als Präsident und damit Staatschef ab sofort regieren darf, er ist jetzt auch Regierungschef. Er darf, entgegen der bisherigen präsidialen Praxis, einer Partei angehören, sie sogar anführen. Und er darf, wenn er es für angemessen erachtet, per Dekret regieren und nicht nur seine Minister, sondern auch wichtige Posten in der Justiz bestimmen. Mit anderen Worten: Der Präsident der Türkei ist mächtiger denn je.
Erdogan hat dieses Regierungssystem in den zurückliegenden Jahren für sich ersonnen, weil er wusste, dass er nach drei Legislaturperioden als Ministerpräsident nicht wieder antreten durfte. Diese Regel stand aber seinem Traum im Weg, im Jahr 2023, am 100. Geburtstag der Republik Türkei, ganz oben zu stehen, die Geschicke seines Landes zu bestimmen und damit in die Geschichte einzugehen.
Im August 2014 ließ der frühere Ministerpräsident sich also zum Staatspräsidenten wählen. Jetzt fehlte nur noch die entsprechende Verfassung, die ihm die Macht gab, die er sich wünschte. Um jeden Preis will er jetzt ein Ja für dieses ganz auf ihn zugeschnittene Herrschaftssystem, mögen bei der Wahl auch noch so fragwürdige Dinge geschehen sein. Er will sich die Chance, dass sein Traum jetzt in Erfüllung geht - und dass er weit über das Jahr 2023 hinaus regieren kann - unter keinen Umständen nehmen lassen.
Kein Gegengewicht zum Präsidenten
Denn es geht bei diesem Referendum, auch wenn es ganz banal nur nach einem Ja oder Nein zu insgesamt 18 Verfassungsänderungen aussieht, um die wohl folgenreichste Abstimmung in der Geschichte der Türkei. Nicht nur ist damit das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft, sondern ein Sieg des Ja-Lagers bedeutet auch ein Ende des Parlaments als gewichtigste politische Instanz. Die Türkei ist fortan eine gestutzte Demokratie, denn zum mächtigen Präsidenten gibt es, anders als in den USA oder in Frankreich, beides ebenfalls Präsidialsysteme, kein Gegengewicht.
Gewinnen die Ja-Sager nach Prüfung aller Bedenken am Abstimmungsvorgang tatsächlich, ist das eine Entscheidung für ein Ende der liberalen Demokratie, der Gewaltenteilung, des Pluralismus. Erdogan hat das den Menschen stets mit dem Argument angepriesen, nur mit einem starken Präsidenten - nämlich mit ihm - sei die Türkei vor Chaos, Gewalt und Terror zu bewahren.
Im Frühjahr 2014, da war er selbst noch kein Präsident, hatte er begonnen, offensiv für dieses System zu werben. Im Wahlkampf in den vergangenen Tagen und Wochen ging er sogar so weit, mit der Wiedereinführung der Todesstrafe zu werben, sollte er mit seinen Plänen durchkommen. Seine Fans feierten das als Zeichen der Stärke. Vor allem in den Zeiten nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 kamen solche Töne gut an.
Bedenklich ist, dass mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler mit ihrem Votum den bisherigen Übervater, den Gründer der Republik Mustafa Kemal Atatürk, vom Sockel stoßen wollen. Es war Atatürk, der der Türkei die parlamentarische Demokratie gebracht hatte, der für einen pro-westlichen Kurs seines Landes stand und die Türkei - auf zum Teil ähnlich autoritäre Art wie Erdogan - modernisierte und an den Westen rückte.
Bald 100 Jahre später steht, wenn auch umstritten, ein neuer Übervater auf dem Podest: Erdogan. Die Türkei hat heute möglicherweise offiziell entschieden, dass sie eine andere Richtung einschlagen will, als Atatürk sie vorgegeben hat. Das ist ihr gutes Recht, aber ein Ja zu Erdogans Plänen bedeutet auch ein Nein zur EU und eine Abkehr vom pro-westlichen Kurs.
Kurzfristig dürfte ein Ja zu einer Aufwertung der seit Jahren leidenden türkischen Lira führen und einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen - die Ökonomie kennt keine Moral. Entließe Erdogan jetzt wenigstens politische Gegner und Kritiker aus den Gefängnissen, als Zeichen seiner Größe, gäbe es sogar einen Grund zu Optimismus.
Langfristig aber ist ungewiss, in welche Zukunft die Türkei steuert. Der knappe Ausgang des Referendums führt den tiefen Graben, der mitten durch die türkische Gesellschaft führt, überdeutlich vor Augen. Man kann ihr nur wünschen: Viel Glück auf den neuen Wegen.
Video: Regierung verkündet Sieg, Opposition zweifelt