Henrik Müller

Zukunft der Arbeit Schleichende Verarmung

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft tun immer noch so, als stünden potenzielle Arbeitskräfte Schlange. Dabei bedroht der Mangel an Beschäftigten längst den Wohlstand – gerade von Leuten mit unterdurchschnittlichen Einkommen.
Fachkräftemangel: Wenn es zu wenig Handwerker gibt, müssen Leute selbst Hand anlegen, statt das zu tun, worin sie richtig gut sind, nämlich das, wofür sie ausgebildet sind.

Fachkräftemangel: Wenn es zu wenig Handwerker gibt, müssen Leute selbst Hand anlegen, statt das zu tun, worin sie richtig gut sind, nämlich das, wofür sie ausgebildet sind.

Foto: Julian Stratenschulte / dpa

Früher war es so: Wenn die Wirtschaft nicht wuchs, stieg die Arbeitslosigkeit. In Zeiten guter Konjunktur fanden zwar wieder mehr Leute eine Stelle. Aber die Quote der Jobsuchenden verharrte auch bei ordentlichem Wachstum auf hohen Niveaus. Mit jeder Rezession stieg die "Sockelarbeitslosigkeit", wie eine ansteigende Treppe. Von den 70er bis Ende der Nullerjahre war die Angst vor dem Jobverlust Teil des bundesrepublikanischen Lebensgefühls. Das hat sich gründlich geändert. Zum Glück.

Derzeit pendelt das Wirtschaftswachstum um die Nulllinie (achten Sie am Freitag auf neue Daten), doch die Beschäftigung ist auf Rekordniveau. Unternehmen suchen händeringend nach Leuten. Zwei Millionen Stellen sind derzeit unbesetzt . Die Angst, den Job zu verlieren und dann womöglich dauerhaft an den Rand der Arbeitsgesellschaft gedrängt zu werden, ist weitgehend verschwunden. Nur zwei Prozent der Bürger halten Arbeitslosigkeit noch für eines der größten Probleme des Landes, wie aus der Eurobarometer-Umfrage  von Anfang des Jahres hervorgeht. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt noch bei knapp über fünf Prozent (Freitag gibt es auch hier neue Zahlen aus Nürnberg).

Der wichtigste Grund für diesen Wandel: In den vergangenen Jahrzehnten ist eine demografische Welle über den Arbeitsmarkt hinweggegangen, die nun ausläuft. Als die Boomer, in den 50er- und 60er-Jahren geboren, ins Erwerbsleben drängten, waren sie so zahlreich, dass viele Schwierigkeiten hatten, einen Job zu finden. Nun verabschieden sie sich nach und nach in den Ruhestand – und reißen eine gigantische Lücke. Bis Mitte des nächsten Jahrzehnts werden 30 Prozent der Beschäftigten die gesetzliche Altersgrenze erreichen .

Von nun an herrscht Mangel an Beschäftigten. Die Ära des üppigen Angebots geht zu Ende. Und wir sind nicht darauf vorbereitet.

Auch massenhafte Zuwanderung genügt nicht

Zuwanderung allein jedenfalls wird den Rückgang der Beschäftigten nicht stoppen. Selbst bei einem Nettozuzug von 400 000 Menschen jährlich (Immigration minus Emigration) – in etwa der Durchschnitt während des vorigen Jahrzehnts – sind verstärkte Arbeitsanstrengungen der Ansässigen nötig, allein um das Beschäftigtenpotenzial konstant zu halten, prognostiziert das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) .

Staat, Wirtschaft und Gesellschaft agieren immer noch so, als stünden potenzielle Arbeitskräfte Schlange: Das Sozial- und Steuersystem ist gerade für Niedrig- und Mittelverdiener außerordentlich leistungsfeindlich. Unternehmen halten sich bei der gezielten Förderung und Fortbildung älterer Mitarbeiter  und bei produktivitätssteigernden Investitionen zurück. Arbeitnehmer gehen im Schnitt immer noch mit 64 Jahren in Rente, genauso wie vor zehn Jahren . Die Diskussion um die Einführung der Vier-Tage-Woche nimmt Fahrt auf; bei den Kundgebungen am 1. Mai übernächste Woche wird das Thema präsent sein.

All das wird sich ändern müssen, und zwar rasch. Andernfalls droht eine schleichende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Denn dass der Mangel an Arbeitskräften zu kräftig steigenden Löhnen und Realeinkommen führt, ist kein Automatismus.

Gesellschaft im Rückwärtsgang

Weniger Beschäftigte bedeuten nicht nur weniger Produktivkraft, sondern potenziell auch Rückschritte bei der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: Wenn hochqualifizierte Beschäftigte fehlen, unterbleiben hochproduktive Investitionen in innovativen Branchen. Wenn es zu wenig Handwerker und andere Dienstleister gibt, müssen Leute selbst Hand anlegen, statt das zu tun, worin sie richtig gut sind, nämlich das, wofür sie ausgebildet sind. Wenn es zu wenige Pflegekräfte gibt, müssen Angehörige ihre Arbeitszeit reduzieren, womöglich auf null. Und so weiter. Als Massenphänomen würde ein solcher Rückbau der Arbeitsteilung den Produktivitätsfortschritt lähmen, sich womöglich sogar in einen Rückschritt umkehren.

Die spezialisierte Arbeitsgesellschaft würde sich zurückentwickeln zu einer Do-it-yourself-Veranstaltung. Steigende Reallöhne und -einkommen lassen sich in einem solchen Szenario kaum realisieren.

Um diesen Prozess der schleichenden Verarmung zu vermeiden, sollte es darum gehen, Reserven am Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Das betrifft vor allem Teilzeitbeschäftigte und Ältere. Bislang ist es attraktiv, die Arbeitszeit zu reduzieren. Man ist einerseits sozial eingebunden, andererseits sozialstaatlich abgesichert. Leute mit niedrigem bis mittlerem Einkommen, die ihre Stundenzahl aufstocken, sich weiterbilden und qualifizieren, haben netto kaum etwas davon – weil Sozialversicherungsbeiträge und steigende Einkommensteuersätze den größten Teil vom Verdienstplus absahnen.

Grenzen der Belastung

In kaum einem anderen wohlhabenden Land ist die Belastung von Mehrarbeit ("Grenzbelastung") so heftig wie in Deutschland, wie die OECD seit Jahren immer wieder vorrechnet . (Aktuelle Zahlen gibt’s Dienstag.) Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch ausgesprochen leistungsfeindlich. Bei höheren Einkommen ist die Situation günstiger: Oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen der Sozialversicherungen und nach Erreichen des Spitzensteuersatzes bleibt die Grenzbelastung mit zunehmendem Einkommen weitgehend konstant .

Dass die CDU in ihren steuerpolitischen Überlegungen nun eine Entlastung der mittleren Einkommen zum Ziel erkoren hat, ist immerhin ein Anfang. Solange die Finanzierung der Sozialversicherungen jedoch unangetastet bleibt, wird sich an der Schieflage des Abgabensystems kaum Substanzielles ändern. Dass Ehepaare Steuervorteile genießen, wenn ein Partner – meist die Frau – deutlich weniger verdient als der andere, ist ein Anachronismus sondergleichen. Es zementiert nicht nur überkommene Rollenmuster, sondern auch Teilzeitmodelle.

Deutschland auf Reserve

Von den 42 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland sind rund 16 Millionen Teilzeit- oder geringfügig Beschäftigte, arbeiten also deutlich weniger als die üblichen knapp 40 Wochenstunden. Durchschnittlich sind Teilzeitler 18 Stunden pro Woche beschäftigt. Der Wert ist seit Jahren konstant, unabhängig von der sich zuspitzenden Arbeitskräfteknappheit. Würde diese durchschnittliche Arbeitszeit zur um einige Stunden zunehmen, ließen sich dadurch Arbeitsreserven heben.

Forscher des IAB haben einige Bevölkerungsgruppen identifiziert, die dazu beitragen könnten, die "demografisch bedingte Schrumpfung des Arbeitsmarkts" noch abzuwenden , insbesondere Frauen im Alter bis 59 Jahren sowie Männer zwischen 60 und 69 Jahren. Würde die Erwerbsbeteiligung von Frauen auf das Niveau ihrer männlichen Altersgenossen und die von älteren Männern auf Niveaus der nächst jüngeren Kohorten steigen, ließen sich mehr als drei Millionen zusätzliche Personen für den Arbeitsmarkt gewinnen. Bei gleichzeitig hohen Zuwanderungsraten würde das in etwa genügen, um einen Rückgang der Beschäftigung zu verhindern. Der mit Abstand wichtigste Faktor ist dabei die Mobilisierung der Älteren.

Doch damit ein solches arbeitsintensives Szenario Chancen auf Realisierung hat, müssten wir ziemlich radikal umsteuern – nicht nur die staatlichen Sicherungssysteme, auch die Lebensplanung vieler einzelner müsste sich ändern.

Bislang jedenfalls entschwindet Jahr für Jahr die Hälfte der Beschäftigten aus dem Berufsleben, bevor sie das reguläre Rentenalter erreichen . Anstatt die Anreize so zu setzen, dass mehr Bürger länger regulär erwerbstätig bleiben, geschieht das Gegenteil: Die Bundesregierung hat zum Jahreswechsel 2023 alle Zuverdienstgrenzen für Ruheständler aufgehoben . Rentner und Pensionäre dürfen nun unbegrenzt weitere Jobs annehmen – und haben dann womöglich mit einer Teilzeitbeschäftigung mehr Geld in der Tasche als zuvor. Immerhin sind diese Leute weiter produktiv tätig. Besser wäre es jedoch, ihnen eine längere Perspektive in ihrem angestammten Berufsumfeld zu eröffnen, inklusive Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten.

Die kollektive Weigerung, der demografischen Herausforderung systematisch zu begegnen, scheint symptomatisch zu sein für den Zustand des Landes. Augen zu und durch – statt umzusteuern, solange noch Zeit dafür ist .

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Montag

München – Die Stimmung in Deutschland – Das ifo Institut veröffentlicht seinen Geschäftsklimaindex, den wichtigsten Konjunkturfrühindikator für die deutsche Wirtschaft.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Crédit Suisse, Coca Cola, Whirlpool, Philips.

Dienstag

Fulda – Stillstand, reloaded? – Start der dritte Runde der Tarifverhandlungen zwischen der Gewerkschaft EVG und der Deutsche Bahn.

Paris – Wo sich Mehrarbeit lohnt – Die OECD veröffentlicht ihren jährlichen Bericht zur Belastung der Arbeitseinkommen mit Steuern und Abgaben ("Taxing Wages").

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von CureVac, Carrefour, Banco Santander, Akzo Nobel, Randstad, Novartis, Kuehne & Nagel, ABB, Nestlé, Anglo American, Pepsico, General Motors, 3M, Verizon, UBS, Microsoft, Alphabet, UPS, Spotify, General Electric, Halliburton, Dow, Visa, McDonald's.

Mittwoch

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Börse, MTU, Beiersdorf, Symrise, Puma, Orange, Dassault, Michelin, KPN, Iberdrola, Roche, Glencore, Meta, Boeing, Ebay, Universal Music Group, Standard Chartered, GlaxoSmithKline, Reckitt Benckiser.

Donnerstag

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Deutsche Bank, Aixtron, HelloFresh, BBVA, Sanofi, Air Liquide, Saint Gobain, Totalenergies, Schneider Electric, Unilever, AstraZeneca, Barclays, Intel, Amazon, Southwest Airlines, Eli Lilly, Merck & Co, Bristol Myers Squibb, Mastercard, Amgen.

Freitag

Wiesbaden – Zahlen, bitte! – Das Statistische Bundesamt legt erste Zahlen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im ersten Quartal vor, außerdem eine Schätzung der Inflationsrate im April.

Nürnberg – Am Rande der Knappheit – Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht ihren Arbeitsmarktbericht für April 2023.

Berichtssaison V – Geschäftszahlen von Mercedes Benz, Covestro, Drägerwerk, ENI, Electrolux, Chevron, Exxon Mobil, Colgate Palmolive.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Playlist
Speichern Sie Audioinhalte in Ihrer Playlist, um sie später zu hören oder offline abzuspielen. Zusätzlich können Sie Ihre Playlist über alle Geräte mit der SPIEGEL-App synchronisieren, auf denen Sie mit Ihrem Konto angemeldet sind.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren