Henrik Müller

Putin-Schock Warum Konjunkturprognosen jetzt mit Vorsicht zu genießen sind

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Aktuelle Prognosen sind erstaunlich optimistisch hinsichtlich der weiteren Wirtschaftsentwicklung für Deutschland. Wäre ja schön. Es kann aber auch alles ganz anders kommen.
Unsicherheitsfaktor: Wirtschaftsforscher können kaum wissen, wie sich Verbraucher am Ende der Corona-Krise und angesichts des Krieges in der Ukraine verhalten werden

Unsicherheitsfaktor: Wirtschaftsforscher können kaum wissen, wie sich Verbraucher am Ende der Corona-Krise und angesichts des Krieges in der Ukraine verhalten werden

Foto: Ralph Peters / imago images

Inmitten der größten militärischen Krise, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat, scheint es eine einzige Gewissheit zu geben: Die deutsche Wirtschaft läuft. Einige Wirtschaftsforschungsinstitute haben gerade ihre aktuellen Frühjahrsprognosen veröffentlicht. Die Ergebnisse lesen sich ermutigend: Kiel meldet 2,1 Prozent , Essen 2,5 Prozent , Halle gar 3,1 Prozent Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr . Weitere Prognosen sind in Arbeit (Mittwoch veröffentlicht das Münchner Ifo-Institut seine Frühjahrsvorhersage, Freitag Umfrageergebnisse zum Geschäftsklima).

Die Story ist immer ähnlich: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gehen zurück, die Beschäftigung steigt. Die Staatsfinanzen sind auf Sanierungskurs mit allmählich wieder sinkenden Schulden- und Defizitquoten. Gewiss, anhaltende Lieferengpässe machen Handel und Industrie nach wie vor zu schaffen. Die umfassenden Sanktionen gegen Russland behindern den Export, die kriegsbedingten Produktionsausfälle in der Ukraine stören wichtige Zulieferverbindungen, vor allem bei den Autobauern. Sündteure Rohstoffe und Energie treiben die Verbraucherpreise, die, so sagen es die Prognosen, im laufenden Jahr um rund 5 Prozent steigen sollen. Doch im Laufe des Jahres soll sich die Lage allmählich normalisieren, mit leicht sinkenden Energiepreisen und sich allmählich weitenden Lieferengpässen. 2023 könnte es dann noch etwas besser laufen, bei abflauender Inflation.

Kann sein. Wäre ja schön. Sollte es so kommen, wäre das ein eindrucksvoller Beweis für die Widerstandsfähigkeit dieser Gesellschaft und ihrer Wirtschaft. Es kann aber alles auch ganz anders kommen.

Am Fliegenfänger

Selten in den vergangenen sieben Jahrzehnten herrschte so fundamentale Unsicherheit wie derzeit. Damit stoßen die Wirtschaftsforscher an Grenzen ihres Instrumentariums. Das zielt, grob gesagt, darauf ab, ein konsistentes Bild der jüngeren Vergangenheiten auf Basis derzeit verfügbarer Daten in die nähere Zukunft fortzuschreiben. An den großen Bruchstellen der Geschichte jedoch senkt sich der Nebel des Ungewissen über die Modellwelten der Ökonomen. Das macht ihre Prognosen nicht überflüssig, keineswegs. Aber wir sollten sie mit großer Vorsicht genießen.

Mich erinnern die derzeitigen Wirtschaftsvorhersagen an den Herbst 2008. Damals war die internationale Finanzkrise gerade mit voller Wucht ausgebrochen. Die US-Investmentbank Lehman Brothers war im September Pleite gegangen. Diverse große Banken und Versicherungen hingen am Fliegenfänger, darunter die deutsche Hypo Real Estate.

Im Oktober 2008 erschien die "Gemeinschaftsdiagnose" der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, die einem deutlichen Rückgang des Wachstums prognostizierte, aber kein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. Für 2009 sagten die Institute nun ein schwaches Plus von 0,2 Prozent voraus . Nicht berauschend, aber alles andere als dramatisch.

Dabei waren sich die Forscher der Problematik großer Unsicherheit durchaus bewusst, das geht aus dem Gutachten hervor. Die Möglichkeit von Fehleinschätzungen hielten sie für hoch. Deshalb rechneten sie auch noch ein Risikoszenario durch. Ergebnis: Käme es schlimmer als gedacht, "geriete Deutschland in eine ausgeprägte Rezession". Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) würde um 0,8 Prozent schrumpfen.

Doch auch diese Prognose lag meilenweit daneben. Tatsächlich schrumpfte das BIP 2009 um sagenhafte 5 Prozent, wie das Statistische Bundesamt später ermittelte . Es war die schwerste Rezession seit Generationen. Die Institute hatten das Ausmaß des Absturzes dramatisch unterschätzt.

Dass es zu solchen Fehleinschätzungen kam, war nicht verwunderlich. Wirtschaftsforscher, aber auch Politiker und Manager standen damals vor einer neuen Situation. Eine Finanzkrise dieses Ausmaß hatte es in den entwickelten Ländern seit den frühen 1930er-Jahren nicht mehr gegeben. Keiner der Handelnden hatte Erfahrungen mit derartigen Situationen. Das galt auch für die Wirtschaftsforscher. Deren Modelle mochten in der jüngeren Vergangenheit gut funktioniert haben, aber was die nähere Zukunft betraf, versagten sie den Dienst. Denn es geschah etwas Neues – etwas Unerhörtes: Ein brachialer Schock erschütterte die Weltwirtschaft, ein Beben, dessen Ausläufer an Stellen für Erschütterungen sorgten, die nicht vorhersehbar waren.

Dieses Mal ist vieles anders

Derzeit erleben wir abermals eine beispiellose Situation. Und zwar in einem ebenso direkten wie brutalen Sinn: Was bedeutet es, wenn im 21. Jahrhundert in Europa ein Krieg nahe der Grenzlinie zwischen Russland und der Nato tobt? Wie weit wird die Eskalation gehen? Werden die Pipelines aus Russland irgendwann kein Gas und kein Öl mehr liefern – weil Wladimir Putin (69) den Hahn zudreht oder weil der öffentliche Druck bei uns so groß wird, dass die EU einen Importstopp verhängt (Achten Sie Donnerstag und Freitag auf den EU-Gipfel)? Wie lange werden die Kampfhandlungen noch dauern – Wochen, Monate, Jahre? Wir haben keine Ahnung.

Wir sind mit fundamentaler Unsicherheit konfrontiert. Ja, wir können gegenwärtig noch nicht einmal abschätzen, wie groß der Putin-Schock tatsächlich ist. Unsicherheitsindikatoren wie jener, den ein Forscherteam um den Stanford-Forscher Nicholas Bloom berechnet , aber auch noch unveröffentlichte Zahlen unseres Dortmunder Forschungszentrums DoCMA für Deutschland  zeigen bislang keine außergewöhnlichen Ausschläge an. Wir warten händeringend auf neue Daten, aber noch haben wir sie nicht.

Allerdings genießen Konjunkturforscher – darin Journalisten ähnlich – nicht den Luxus, sich zurücklehnen zu können, bis die Datenlage sich aufgeklart hat. Weil Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Orientierungspunkte für ihre Planungen wünschen, ist es der Job der Forscher, die zum jeweiligen Zeitpunkt bestmögliche Vorhersage vorzulegen. Dafür treffen sie ein Set von Annahmen: Sie formulieren Voraussetzungen, etwa was die Ausweitung des internationalen Handels angeht, der einerseits durch den Krieg und die Sanktionen gegen Russland belastet ist, sich andererseits aber infolge der abflauenden Pandemie zu normalisieren scheint; sie legen einen durchschnittlichen Rohölpreis und Wechselkurs des Euro fest, außerdem die Entwicklung der Tariflöhne, der Notenbankzinsen und der Finanzpolitik der Bundesregierung. All diese Größen gehen in die Prognosemodelle ein. Doch wenn sich die Annahmen als nichtzutreffend erweisen, liegen notwendigerweise auch die modellgestützten Vorhersagen daneben.

Dazu kommt: In Extremsituationen können sich wirtschaftliche und politische Akteure anders verhalten, als wir es kennen. Aus der Vergangenheit können wir einiges sagen zu den ökonomischen Wirkungen großer Unsicherheitsschocks. So ist empirisch gut belegt, dass Unternehmen ihre Investitionen zurückfahren und Privatleute einen größeren Teil ihrer Einkommen sparen. Wer mit fundamentaler Ungewissheit konfrontiert ist, wartet erstmal ab, hält sich zurück, legt lieber finanzielle Sicherheitspolster an. Alle sitzen auf ihrem Geld. Der Staat kann gegensteuern, indem Finanzminister und Notenbanken Geld in die Wirtschaft pumpen. Bildet sich der Unsicherheitsschock zurück, lösen sich die Verspannungen wieder auf. Es kommt zu einer überschießenden wirtschaftlichen Erholung; private Haushalte und Unternehmen holen die unterlassenen Anschaffungen nach. So in etwa lief es in Deutschland nach der Finanzkrise von 2008 und nach der Corona-Krise von 2020.

Doch dieses Mal könnte vieles anders sein. Die Unternehmen zum Beispiel könnten trotz großer Unsicherheit massiv investieren, statt auf die Bremse zu treten. Schließlich ist der akute Bedarf bei Energieinfrastruktur und Rüstung groß; zerreißende internationale Lieferketten erfordern angesichts eines sich drastisch verschiebenden geostrategischen Umfelds womöglich rasche Ersatzkapazitäten im Nahbereich. (Achten Sie Montag auf die Perspektiven der Anlagenbauer.) Privatbürger, die schon während der Corona-bedingten Shutdowns große Sparpolster angehäuft hatten, könnten nun ihren Konsum konstant halten oder sogar steigern. Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte angesichts erhöhter Inflationsraten eigentlich die Zinsen nach oben schleusen. Aber eine Notenbank im Krieg setzt erfahrungsgemäß andere Prioritäten, wie wir an dieser Stelle kürzlich diskutiert haben.

Der Putin-Schock könnte also sowohl in eine tiefe Rezession als auch in eine übersprudelnde Kriegskonjunktur führen – zwei wirtschaftliche Szenarien, die gegensätzlicher kaum sein könnten.

Unsicherheitsschocks kommen in Wellen

In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Unsicherheitsschocks in Wellen kommen. Wenn die zugrundeliegende politökonomische Tektonik einmal in Bewegung geraten ist, kommt es häufig zu einer ganzen Kette von kausal verbundenen Beben. Die Terroranschläge vom 11. September zogen den Irak-Krieg nach sich. Auf die Finanzkrise von 2008 folgte die Eurokrise ab 2010. Auf die Flüchtlingskrise 2015 folgte das Brexit-Referendum 2016. Was dieses Mal folgt, wissen wir noch nicht. Aber dass ein Schock dieser Größe ein singuläres Ereignis bleibt, ist eine eher abwegige Annahme.

Einige Verwerfungen zeichnen sich bereits ab: Hungerkrisen in Entwicklungsländern durch Ernteausfälle und Embargofolgen, damit verbunden eine Destabilisierung vieler Länder; womöglich unerwartete Finanzkrisen durch die Finanzsanktionen gegen Russland; vielleicht eine Abkehr vom Dollar – Saudi-Arabien erwägt bereits den Ölverkauf in Yuan an China, Russland bietet Indien Öl- und Gaslieferungen in Rupien an. Sollte sich China in den Ukraine-Krieg hineinziehen lassen, wären Abschottungstendenzen wahrscheinlich – der Austausch mit Deutschlands größtem Handelspartner, jenseits der übrigen EU, würde zumindest teilweise zum Erliegen können.

Für den Moment gehört all das ins Reich der Spekulation. Die vollständigen ökonomischen Auswirkungen des Putin-Schocks kennen wir längst noch nicht – genau deshalb sollten wir uns auf alles gefasst machen.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche

Montag
Hannover – Die Löhne in Zeiten der Inflation I – Auftakt der bundesweiten Tarifverhandlungen für die Chemie- und Pharmaindustrie.

Brüssel – Knappheitsmanagement – Konfrontiert mit massiven kriegsbedingten Produktionsausfällen, setzen sich die EU-Agrar- und Fischereiminister zusammen.

Frankfurt – Wie weiter? – Die Großanlagenbauer im Verband VDMA berichten über die Geschäftsentwicklung 2021 und stellen die Ergebnisse einer aktuellen Mitgliederumfrage zu den wirtschaftlichen Folgen der Sanktionen auf das Russland-Geschäft vor.

Konzernergebnisse I – Neue Geschäftszahlen von Nike.

Dienstag
Frankfurt/M./Bonn – Die Löhne in Zeiten der Inflation II – Dritte Runde der Tarifverhandlungen bei der Deutsche-Tochter Postbank.

Konzernergebnisse II – Neue Geschäftszahlen von Adobe, Kingfisher.

Mittwoch
München – Einsichten und Ansichten – Das Ifo-Institut stellt seine Konjunkturprognose vor.

Konzernergebnisse III – Neue Geschäftszahlen von Leoni, EnBW, Indus, Software AG.

Donnerstag
Brüssel Plötzlich Global Player – Europas Staats- und Regierungschefs treffen sich zum Rat der Europäischen Union (bis Freitag). Über Jahrzehnte ist Europa im Windschatten der USA gesegelt. Nun steht es in der ersten Reihe eines Konflikts von globaler Tragweite.

Konzernergebnisse IV – Neue Geschäftszahlen von Daimler Truck, Rational, SGL Carbon.

Freitag
München – Aktuelle Einschätzungen – Das Ifo-Institut veröffentlicht Ergebnisse des Ifo-Geschäftsklimaindex, einer Befragung von Firmenmanagern zur Einschätzung der derzeitigen Lage und der näheren Aussichten.

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