Olaf Scholz bietet Kuhhandel an Milliardendeal für US-Gas soll Nord Stream 2 retten

Welcome to Wilhelmshaven: Tanker mit verflüssigtem Erdgas (LNG) vor Japan
Foto: Issei Kato / REUTERSWelcome to Wilhelmshaven: Tanker mit verflüssigtem Erdgas (LNG) vor Japan
Foto: Issei Kato / REUTERSDas Pipelineprojekt Nord Stream 2 droht auf den letzten Kilometern noch zu scheitern. Um die Blockadehaltung der USA gegen die russisch-deutsche Erdgasleitung unter der Ostsee aufzuweichen, hat die Bundesregierung einem Pressebericht zufolge einen Kuhhandel ins Spiel gebracht. Wie "Die Zeit" am Mittwoch berichtet, schlug Bundesfinanzminister Olaf Scholz (62, SPD) seinem US-Kollegen Steven Mnuchin (57) einen Milliardendeal vor: Deutschland werde mit massiver Staatshilfe den Import von Erdgas aus den USA befördern, wenn diese im Gegenzug auf Sanktionen gegen den Import von Erdgas aus Russland verzichten.
Der am 5. August telefonisch und am 7. August schriftlich gemachte Vorschlag stellt diesen Zusammenhang direkt her. Der Bund verspreche seine Subventionen für Importterminals von verflüssigtem Erdgas (LNG) "massiv durch die Bereitstellung von 1 Milliarde Euro zu erhöhen", zitiert die Zeitung aus Scholz' Brief. Bedingung: "Im Gegenzug werden die USA die ungehinderte Fertigstellung und den Betrieb von Nord Stream 2 erlauben." Das Ministerium wollte zu dem Bericht keine Stellung nehmen.
Die LNG-Terminals sollen an deutschen Nordseehäfen in Wilhelmshaven und Brunsbüttel entstehen. Über diese Projekte wird seit Jahren diskutiert. In mehreren europäischen Ländern gibt es solche Anlagen bereits, in Deutschland bisher nicht. Mithilfe der weltweit fahrenden LNG-Schiffe lassen sich die Gasquellen flexibel wählen. Insbesondere die USA drängen seit ihrem Fracking-Boom darauf, überschüssiges Gas in anderen Ländern vermarkten zu können. Der deutsche Markt wird überwiegend per Pipeline mit Erdgas aus Russland, aber auch aus anderen Ländern wie Norwegen versorgt, was in aller Regel effizienter und kostengünstiger ist - und durch Nord Stream 2 noch verstärkt würde. Die teuren Investitionen in neue LNG-Terminals lassen sich daher wohl nur mit staatlicher Hilfe finanzieren.
Hinter dem Projekt in Brunsbüttel steht ein Konsortium unter Führung des niederländischen Erdgaskonzerns Gasunie, der auch an den Nord-Stream-Anschlusspipelines durch Deutschland NEL und Eugal beteiligt ist ebenso wie an der bereits bestehenden ersten Ostseepipeline Nord Stream (aber nicht dem in Bau befindlichen Nachfolgeprojekt Nord Stream 2). Da die Niederlande wegen Erdbeben im Eiltempo aus ihrer eigenen Erdgasförderung aussteigen, schwenkt der Staatskonzern auf andere Quellen um.
Das Terminal in Wilhelmshaven wird vom aus Eon hervorgegangenen deutschen Energiekonzern Uniper geplant, der inzwischen vom finnischen Staatskonzern Fortum kontrolliert wird. Zugleich zählt Uniper zu den westlichen Konzernen, die sich über Milliardenkredite an Nord Stream 2 beteiligen. Zuletzt hatte Uniper eingeräumt, das Geld wegen der hohen Widerstände gegen das Projekt möglicherweise abschreiben zu müssen. Über das Wilhelmshavener Projekt wurde im Juli bekannt, dass aus Naturschutzgründen ein neuer Standort gesucht werden müsse, nachdem Uniper bereits einen Vertrag mit einem japanischen Lieferanten für das Terminal geschlossen hatte.
Scholz' Vorstoß datiert aus der Zeit nach einer Eskalation der US-Drohungen, die sich auch gegen deutsche Unternehmen einschließlich des Hafens Sassnitz und damit das Land Mecklenburg-Vorpommern richten, wo die Einsatzzentrale für das fehlende Teilstück von Nord Stream 2 liegt. Im Juli und Anfang August wurde über eine "wirtschaftliche Kriegserklärung" debattiert.
Die Initiative kam jedoch vor dem mutmaßlichen Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny (44), der in Berlin behandelt wird. Seitdem zeigt sich die deutsche Politik offener, ihrerseits auf Distanz zu Russland zu gehen und auch einen Verlust mehrerer Milliarden Euro privater Investitionen in Nord Stream 2 zu riskieren. Auf einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 24. und 25. September will die EU eine gemeinsame Haltung finden.
Diese Rohre sollen nicht umsonst liegen: In Lubmin an der deutschen Ostseeküste ist alles bereit für die aus Russland stammende Gaspipeline Nord Stream 2, die derzeit gebaut wird. Die EU sieht das 9,5-Milliarden-Euro-Projekt kritisch und hätte es fast mit einer neuen Gasrichtlinie torpediert - doch im Februar schlossen Deutschland und Frankreich noch einen Kompromiss. Nur noch ein kleines Teilstück in dänischen Gewässern fehlt, auch dieses ist genehmigt. Auf den letzten Kilometern drohen die USA mit Sanktionen gegen die am Bau beteiligten Firmen.
In Deutschland wird Nord Stream vor allem mit dem Einfluss des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder (74) zugunsten des russischen Staatskonzerns Gazprom verknüpft. Schröder zog 2005 kurz nach seiner Abwahl als Vorsitzender in den Aktionärsausschuss der Schweizer Nord Stream AG ein - vertritt dort aber auch die Interessen mehrerer großer westlicher Konzerne.
Die BASF-Tochter Wintershall Dea ist mit 15,5 Prozent an der Nord Stream AG beteiligt, der die 2011 eröffnete erste Ostseepipeline gehört. Beim Nachfolgeprojekt Nord Stream 2 gilt Gazprom als Alleineigentümer und die westlichen Partner als Finanzinvestoren, die je ein Zehntel der Baukosten (derzeit geschätzt auf 950 Millionen Euro) tragen. Diese Struktur wurde als Reaktion auf EU-Kritik an der Röhre gewählt, die osteuropäische Länder wie Polen, Ukraine oder Weißrussland für den Gastransit entbehrlich macht.
Für Wintershall-Dea-Chef Mario Mehren (49) steht mit Nord Stream einiges auf dem Spiel. "Russland ist für Wintershall die wichtigste Region! Und Russland bleibt für Wintershall die wichtigste Region", beteuerte der Manager 2018. "Im Interesse der europäischen Kunden" sei die auch von den USA betriebene Kritik "sicher nicht".
Wintershall arbeitet schon seit Jahrzehnten mit Gazprom zusammen. In Westsibirien ist das deutsche Unternehmen an zwei großen Erdgasfeldern beteiligt, aus denen der Stoff über Nord Stream in deutsche Heizungen, Industriebetriebe oder Kraftwerke strömt. 2015 tauschte Wintershall seine Anteile an der deutschen Gashandels und -speicherfirma Wingas gegen weitere Förderlizenzen in Russland.
Für den Mutterkonzern BASF - in der neuen Industriestrategie der Bundesregierung namentlich als schützenswerter "Champion" genannt - ist Wintershall nicht nur einer der wichtigsten Gewinnbringer. Das Erdgas aus Russland wird auch als Grundstock für die Chemieproduktion ebenso wie als Brennstoff für die werkseigenen Kraftwerke gebraucht.
Wintershall ist schon Deutschlands größter Öl- und Gasproduzent. Mit der Übernahme der bisher von Maria Moraeus Hanssen (53) geführten Hamburger Dea soll Mehrens Firma aber auch zu einem "europäischen Key Player" aufsteigen, der mit den globalen Multis mithalten kann. Der russische Vorbesitzer von Dea, Michail Fridman, ist nun als Partner von BASF Großaktionär von Wintershall Dea.
Neben Wintershall ist auch der österreichische Wettbewerber OMV, geführt von Ex-Wintershall-Chef Rainer Seele, mit einem Zehntel der Anteile an Nord Stream 2 beteiligt. Seele (59) sieht die US-Sanktionen als "Schlag gegen Europa und den engen Bündnispartner Deutschland" und fordert Gegensanktionen.
Ebenfalls ein Zehntel trägt der Energiekonzern Uniper. Erfolgreicher als in Deutschland, wo beispielsweise das moderne Gaskraftwerk Irsching nur noch als Netzreserve gebraucht wird, betreibt Uniper auch mehrere Gaskraftwerke in Russland selbst - ebenso wie der Uniper-Großaktionär Fortum aus Finnland, der deshalb auf russischen Druck vorerst nicht beim Düsseldorfer Konzern durchgreifen darf.
Die ehemalige Uniper-Mutterfirma Eon hat zwar ihre bis in die 70er Jahre zurückreichende strategische Russland- und Erdgasorientierung längst aufgegeben. An der Nord Stream AG verdient sie aber trotzdem weiter mit. Die PEG Infrastruktur, der 15,5 Prozent der ersten Ostseepipeline gehören, wurde 2016 von Uniper an Eon übertragen. Der Transaktionswert wurde damals auf eine Milliarde Euro beziffert.
Das Projekt ist aber nicht bloß deutsch-russisch. Der französische Konzern Engie unter Führung von Isabelle Kocher (53), einer der größten Betreiber von Gasinfrastruktur und Gaskraftwerken in Europa, trägt ebenfalls ein Zehntel zu Nord Stream 2 bei und hält 9 Prozent an der alten Nord Stream AG. Wegen des starken Interesses von Engie sorgte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für Überraschung, als er die deutsch-französische Blockade gegen die EU-Gasdirektive vorübergehend auflöste.
Unbeirrt hinter Nord Stream stehen hingegen die Niederlande. Im gleichen Maß wie Engie ist der Konzern Gasunie an der alten Leitung beteiligt. Die Staatsfirma baut auch in Deutschland weiter die Verteilnetze aus. In der Heimat steht Gasunie wegen Erdbeben im Gasfördergebiet Groningen in der Kritik. Die Niederlande fahren ihre Produktion - die wichtigste heimische Erdgasquelle der EU - zurück. Auch deshalb werden russische Lieferungen wichtiger.
Der niederländisch-britische Multi Shell ist erst bei Nord Stream 2 eingestiegen, mit 10 Prozent wie die anderen westlichen Partner. Shell ist traditionell eher fürs Ölgeschäft bekannt, seit der Übernahme von British Gas 2016 aber auch der weltgrößte Produzent von verflüssigtem Erdgas. Dieses LNG wird von den Nord-Stream-Kritikern aus EU und USA als Alternative zu russischem Gas beworben. Der Transport per Pipeline ist jedoch erheblich billiger, sicherer und verlässlicher - und dieses Geschäft will sich auch Shell-Chef Ben van Beurden (60) nicht entgehen lassen.
Für all diese Konzerne könnte Nord Stream 2 zum Risiko werden, wenn die USA Sanktionen verhängen. Gestoppt wird das Projekt aber wohl kaum. Die Verlegearbeiten in der Ostsee sind bereits weit fortgeschritten. Mehr als 2100 Kilometer Röhren liegen bereits am Meeresgrund (nur 147 Kilometer fehlen), im wahren Wortsinn versenkte Kosten. Noch in diesem Jahr wollen die Projektpartner den Betrieb eröffnen.
Neben den langfristigen Interessen geht es auch um kurzfristige Aufträge für die deutsche Wirtschaft. 41 Prozent der 200.000 Rohre sollen von der Mülheimer Gesellschaft Europipe kommen, einem Gemeinschaftsbetrieb der Stahlkonzerne Salzgitter und Dillinger Hütte (hier bei einem Besuch der damaligen saarländischen Ministerpräsidentin und heutigen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer).
Am meisten auf dem Spiel steht allerdings für den russischen Staatskonzern Gazprom und seinen Chef Alexej Miller (57). Die Russen suchen zwar seit Jahren nach anderen Absatzmärkten vor allem in Ostasien, wo Erdgas auch zu deutlich höheren Preisen verkauft wird. Für große Gasmengen aus Westsibirien ist das jedoch zu weit entfernt. Russland ist vom Gasverkauf nach Westeuropa mindestens so abhängig wie Europa von Gaslieferungen aus Russland. Der direkte Weg zum Hauptabsatzmarkt Deutschland durch die Ostsee spart Transitgebühren - was die Pipeline zugleich zum wirtschaftlichen Vorteil und zum geopolitischen Instrument macht.
Ebenfalls ein Zehntel trägt der Energiekonzern Uniper. Erfolgreicher als in Deutschland, wo beispielsweise das moderne Gaskraftwerk Irsching nur noch als Netzreserve gebraucht wird, betreibt Uniper auch mehrere Gaskraftwerke in Russland selbst - ebenso wie der Uniper-Großaktionär Fortum aus Finnland, der deshalb auf russischen Druck vorerst nicht beim Düsseldorfer Konzern durchgreifen darf.
Foto: Tobias Hase/ dpaDer niederländisch-britische Multi Shell ist erst bei Nord Stream 2 eingestiegen, mit 10 Prozent wie die anderen westlichen Partner. Shell ist traditionell eher fürs Ölgeschäft bekannt, seit der Übernahme von British Gas 2016 aber auch der weltgrößte Produzent von verflüssigtem Erdgas. Dieses LNG wird von den Nord-Stream-Kritikern aus EU und USA als Alternative zu russischem Gas beworben. Der Transport per Pipeline ist jedoch erheblich billiger, sicherer und verlässlicher - und dieses Geschäft will sich auch Shell-Chef Ben van Beurden (60) nicht entgehen lassen.
Foto: AFPNeben den langfristigen Interessen geht es auch um kurzfristige Aufträge für die deutsche Wirtschaft. 41 Prozent der 200.000 Rohre sollen von der Mülheimer Gesellschaft Europipe kommen, einem Gemeinschaftsbetrieb der Stahlkonzerne Salzgitter und Dillinger Hütte (hier bei einem Besuch der damaligen saarländischen Ministerpräsidentin und heutigen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer).
Foto: Oliver Dietze/ dpaAm meisten auf dem Spiel steht allerdings für den russischen Staatskonzern Gazprom und seinen Chef Alexej Miller (57). Die Russen suchen zwar seit Jahren nach anderen Absatzmärkten vor allem in Ostasien, wo Erdgas auch zu deutlich höheren Preisen verkauft wird. Für große Gasmengen aus Westsibirien ist das jedoch zu weit entfernt. Russland ist vom Gasverkauf nach Westeuropa mindestens so abhängig wie Europa von Gaslieferungen aus Russland. Der direkte Weg zum Hauptabsatzmarkt Deutschland durch die Ostsee spart Transitgebühren - was die Pipeline zugleich zum wirtschaftlichen Vorteil und zum geopolitischen Instrument macht.
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