Henrik Müller

Stadt gegen Land Älter, grauer, ärmer - Deutschland driftet auseinander

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Stadt gegen Land: Neue Bevölkerungsprognosen zeigen, dass Deutschland immer weiter auseinanderdriftet. Was hält die Nation künftig noch zusammen?
Landflucht: Die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land werden größer

Landflucht: Die Diskrepanzen zwischen Stadt und Land werden größer

Foto: Thomas Eisenhuth / imago images/Thomas Eisenhuth

Eigentlich gibt es drei Deutschlands. Das erste ist ein relativ junges, wachsendes Land, das wirtschaftlich ziemlich erfolgreich ist. Das zweite altert und schrumpft rapide, seine ökonomische Leistungsfähigkeit ist bedroht. Dazwischen liegt ein drittes Deutschland, das stagniert und das in die eine oder die andere Richtung driften könnte. Die kommenden zwei Jahrzehnten werden erhebliche Verschiebungen mit sich bringen. Das erste Deutschland wird kleiner, während das zweite und das dritte Deutschland immer größere Teile der Fläche der Bundesrepublik beanspruchen werden.

Bis 2040 wird in rund der Hälfte der deutschen Kreise die Einwohnerzahl zurückgehen. Nur ein Viertel der Regionen kann noch mit Bevölkerungszuwächsen rechnen. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten war die Situation noch umgekehrt: Rund die Hälfte der Kreise wuchs, teils sogar kräftig. Nun ist ein immer größerer Teil Deutschlands demografisch auf dem absteigenden Ast, wie aus einer soeben veröffentlichten Prognose  des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hervorgeht. Es ist eine Trendwende, die die Bundesrepublik verändern wird – politisch, wirtschaftlich, kulturell. Die Diskrepanzen werden größer, zwischen Stadt und Land, zwischen jungen und alten Regionen.

Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung dürfte auch das Selbstbild dieser momentan ohnehin ziemlich unzufriedenen Nation verändern. Was hält das Land künftig noch zusammen? Was kann man tun? Schließlich werden alle drei Deutschlands auch in Zukunft aufeinander angewiesen sein.

Inseln im Grauen Meer

Die BBSR-Prognose zeigt eine zunehmende Polarisierung. Einige Regionen wachsen noch ziemlich dynamisch, vor allem Oberbayern, Teile Baden-Württembergs, das Rhein-Main-Gebiet sowie die Großräume Berlin und Hamburg. Dazu kommen Köln-Bonn, Düsseldorf und Münster im Westen, Nürnberg-Erlangen im Süden sowie Leipzig und Dresden im Osten.

Jenseits dieser demografischen Inseln wird es grau. Von den 100 Kreisen, die die größten Bevölkerungsverluste zu erwarten haben, liegen 55 in Ostdeutschland. Dort wird in einigen Gegenden die Einwohnerzahl um mehr als Fünftel zurückgehen.

Wo die Bevölkerung schrumpft, altert sie auch rapide. Das Durchschnittsalter wird auf dem flachen Land ("sehr periphere Regionen") auf über 50 Jahre steigen. Die Jüngeren sammeln sich in Metropolen und Uni-Städten. An Orten wie Erlangen, Mainz, Frankfurt, Münster, Freiburg, Offenbach, München, Darmstadt oder Heidelberg wird der Altersdurchschnitt der Bevölkerung auch 2040 noch unter 42 Jahre liegen – mehr als zehn Jahre jünger als in den dann ältesten Kreisen, etwa Spree-Neiße oder das Altenburger Land.

Die stark wachsenden Regionen ziehen gerade jüngere Frauen an, während schrumpfende Gegenden eher von älteren Männern geprägt sind. Die unterschiedliche Geschlechterzusammensetzung könne die demografische Eigendynamik verstärken, folgern die BBSR-Forscher: "Die Zahl der Geburten sinkt nicht nur in direkter Folge von Abwanderung, sondern auch als indirekte Folge des rückläufigen Anteils junger Frauen an der Bevölkerung." Im Gegensatz dazu würden "Zuwanderungsregionen sowohl direkt als auch indirekt" profitieren – von Zuwanderung und höherer Geburtendynamik.

Dazwischen liegt das dritte Deutschland: Gegenden wie der nördliche Teil Niedersachsens, das Rheinland oder Mittelfranken, die bislang gewachsen sind, in den kommenden 20 Jahren aber bestenfalls noch stagnieren werden.

Innerdeutsche Migranten

Die demografische Polarisierung begünstigt wirtschaftliche Divergenzen. Unternehmen siedeln sich kaum in Regionen an, wo sie es schwer haben, Mitarbeiter zu finden. Wenn sich die jüngeren, gut ausgebildeten in den Städten konzentrieren, werden Unternehmen keine eine andere Wahl haben, als ihnen zu folgen. Entsprechend dünn wird das Angebot an guten und gut bezahlten Jobs in der Fläche ausfallen – und die innerdeutschen Migrationsbewegungen zusätzlich beschleunigen.

Zurückgehende Steuereinnahmen machen es noch schwieriger, die öffentliche Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Wo heute schon Frust herrscht, weil Krankenhäuser in der Fläche dichtmachen oder Behördengänge eine Tagesreise erfordern, ist kaum Entspannung zu erwarten.

Jenseits des Einzugsgebiets der wachsenden Städte drohen den Immobilienmärkten herbe Wertverluste. Während städtische Wohnraumbesitzer wohlhabender werden, verfallen andernorts die Häuserpreise – und damit manch bescheidenes privates Vermögen. Bereits vom großen Immobilienboom seit 2010, getrieben von den extrem niedrigen Zinsen, profitierten vor allem die größeren Städte und metropolnahe Lagen. Sollte sich die Entwicklung durch steigende Zinsen umkehren, droht das Gefälle noch größer zu werden.

Die städtischen "Leitmilieus" (der Soziologe Andreas Reckwitz) der gebildet globalisierten Mittelschichten dürften sich vom Lebensgefühl in den ländlichen Regionen weiter entkoppeln. Schon heute pflegen sie ihre eigenen idealisierten Vorstellungen vom Landleben, die mit der Realität vor Ort häufig wenig zu tun haben. Das erste Deutschland prägt das Selbstbild der Nation – das zweite und das dritte Deutschland finden sich darin kaum wieder und wenden sich im Zweifel ab.

Wie gesagt, alle drei Deutschlands werden auch in Zukunft aufeinander angewiesen sein. Aber sich zusammenzuraufen, das wird zusehends schwieriger.

Ein neuer Deal zwischen Stadt und Land?

Immerhin, die Bundesrepublik besitzt Institutionen, die eine schon heute ziemlich heterogene Nation zusammenhalten. Doch die heraufziehenden demografischen Verschiebungen machen die Sache komplizierter.

Ein umfangreicher föderaler Umverteilungsstaat bemüht sich, dem verfassungsmäßigen Gebot gerecht zu werden, die "Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse" herzustellen. Nach Berechnungen der Ökonomen Marcel Henkel, Tobias Seidel und Jens Südekum verteilt Deutschland innerhalb seiner Regionen mehr als doppelt so viel Geld um  wie die EU mit all ihren Strukturfonds. Die hochproduktiven Metropolen werden zugunsten des flachen Landes zur Kasse gebeten. Würde man diese Überweisungen einstellen, könnte die Bundesrepublik insgesamt deutlich produktiver werden, kalkulieren die Ökonomen. Weil noch mehr Leute in die Großstädte zögen, würde die Produktivität im nationalen Durchschnitt spürbar ansteigen. Allerdings haben die Autoren Zweifel, ob ein solcher Laissez-faire-Ansatz sinnvoll wäre. Immer vollere und teurere Städte einerseits, verödete, menschenleere Landstriche andererseits wären kein sonderlich attraktives Szenario. Das bisherige deutsche Arrangement ist den Autoren zufolge schon ganz in Ordnung.

Doch die aktuelle Bevölkerungsprognose zeigt, dass das politökonomische Gleichgewicht aus der Balance zu geraten droht. Nimmt man die Zahlen des BBSR ernst, dann muss wohl künftig noch viel mehr Geld zwischen den Regionen umverteilt werden, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aufrechtzuerhalten. Die Metropolen könnten in den kommenden Jahrzehnten so stark belastet werden, dass ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt würde. Deutschland würde sich zwar gemeinsam gegen den demografischen Abstieg stemmen – allerdings um den Preis immer höherer Kosten. Es ist absehbar: Ein neuer finanzpolitischer Deal zwischen Metropolen und Peripherie muss her.

Eine kippelige Balance

Die Balance zwischen den drei Deutschlands zu bewahren, wird umso schwieriger, als die politischen Klammern, die die nationale Politik zusammenhalten, schwächer werden. Bislang haben die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD eine entscheidende Rolle beim Aushandeln der Kompromisse zwischen starken und schwachen Regionen. Sie sind überall präsent, in den Kommunen, den Ländern, dem Bund, in der EU. Sie vereinen all die Unterschiede, Widersprüche und Fliehkräfte der Nation in sich und versuchen, sie irgendwie zu einem Ganzen zu überwölben.

Doch die Volksparteien schwächeln. Die Sozialdemokratie ist nur noch ein Schatten früherer Stärke. Die Union ist im Abwind. Die Grünen sind vor allem in den städtischen "Leitmilieus" verankert. In ländlichen, absteigenden Regionen hingegen machen sich Rechtspopulisten breit. Wie in anderen westlichen Ländern auch, so befördert der sich zuspitzende Stadt-Land-Gegensatz die politische Polarisierung. Die Ungleichzeitigkeit des Seins in den Regionen schürt politische Konflikte. Kann man etwas dagegen tun?

Die Suche nach einem neuen Leitbild

Am Ende wird das Land ein neues Leitbild brauchen, in dem sich alle drei Deutschlands wiederfinden. Wie das aussehen soll, auf diese Frage wird der nächste Bundeskanzler eine Antwort anbieten müssen. Angela Merkel (66) jedenfalls hat es in ihrer langen Amtszeit beharrlich vermieden, ein großes nationales und europäisches Narrativ zu formulieren.

Auf der Ebene praktischer Politik würden zwei Ansätze helfen, die demografischen Divergenzen erträglicher zu machen:

Mehr Zuwanderung. Die BBSR-Prognose geht davon aus, dass die Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten einen Zuwanderungsüberschuss von mehr als 200.000 Menschen jährlich verzeichnet. Eine realistische Annahme. Sollte es jedoch gelingen, mehr leistungsfähige Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren, würde sich das Gesamtbild deutlich aufhellen. Gerade das stagnierende dritte Deutschland könnte davon profitieren. Dazu allerdings bedarf es einer durchdachten, langfristig angelegten Zuwanderungs- und Integrationsstrategie.

Mehr Digitalisierung. Die Corona-Krise und das Gewürge um Impfungen und Tests hat Deutschlands Mängel in Sachen Digitalisierung brutal bloß gelegt. Der Ausbau leistungsfähiger Datendienste könnte gerade abstiegsbedrohten Randregionen helfen – durch bessere Standortbedingungen für Unternehmen auf dem Land, bessere Voraussetzungen für digitale Services der staatlichen Verwaltung, ärztliche Onlineberatung und vieles mehr.

Alternde Gesellschaften laufen Gefahr, in nostalgischer Rückschau die Vergangenheit zu glorifizieren. Aber die Vergangenheit ist ebendies: vergangen. Und die Zukunft kommt unweigerlich. Besser, man ist drauf vorbereitet.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Montag
Brüssel – Scholz und Co. – Tagung der Eurogruppe. Thema wird unter anderem: Wie die Corona-Krise die Euro-Zone trifft, regional und sektoral.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Salzgitter, Hypoport, Morphosys, Talanx.

Dienstag
Wolfsburg – Diess und dasVolkswagen bittet zur Jahrespressekonferenz. Vorstandschef Herbert Diess berichtet über das zurückliegende Geschäftsjahr und die elektromobile Zukunft.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Zalando, Fraport, Porsche.

Mittwoch
Washington – Jay, low – Sitzung der US-Notenbank Federal Reserve: Die Fed und ihr Chef Jerome Powell geben ihren weiteren geldpolitischen Kurs bekannt. Bislang hatten sie betont, die Wirtschaft bei voll durchgedrücktem Gaspedal – aka extrem niedrigen Zinsen – weiter Fahrt aufnehmen lassen zu wollen.

Den Haag – Schön konservativ – Parlamentswahl in den Niederlanden. Premier Rutte dürfte im Amt bleiben.

Donnerstag

Berlin – 1,9 Milliarden weg I – Der Untersuchungsausschuss zum Bilanzskandal bei Wirecard tagt erneut. Als Zeugen sind mehrere ehemalige Mitarbeiter und Aufsichtsratsmitglieder geladen.

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von FedEx, Nike.

Freitag
Berlin – 1,9 Milliarden weg II – Untersuchungsausschuss zum Bilanzskandal Wirecard: Als Zeugen geladen sind unter anderem Wirtschaftsprüfer von EY.

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Continental, Bechtle.

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