
Künstliche Intelligenz Der Mensch fängt gerade erst an


Prediger: Google-Boss Sundar Pichai erwähnte Mitte Mai während seiner 15-minütigen Keynote auf der Konzern-Entwicklerkonferenz 27 Mal den Terminus "AI"
Foto: Bloomberg / Getty ImagesAI. AI. AI, AI, AI. AI? AI! AI (AI). AI, AI; AI? AI! 143 Mal in zwei Stunden erwähnten Google-CEO Sundar Pichai (50) und andere Keynote-Speaker der konzerneigenen Entwicklerkonferenz gerade die Buchstaben des Jahres. Sparen wir uns die restlichen 130 Instanzen, denn die Botschaft ist klar: In Sachen künstlicher Intelligenz, im Deutschen also KI, geht Google all-in. Mit "Bard" bringt das Unternehmen nicht nur ein eigenes ChatGPT-Äquivalent in die Welt, sondern macht die KI zum Herzen des Google-Ökosystems. Der aktuelle Hype um das Thema nervt Sie bereits? Wir sind noch weit vom Peak entfernt.

Max Threlfall
Christoph Bornschein ist Geschäftsführer von TLGG. Die Gruppe berät Kunden aus Pharma, Mobility und Finance zu digitalen Businessmodellen und Markentransformation.
Geschwindigkeit und Ausmaß der Entwicklungsschritte, die Werkzeuge wie ChatGPT oder Midjourney in den vergangenen Monaten gemacht haben, sind schwindelerregend. Sie erinnern an das Al-Bartlett-Zitat, das größte Manko der Menschheit sei unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen. Jahrelang waren wir auf einer nur sehr langsam ansteigenden Kurve der Versprechungen und Enttäuschungen unterwegs – und plötzlich krachen wir gegen die Wand. Wie es nun weitergeht, können wir nur mutmaßen.
Ein wiederkehrendes Motiv dieser Tage: nackte Angst. Da ist er wieder, der Computer, der den Menschen die Jobs wegnimmt. Das auch schon wieder viel zitierte Bonmot "Nicht die KI wird dir den Job klauen, sondern jemand, der KI benutzt" tröstet wenig, wenn vernetzte KI-Lösungen am Ende auch die "KI-Nutzer" ersetzen werden. Natürlich schafft jeder Technologiesprung auch völlig neue Tätigkeiten, Positionen und Berufsbilder, aber der Weg dahin – millionenfache Bildung, Ausbildung, Neuorientierung – wird hart. Und angesichts der aktuellen Beschleunigung bleibt auch das Ziel unklar.
Vielleicht ist dies ein guter Augenblick für Grundsatzfragen. Dass sämtliche Bachelor-Arbeiten der Geschichte auch von einer aktuellen KI hätten geschrieben werden können, sagt einiges über die aktuelle KI, aber noch mehr über sämtliche Bachelor-Arbeiten der Geschichte. Dass die KI nun droht, etliche Stellen in den Segmenten "Gebrauchstext" und "Gebrauchsgrafik" überflüssig zu machen, ist auch deshalb möglich, weil Googles SEO-Richtlinien Millionen von Clickworkern darauf konditioniert haben, am Content-Fließband Inhalte zu erstellen, die vor allem Maschinen lesen, bewerten und nach thematischer Relevanz ordnen können.
Irgendwo zwischen den Diskussionen um das Ideal der Vollbeschäftigung und dem Gottseibeiuns des Fachkräftemangels ist unwichtig geworden, dass wirklich viele Menschen wirklich viel Zeit mit wirklich trister, repetitiver, geistig unterfordernder Arbeit verbringen. Diese Zeit könnten sie anspruchsvolleren, gesellschaftlich relevanteren oder schlicht für sie selbst interessanteren Tätigkeiten widmen. Die KI-Debatte verleiht lange unterdiskutierten Fragen neues Gewicht – zu den gesellschaftlichen Früchten von Fortschritt und Innovation etwa, oder der sozialen, finanziellen und identitätsstiftenden Rolle von Arbeit. Kann ich die Argumente gegen die Viertagewoche noch einmal sehen?
Manch einer zieht Trost daraus, dass vieles an den aktuellen KI-Modellen, die aus Vergangenem lernen und extrapolieren, auch sehr banal wirkt. Ja, sie produzieren Erfolg versprechende Geschäftsideen, Fake-Songs von Drake oder Oasis und den Gewinner der Sony World Photography Awards – aber all das ist letztlich nur die Neuanordnung bekannter Parameter, von Nutzerinnen und Konsumenten nach klassischen Maßstäben bewertet und für gut befunden. Aber auch diese Banalität ist vom Menschen nicht weit entfernt: Innovation ist oft genug nur das Resultat eines entschlossenen Durchmischens und Verknüpfens existierender Ansätze und Methoden. Und so schwer wie wir uns damit in den vergangenen zwanzig Jahren getan haben – wann kommt der erste GPT-CEO?
Das mag alles sehr pessimistisch, problembezogen und wenig lösungsorientiert klingen, aber wieder einmal erscheint es sinnvoll, zunächst auf ein Problembewusstsein zu pochen. Denn die Fragen dieser Tage sind absolut nicht neu. Was kommt nach dem Hype? Welche Second-Order-Effekte lassen sich antizipieren? Wie verändert Technologie unsere Gesellschaft und unser Menschenbild? Wie befähigen wir die aktuelle Workforce für die Zukunft, wie bilden wir die kommende aus? Was bedeutet Arbeit, was bedeutet sinnvolle Arbeit? Was ist menschliche Produktivität, wenn der Automat uns alles abnimmt?
ChatGPT hat Antworten auf diese Fragen. Aber muss die KI nun wirklich alles selbst machen?