Grün-gelbe Gespräche Ampel oder Jamaika - das steht für die Wirtschaft auf dem Spiel

Deutschland steht vor einem neuen Format der Regierungsbildung: Die kleinen Parteien FDP und Grüne ziehen die Kompromisslinien vorab unter sich fest. Von Steuern über Klima bis Verkehr sind etliche Konflikte zu lösen - der Überblick.
Partner wider Willen: FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock (Bild von 2019)

Partner wider Willen: FDP-Chef Christian Lindner und Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock (Bild von 2019)

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Gregor Fischer/ dpa

Jetzt ist Fantasie gefragt. Die fehle ihm, hatte FDP-Chef Christian Lindner (42) vor der Bundestagswahl immer wieder erklärt, um sich eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen vorzustellen, die nun das Wahlergebnis nahelegt. Die großen inhaltlichen Konflikte zwischen FDP und Grünen müssten aber auch überbrückt werden, um eine Jamaika-Koalition mit CDU/CSU als zweite plausible Option zu ermöglichen. In einem sind sich die Führungen der beiden Parteien einig: dass sie zuerst unter sich klären, unter welchen Bedingungen sie eine Regierung bilden könnten, die dann entweder Olaf Scholz (63, SPD) oder Armin Laschet (60, CDU) als Bundeskanzler führen könnte.

Was die Teams um die Grünen-Chefs Annalena Baerbock (40) und Robert Habeck (52) sowie Lindner in den kommenden Wochen aushandeln, dürfte zentrale Weichen für die deutsche Wirtschaft stellen - vermutlich mehr als die danach anstehenden offiziellen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen mit der Kanzlerpartei.

Steuern

Am größten ist die Kluft in der Finanzpolitik - ausgerechnet dem Feld, in dem sowohl Lindner als auch Habeck ziemlich offen Interesse am Ministerposten als großer Preis im Koalitionspoker angemeldet haben. Die FDP fordert "ein grundlegendes Umdenken in der Steuerpolitik", was vor allem niedrigere Abgaben für Unternehmen und Gutverdiener bedeutet. Dass die Liberalen dieses zentrale Wahlversprechen in ihrer vorigen Regierungsbeteiligung 2009-2013 nicht umsetzen konnten und anschließend aus dem Bundestag flogen, gilt ihnen als unbedingt zu vermeidender Fehler. Auf der anderen Seite sehen die Grünen Steuern als "zentralen Hebel für Gerechtigkeit". Sie wollen höhere Spitzensteuersätze, eine Vermögensteuer und Steuern auf bisher nicht abgabenpflichtige Finanzspekulation - alles ein Graus für die FDP. Die einen wollen von Reich zu Arm umverteilen, die anderen umgekehrt. Nach Schätzung des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW würde das Grünen-Programm den Fiskus stärken wie sonst nur die zur Opposition verdammten Linken, während die FDP die Staatskasse am stärksten leeren würde.

Kompromiss? Entweder gibt eine Seite klein bei, oder die Partner müssen auf Symbole statt Substanz setzen: beispielsweise die Vermögensteuer absagen, wie schon vor der Wahl vom baden-württembergischen Grünen-Finanzminister Danyal Bayaz signalisiert, und stattdessen behutsam die Erbschaftsteuer anpassen. In der Einkommensteuer ließen sich - vermutlich nach einigen Jahren mit Blick auf den auch von Lindner als Bedingung genannten "Kassensturz" - die Tarife so verschieben, dass viele Gutverdiener entlastet würden, was der Klientel beider Parteien zugute käme. Als Ausgleich für das soziale Gewissen und die Handlungsfähigkeit des Staats böte sich, für beide Seiten vertretbar, das Schließen von Steuerschlupflöchern an. Dass damit die Steuern vereinfacht werden, könnte die FDP auch noch als Erfolg verkaufen (außer gegenüber Steuerberatern). Einig sind sich FDP und Grüne immerhin darin, die Gewinne von Digitalkonzernen gezielt zu besteuern.

Investitionen

Die FDP hat ein klares Bekenntnis zur Schuldenbremse abgegeben, die Grünen wollen sie reformieren, um "die so dringenden Investitionen zu ermöglichen". Schulen, Schienen, Straßen und digitale Netze sanieren wollen alle, doch das Geld dafür dürfte nach dem FDP-Programm, das weder Spielraum für Steuern noch für Schulden lässt, praktisch nur aus privaten Quellen stammen - in der Hoffnung, dass der Staat diese Investitionen mit weniger Bürokratie und besseren Abschreibungsbedingungen hervorlocken kann, obwohl die Unternehmen bisher kaum ein lohnendes Geschäft darin sahen.

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Kompromiss? Zumindest ein bisschen Flexibilität zeigte Linder schon vor der Wahl, als er sich von der schwarzen Null (einem ausgeglichenen Haushalt, ein strengeres Ziel als die vom Grundgesetz vorgegebene Schuldenbremse) distanzierte. Eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit ist ohnehin mit keiner denkbaren Koalition in Sicht, also bleibt vermutlich nur eine kreative Lösung, um mit der Schuldenbremse umzugehen und gleichzeitig die Jahrhundertchance der Minuszinsen am Anleihemarkt zu nutzen: ein Investitionsfonds außerhalb des Haushalts oder semiprivate Investitionen mit Hilfe der Förderbank KfW. Immerhin für die Bildung will die FDP Haushaltsmittel in Höhe von einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer reservieren. Davon abgesehen, dürfte die ganz große staatliche Investitionsoffensive unter Grün-Gelb kaum drin sein.

Klima

Grünen-Chefin Baerbock nennt als zentrale Bedingung, die künftige Koalition müsse eine "Klimaregierung" bilden. Auch Klimaschutz wollen zwar im Prinzip alle, aber mit sehr unterschiedlichen Ambitionen und Ansätzen. Den ganzen Wahlkampf über hat die FDP gegen "Verbote und Dirigismus" agitiert, und meint damit vor allem das Programm der Grünen, das konkrete Ausstiegsdaten aus fossiler Technik vom Kohlekraftwerk über die Ölheizung bis zum Benzinmotor sowie eine CO2-Bremse quer durch alle Gesetze fordert. Die FDP dagegen will weg von den geltenden Sektorenzielen und alles über den EU-Emissionshandel regeln, der die Menge der erlaubten CO2-Emissionen deckelt und über einen an der Börse ausgehandelten Preis regelt. Um das Ziel einer Erderwärmung um höchstens 1,5 Grad zu halten, müsste dieser Preis allerdings sehr schnell sehr teuer werden.

Kompromiss? Die Grünen wollen CO2 ebenfalls verteuern, warnen aber vor "erheblichen sozialen Unwuchten" und dass sich "einige rauskaufen könnten", während "andere nicht mehr teilhaben", wenn dies das einzige Mittel wäre. Die Angst, eine deutsche Gelbwestenbewegung zu verantworten, könnte die FDP zum Abrücken von der reinen Marktlehre bewegen. Die Alternative wäre den Grünen kaum vermittelbar: ein ambitioniertes Klimaschutzziel ausgeben, das aber von einer europäischen oder gar globalen Einigung abhängt und große wirtschaftliche Opfer verlangt, was den Start um mehrere Jahre verzögern oder realistischerweise ganz unmöglich machen würde. Das Zugeständnis an die Liberalen könnte daher eher symbolischer Natur sein: mehr den Aspekt der Innovation betonen und Verbote zumindest nicht so nennen. Ein wenig mehr Marktanreiz über den CO2-Preis, verbunden mit sozialem Ausgleich über niedrigere Stromsteuer und/oder ein Energiegeld als Kopfpauschale, wäre realistisch.

Auto

Besonders brisant wird es bei den konkreten Auswirkungen auf einzelne Branchen, zumal für die Autoindustrie als Deutschlands wichtigster Industrie. Die Grünen sind die stärksten Verfechter der Wende zur Elektromobilität. Die FDP hingegen nutzt die Formel von der "Technologieoffenheit", um den Verbrennungsmotor zu verteidigen - und legt sich dann doch auf favorisierte, noch zu entwickelnde Technologien fest: mal die Wasserstoff-Brennstoffzelle, mal synthetisches Benzin (E-Fuels). Mit "Hyperloop, Drohnen, Flugtaxis" ist noch mehr Zukunftsmusik drin, um den Status Quo zu begleiten. Für viele Zulieferer, die eine Umstellung auf Elektro nicht schaffen, könnten die Liberalen sich als Lebensversicherung erweisen. Konzerne, die bereits Multimilliardenbeträge in die Wende investieren, fürchten genau das. Der Sprecher von Volkswagen-Chef Herbert Diess outete sich am Montag als Grünen-Mitglied. Als solcher wäre er "persönlich enttäuscht, wenn sie nach diesem Wahlkampf mit der Union koalieren", schrieb Michael Manske am Montag auf Twitter . Wegen der großen schwarz-gelben Schnittmengen dürfte die Aussage auch gegen ein starkes Entgegenkommen an die FDP zielen. Chef Diess legte mit einem konkreten Forderungskatalog für die Gespräche nach.

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Kompromiss? Als Stimme der wirtschaftlichen Vernunft könnte so ein Appell wie der von Diess auch bei der FDP verfangen. Elektroautos stehen ja auch für liberale, innovative, individuelle Mobilität - keine prinzipielle weltanschauliche Hürde. Ebenso gut ist eine grün-gelbe Allianz für Mobilitätsdienste wie Ridesharing, E-Scooter-Flotten oder Fernbusse vorstellbar. Die Deutsche Bahn als Staatskonzern und die ÖPNV-Betreiber drohen zu Verlierern der Koalitionsgespräche zu werden, vor allem insofern sie viel Geld kosten. Die FDP dürfte alles, was die Freiheit der Autofahrer einschränkt wie Tempolimits, Radspuren, Umweltzonen oder Citymaut, abzuwehren oder zumindest in kommunale Verantwortung abzugeben versuchen.

Energie

Die Energiewende als solche steht nicht mehr infrage. Auch hier haben sich große Konzerne längst so positioniert, dass das Grünen-Programm sich mit ihren Interessen deckt. Das Tempo beim Ausbau von Wind- und Sonnenkraft drastisch zu erhöhen, fordern Siemens als Anlagenbauer, Eon als Betreiber ebenso wie Volkswagen als Abnehmer. Die FDP will auch hier möglichst wenig Hilfe vom Staat: Die EEG-Umlage solle abgeschafft werden, Ausbaupfade und Abnahmepreise dürften nicht gesetzlich vorgegeben werden.

Kompromiss? Der liegt hier näher, als es zunächst scheint. Auch die Grünen sehen die Erneuerbaren nach hunderten Milliarden Euro Anschubhilfe in dem Stadium, sich subventionsfrei am Markt zu bewähren. Die EEG-Umlage werde daher "langfristig" ohnehin auslaufen. Und das Zauberwort bei der FDP-Forderung nach Abschaffung heißt "schrittweise". Dem Ausbau hinderliche Regeln zu schleifen, ist beiden Parteien ein Anliegen - und die Akzeptanz durch mehr Bürgerbeteiligung zu erhöhen, auch. Den Kohleausstieg wollen die Grünen von 2038 auf spätestens 2030 vorziehen, aber nicht per Erlass, sondern mithilfe der CO2-Börse. Das könnte der FDP auch passen.

Rente

Die Börsenfans von der FDP propagieren eine "Aktienrente", die Grünen wollen Riester und Rürup zugunsten eines öffentlichen "Bürger*innenfonds" abschaffen, in den alle einzahlen, und das gesetzliche Rentenniveau bei 48 Prozent des Einkommens stabilisieren. Verschiedene Haltungen zum Sozialstaat und Eigenverantwortung treffen aufeinander.

Kompromiss? Beide Parteien haben sich bereits seit Jahren aufeinander zu bewegt. Rein symbolisch haben die Liberalen einen starken Lockruf, indem sie das rot-grün regierte Schweden zum Vorbild für ihr Modell erheben. Dass es Reformbedarf gibt, ist Konsens. Und das Umlagesystem an sich steht auch nicht infrage, flexibilisieren wollen es sowohl Grüne als auch FDP. Die Grünen-Vorschläge zur Sicherung der gesetzlichen Rentenkassen sind auch alles andere als ein Liberalenschreck: höhere Frauenerwerbstätigkeit durch Rückkehrrecht auf Vollzeitstellen, ein "echtes Einwanderungsgesetz" und mehr Arbeitsmöglichkeiten für Ältere.

Arbeitsmarkt

"Den gesetzlichen Mindestlohn werden wir sofort auf 12 Euro anheben", haben die Grünen zur Wahl versprochen. Das einst von Rot-Grün eingeführte Hartz IV wollen sie "überwinden" zugunsten einer "Garantiesicherung" gegen Armut. Tariftreue als Bedingung für öffentliche Aufträge, Recht auf mobiles Arbeiten, Kontrolle der Arbeitszeit, Kurzarbeitergeld für Weiterbildung - in vielen Punkten suchen die Grünen die Nähe der Gewerkschaften. Der langjährige Verdi-Chef Frank Bsirske sitzt künftig für sie im Bundestag. Der FDP sind solche Anwandlungen fremd. Sie wirbt für ein "liberales Bürgergeld", um den Sozialstaat zum "Sprungbrett" zu machen: mit freien Möglichkeiten zum Zuverdienst sowie Schonvermögen für Leistungsempfänger.

Kompromiss? Mit allem, was mehr Vorschriften für Unternehmen bedeutet, werden die Grünen bei der FDP einen schweren Stand haben. Was für Modernität und Flexibilität steht, könnte hingegen durchgehen. Das "liberale Bürgergeld" und die grüne "Garantiesicherung" sind gar nicht so grundverschieden. Und der Mindestlohn? Da werden die Liberalen auf die zuständige, unabhängige Kommission verweisen. Die könnte aber auch von selbst bald darauf kommen, 12 Euro vorzuschlagen - nicht mehr weit von den für kommenden Juli vorgesehenen 10,45 Euro.

ak
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