Henrik Müller

Woche der Zinserhöhungen Geld oder Leben?

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Die Zentralbanken bekommen die Inflation bislang nicht unter Kontrolle. Verteilungskämpfe sind in vollem Gange. In dieser Woche entscheiden EZB und Fed über das weitere Vorgehen. Sie stehen vor schwierigen Abwägungen.
Geld oder Leben? EZB-Chefin Christine Lagarde muss in dieser Woche einmal mehr über die Zinsen entscheiden

Geld oder Leben? EZB-Chefin Christine Lagarde muss in dieser Woche einmal mehr über die Zinsen entscheiden

Foto: Michael Probst / AP

Stell dir vor, es ist Inflation, und nichts haut so richtig hin. Obwohl die Notenbanken seit vorigem Jahr rapide die Zinsen angehoben haben, steigen die Preise weiter. Im Kern hat sich nicht viel zum Besseren gewendet: Das Leben wird immer teurer; ohne Energie und Nahrungsmittel gerechnet, legen die Konsumentenpreise (die "Kerninflation") nach wie vor mit Jahresraten von zuletzt mehr als 5 Prozent zu. (Neue Zahlen für die Eurozone gibt’s Dienstag.)

In der ersten Phase der Inflation waren es Unternehmen, die kräftig absahnten, indem sie ihre Preise erhöht und Gewinne nach oben trieben. Jetzt versuchen Beschäftigte und Gewerkschaften, die erlittenen Reallohnverluste zumindest teilweise wettzumachen. (Achten Sie auf die Kundgebungen zum 1. Mai am Montag.)

Seit drei Jahren sinken in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Realeinkommen – zunächst wegen der Corona-Rezession, seit vorletztem Jahr wegen der unerwarteten Inflation . Klar, dass die Tarifforderungen inzwischen höher ausfallen, zumal in Deutschland, wo der Arbeitsmarkt demographiebedingt zunehmend enger wird und zwei Millionen Stellen unbesetzt sind.

Die Inflation verfestigt sich zusehends. Verteilungskämpfe sind in vollem Gange. Aber die Beschäftigten haben wenig Chancen, ihre Realeinkommensverluste kurzfristig aufzuholen.

Nach jahrzehntelanger Ruhe an der Preisfront herrscht nun bei allen Beteiligten erhöhte Wachsamkeit. Der "Inflation Attention Cycle"  nimmt seinen Lauf, wie unser Forschungszentrum DoCMA kürzlich herausgearbeitet hat. Firmen und Bürger preisen längerfristig erhöhte Inflationsraten in ihr Handeln ein. Währenddessen versuchen die Notenbanken, die destruktive Dynamik zu bremsen, die sie selbst durch verspätetes Eingreifen 2021/22 mitverursacht haben.

Mittwoch entscheidet die US-amerikanische Federal Reserve, Donnerstag die Europäische Zentralbank (EZB). Beiderseits des Atlantiks dürften die Leitzinsen weiter steigen, wenn auch vermutlich nur in kleinen Schritten. Die Fed wird den kurzfristigen Zins wohl auf dann knapp über 5 Prozent anheben, die EZB vermutlich auf 3,75, vielleicht sogar auf 4 Prozent.

Hartnäckiger Kern

Geld wird immer teurer. Aber so richtig haut die Strategie nicht hin: Trotz stagnierender Wirtschaft in Europa und sich abschwächenden Wachstums in den USA erweist sich die Kerninflation als hartnäckig.

Zugleich rücken die Risken und Nebenwirkungen der Anti-Inflationspolitik ins Blickfeld. Schon bei den vorigen Zinssitzungen haben die Zentralbanker darüber diskutiert, ob sie die schwelende Bankenkrise nicht weiter anfachen, wenn sie die Zinsen weiter nach oben schleusen, wie die Sitzungsprotokolle belegen. Es ist eine schwierige Abwägung: Greifen die Notenbanken zu immer härteren Mitteln, um die Inflation einzuhegen, riskieren sie damit womöglich die nächste große Finanzkrise. In den USA stand Ende der abgelaufenen Woche eine weitere Bank, First Republic, am Rande des Kollapses. Bankkunden leeren ihre Konten und schaffen ihre Einlagen zu den allergrößten Instituten, die sie für sicher halten.

Der Auslöser des Schwelbrands auf dem Bankenmarkt sind die steigenden Zinsen. Geldmarktfonds werfen in den USA inzwischen um die 5 Prozent ab. Für Bankkunden wird es deshalb immer unattraktiver, Einlagen auf Bankkonten liegenzulassen. Doch der Abfluss flüssiger Mittel – und der gleichzeitige Wertverlust von Vermögenswerten, eine automatische Folge steigender Zinsen – bringt manche Bankbilanz in Schieflage.

Die Notenbanken stehen vor einem Szenario mit vielen Unbekannten. Sie müssen abwägen zwischen Geldwertstabilität (niedriger Inflation) und Finanzstabilität (Ruhe bei Banken und Börsen). EZB-Präsidentin Christine Lagarde (67) hat zwar immer wieder betont, dass es diese Abwägung nicht gebe, sondern dass die Bekämpfung der Inflation absolute Priorität habe. In der Realität jedoch müssen die Notenbanken die Rückwirkungen ihrer Maßnahmen auf den Finanzsektor im Blick behalten. (Dienstag findet eine Konferenz der europäischen Bankenaufsicht statt.)

Kurzfristig herrschte EZB-Alarm

Die Fallhöhe ist enorm. Während einer langen Phase sinkender Zinsen, die den Schuldendienst immer weiter verbilligten, sind die Verbindlichkeiten weltweit auf Rekordhöhen gestiegen.

Hohe Schulden sind so lange kein Problem, wie man sie bedienen und refinanzieren kann. In der Welt niedriger Zinsen und reichlicher Liquidität, in der wir bis vor Kurzem lebten, war das eine leichte Übung. Nun jedoch stellen rasch steigende Zinsen manches Finanzierungsmodell in Frage. Das gilt für einzelne Banken, Unternehmen, aber auch für ganze Staaten.

Immerhin, bislang herrscht in der Eurozone Ruhe. Die Zinsabstände ("Spreads") gegenüber deutschen Staatsanleihen sind stabil und niedrig, trotz teils sehr hoher Schulden. Aber das muss keineswegs so bleiben. Vorigen Sommer herrschte bereits kurzfristig EZB-Alarm, weil Italiens Spreads im Zuge der angekündigten geldpolitischen Straffung rasch gestiegen waren. Die Notenbank ersann daraufhin ein neues "Anti-Fragmentierungs-Instrument", das ein Auseinanderdriften der Zinsen innerhalb der Eurozone verhindern soll.

Alle Welt schaut dabei mit einem Auge nach Italien, wo eine rechtslastige Regierung am Ruder eines der am höchsten verschuldeten Staaten der Welt wirkt. Dass auch Frankreichs Finanzlage nicht gerade rosig ist, bleibt meist unter dem Radar. Doch auch der zweitgrößte Euro-Staat driftet immer weiter ins Defizit. Parallel dazu haben gallische Unternehmen gigantische Verbindlichkeiten aufgetürmt. Die französische Gesamtverschuldung ist weit aus dem Ruder gelaufen. Zusammen schieben Staat, Unternehmen und Bürger Bruttoschulden in Höhe des 3,4-Fachen der Wirtschaftsleistung vor sich her, ein internationaler Spitzenwert, wie aus Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hervorgeht.

Für Europas Zukunft ist das ein Problem. Frankreich ist ein zentrales Mitgliedsland, das hierzulande viel zu wenig Beachtung findet (siehe dazu meine Kolumne im aktuellen manager magazin ) In der Sache ist die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron (45) denn auch unabweisbar. Der politische Stil ist eine andere Frage.

Remake des 90er-Jahre-Klassikers

Steigende Zinsen haben das Potenzial, Gerölllawinen im Schuldengebirge auszulösen. Die Eurozone ist nicht gut auf solche Unfälle vorbereitet. Zwar stehen mit dem Rettungsschirm ESM, der gemeinsamen Bankenaufsicht und der zentralen Bankenabwicklungsbehörde inzwischen Institutionen bereit, die in der letzten Eurokrise ab 2010 geschaffen wurden. Aber wenn alle Stricke reißen, bleibt nur die EZB als einzig vollständig handlungsfähige Institution. Um die Lage zu beruhigen, müsste sie den Abbau ihrer Anleihebestände ("Quantitative Tightening") stoppen oder gar erneut Wertpapiere aufkaufen, womöglich gar die Leitzinsen wieder senken. Es wäre das Gegenteil dessen, was angesichts der hartnäckigen Inflation eigentlich geboten ist – statt konsequenter Straffung würde es zu einer abermaligen geldpolitischen Lockerung kommen.

Ob das Projekt Inflationseindämmung funktioniert, hängt deshalb auch von der europäischen Finanzpolitik ab. Anders als in anderen Währungsräumen gibt es ein Vierteljahrhundert nach Gründung der Eurozone im Mai 1998 immer noch kein echtes zentrales Budget, das bereitstünde, die Währungsunion zusammenzuhalten und die EZB bei der Wahrung der Finanzstabilität zu entlasten.

Statt die Eurozone institutionell entscheidend weiterzuentwickeln, verstrickt sich Euro-Europa derzeit wieder mal in den sattsam bekannten Streit über die Überwachung der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitik ("Stabilitäts- und Wachstumspakt", "Makroökonomisches Ungleichgewichtsverfahren"). Die EU-Kommission hat dazu in der abgelaufenen Woche neue Mechanismen vorgeschlagen . Bundesfinanzminister Christian Lindner (44, FDP) lehnte sie in einem Gastbeitrag für die "Financial Times" umgehend ab – zu wenig verbindlich. Die französische Regierung ist mit den vorgeschlagenen Regeln ebenfalls nicht einverstanden – zu strikt. Es wirkt wie das x-te Remake eines Klassikers aus den 90ern. Wir sollten uns nicht damit zufriedengeben.

Zeit für einen neuen Ansatz

Mehr europäische Integration ist aus meiner Sicht die einzig sinnvolle Antwort auf die viel beschworene "Zeitenwende". Angesichts der geopolitischen Lage, die vom Ringen der Großmächte bestimmt wird, muss Europa robuster werden. Es braucht einen neuen Integrationssprung. Im Zentrum stünde dann eine ordentlich legitimierte föderale Ebene – mit eigenem Gemeinschaftshaushalt samt Steuereinnahmen, mit vergemeinschaftetem Militär und konsolidierter Rüstungsindustrie. Damit ließe sich die EU absichern, nach innen und nach außen. Auch die Währung ließe sich leichter stabilisieren, weil die EZB entlastet würde; sie müsste dann weniger Rücksicht auf hoch verschuldete Mitgliedstaaten nehmen. Die Glaubwürdigkeit der Zentralbank und der Eurozone insgesamt würde gestärkt. Wie jeder andere Währungsraum auf dem Globus bekäme Europa eine fiskalische Zentralebene.

Übrigens wären unter diesen Bedingungen wohl auch striktere Regeln zur Haushaltsüberwachung leichter durchsetzbar. Wenn etwas bislang nicht so richtig hinhaut, ist es an der Zeit, mal einen neuen Ansatz zu versuchen.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der neuen Woche

Montag

Köln – Zur Sonne…? Zentrale Mai-Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbunds.

Berichtssaison I – Geschäftszahlen von NXP Semiconductors, Avis Budget.

Dienstag

Luxemburg – Euflation – Die EU-Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht eine vorläufige Schätzung zur Inflation im Euroraum im April.

Frankfurt – Zur Stabilität des Euro-Finanzsystems – Konferenz zur Bankenaufsicht in der Eurozone. Es eröffnet der Chef der EZB-Bankenaufsicht, Andrea Enria.

London – On Strike – In Großbritannien streiken die Lehrer für höhere Löhne.

Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Traton, UniCredit, HSBC, BP, Pfizer, AMD, Starbucks, Ford, Uber.

Mittwoch

Washington – Jay in Turbulenzen – Die US-Notenbank Fed entscheidet über ihren weiteren Kurs. Trotz schwachem Wachstum im ersten Quartal und Stillstand im Markt für Gewerbeimmobilien hält sich die Inflation hartnäckig. Die grassierende Krise regionaler Banken erschwert der Fed eine weitere Erhöhung der Zinsen. Fed-Chairman Jay Powell hat bereits darauf hingewiesen, dass der Stress im Bankensektor von sich aus dämpfend wirken könnte – weil die Institute die Kreditvergabe zurückfahren. Womöglich steht ein "Credit Crunch" (Kreditklemme) bevor.

Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Post, Lufthansa, Porsche, Morphosys, Vorwerk, Airbus, BNP Paribas, Stellantis, Enel, Lloyds, Coca Cola, Qualcomm.

Frankfurt – Frühindikator – Der Maschinenbauverband VDMA legt neue Zahlen zu den Auftragseingängen in der Branche vor.

Donnerstag

Frankfurt – Schwierige Zeiten Die Europäische Zentralbank entscheidet über die weitere Geldpolitik. Interessant wird vor allem sein, wie sich Präsidentin Lagarde zu weiteren Ver- bzw. Ankäufen von Wertpapieren (Quantitative Tightening/ Quantitative Easing) äußert.

Wiesbaden – Wildes Deutschland – Das Statistische Bundesamt berichtet vom Export im März.

Berlin – Schröder wehrt sich – Der Ex-Kanzler und Putin-Freund hat gegen den Entzug von Sonderrechten als ehemaliger Regierungschef geklagt. Jetzt wird vor dem Verwaltungsgericht verhandelt.

Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Volkswagen, BMW, Rheinmetall, Vonovia, Bertelsmann, RTL, Hugo Boss, Elmos, Zalando, Anheuser-Busch InBev, Ferrari, A.P. Moller-Maersk, Shell, BAE Systems, Arcelor Mittal, Apple, Conoco Phillips, Lyft, AIG, Swiss Re.

Freitag

Washington – The American Job – Die US-Regierung veröffentlicht Daten zur Arbeitslosenquote.

Berichtssaison V – Geschäftszahlen von Adidas, Audi, Gea, Thales, Clariant, Air France-KLM, Intesa Sanpaolo.

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