Konjunkturprognose Deutsche Wirtschaft vor langer Schwächephase

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sieht vier wirtschaftspolitische Fehler, die Deutschland in den vergangenen Jahren begangen hat
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Der deutschen Wirtschaft steht nach Einschätzung prominenter Ökonomen eine jahrelange Phase schwachen Wachstums bevor. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen und das Ifo-Institut in München gehen übereinstimmend davon aus, dass die jährlichen Wachstumsraten mittelfristig unter einem Prozent liegen werden - und damit sehr viel niedriger als im Schnitt der vergangenen dreißig Jahre.
"Das Wirtschaftswachstum in Deutschland dürfte in diesem Jahrzehnt deutlich schwächer ausfallen als in den vermeintlich wirtschaftlich erfolgreichen 2010er Jahren", sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. "Die Abschwächung des Wirtschaftspotenzials Deutschlands geht auf eigene Versäumnisse zurück und hat wenig mit dem Krieg in der Ukraine oder der Corona-Pandemie zu tun."
Das Potenzialwachstum für die deutsche Wirtschaft dürfte ihm zufolge in diesem Jahrzehnt auf unter 1,0 Prozent sinken. Das sei vor allem dem Rückgang der Beschäftigung durch Demographie und Fachkräftemangel geschuldet, sagte Fratzscher. "Wenn die verschlafene Transformation zu einer Deindustrialisierung führen sollte, dann könnte das Wachstumspotenzial noch stärker sinken."
Wachstumsraten hätten sich ohnehin verringert
Laut IfW Kiel wuchs die deutsche Wirtschaft in den vergangenen dreißig Jahren im Mittel um jährlich 1,4 Prozent. Laut mittelfristiger Projektion des IfW dürfte das bis 2027 auf unter 0,7 Prozent zurückgehen. "Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange", sagte Vizepräsident Stefan Kooths.
Am RWI Essen ist die Einschätzung ganz ähnlich: "Die Krisen der vergangenen zwei Jahre haben das Wachstum der deutschen Wirtschaft zwar geschwächt, es hätte sich aber ohnehin in den kommenden Jahren verringert", sagte Konjunkturchef Torsten Schmidt. Laut Mittelfristprojektion des RWI dürfte das Wachstum des Produktionspotenzials von 1 Prozent in diesem Jahr auf 0,6 Prozent im Jahr 2027 zurückgehen.
Nach Erwartung des Münchner Ifo-Instituts dürften sich unter normalen Umständen die Wachstumsraten der deutschen Wirtschaftsleistung bis Ende des Jahrzehnts zwischen etwa einem halben und einem drei Viertel Prozent bewegen. Die Baby-Boomer-Generation scheide aus dem Arbeitsleben aus, sagte Ifo-Konjunkturforscher Robert Lehmann. Da weniger Menschen ins Arbeitsleben nachrücken, könne das Ausscheiden der Älteren nicht mehr kompensiert werden. "Damit nimmt der bereits jetzt beobachtete Fachkräftemangel noch spürbarer zu in den kommenden Jahren."
Vier große wirtschaftspolitische Fehler
Laut DIW-Präsident Fratzscher habe Deutschland in den vergangenen 20 Jahren vier große wirtschaftspolitische Fehler begangen. Als größtes Versagen kritisierte der DIW-Präsident die "bisher gescheiterte ökologische Transformation, die dazu geführt hat, dass Deutschland viel zu abhängig von fossilen und sehr teuren Energieimporten ist und die technologische Transformation zu nachhaltigen und innovativen Technologien verschlafen hat."
Der zweite Fehler seien überbordende Bürokratie und Besitzstandswahrung, die private Investitionen behinderten. "Der dritte Fehler ist das staatliche Investitionsdefizit, das dazu geführt hat, dass der deutsche Staat seit langer Zeit von seiner Substanz lebt." Fratzscher nannte verschlechtertes Bildungssystem und inadäquate Infrastruktur.
Das Fachkräfteproblem als vierte Schwäche wird sich nach Fratzschers Einschätzung in den kommenden Jahren deutlich verschärfen und für zahlreiche Unternehmen eine existenzielle Bedrohung darstellen.