
Vereine in Zahlen: Die Engagierten in Stadt und Land
Nahezu jeder zweite Bundesbürger arbeitet ehrenamtlich in Deutschland , berichtet die Studie "Ziviz-Survey 2017" . Doch was genau machen die Menschen und wie hat sich ihre Arbeit in der Vergangenheit verändert? manager-magazin.de hat mit Holger Krimmer, einem der Autoren der Studie, darüber gesprochen.

Holger Krimmer ist Prokurist und Mitglied der Geschäftsleitung der Wissenschaftsstatistik im Stifterverband. Er leitet die Geschäftsstelle ZiviZ, die die Studie über Vereine in Deutschland verantwortet.
mm.de: Herr Krimmer, Sie sind Geschäftsführer von Ziviz im Stifterverband, einem Think Tank für die Entwicklung von Zivilgesellschaft. Mit der Bertelsmann Stiftung und gefördert unter anderem vom Bundesbildungsministerium haben Sie die Studie "Ziviz-Survey 2017" herausgebracht. Demnach engagieren sich immer mehr Menschen in Deutschland in Vereinen, Stiftungen und anderen gemeinnützigen Organisationen. Das erscheint per se ja als eine gute Nachricht, dann ist doch alles in Ordnung.
Holger Krimmer: Ja, der Studie nach engagiert sich jeder Zweite in Deutschland freiwillig. Es gibt mit über 600.000 Vereinen so viele wie nie zuvor.
mm.de: Gleichzeitig beklagen Feuerwehren und andere Blaulichtvereine einen Rückgang. Wie passt das zusammen?
Krimmer: Wir beobachten einen Strukturwandel. Zwar engagieren sich mehr Bürgerinnen und Bürger als früher für gemeinnützige Zwecke. Aber das Engagement geht heute stärker in andere Bereiche als noch vor 10 oder 20 Jahren. Wachsenden Bereichen stehen damit schrumpfende gegenüber. Zudem hat die Bereitschaft, sich für ein bestimmtes Thema zu engagieren, nicht zwangsläufig mit gesellschaftlichen Bedarfen zu tun. Klar: Dass Blaulichtvereine gebraucht werden, dürfte für jeden einsichtig sein. Doch die Änderungen im Engagement hat eher mit veränderten Lebensmodellen, Lebensvorstellungen und Lebenswerten zu tun.
mm.de: Inwiefern?
Krimmer: Bildung ist das stärkste Merkmal für bürgerschaftliches Engagement. Wer gebildet ist, bei dem ist die Wahrscheinlichkeit für ein Engagement hoch. Gleichzeitig steigt mit dem Bildungsniveau die regionale Mobilität, Menschen ziehen häufiger um: im und für das Studium, für die erste Arbeitsstelle danach und auch weitere berufliche Etappen. Typische Ehrenamtskarrieren wie vor einigen Dekaden werden damit deutlich schwerer.
mm.de: Was meinen Sie mit typischer Ehrenamtskarriere?
Krimmer: Dabei handelt es sich um das Phänomen, dass Mitgliedschaften und Engagements früher häufig auch vererbt wurden. Junge Menschen wurden dann früh Mitglied in Jugendorganisationen der Verbände, Parteien und Gewerkschaften, denen schon die eigenen Eltern angehörten. Sich so entwickelnde Mitgliedschaften und Engagements haben sich nicht selten über die gesamte Biographie fortgesetzt. Das gibt es immer seltener. Mit diesem Problem haben aktuell auch Parteien zu kämpfen.
mm.de: Was bedeutet das konkret für die Vereine?
Krimmer: Auf Seiten von Verbänden und gemeinnützigen Organisationen bedeutet das: Jugendorganisationen von Feuerwehren und anderen arbeiten zwar erfolgreich. Doch sind die jungen Menschen erst mit der Schule fertig und ziehen sie für ihren ersten Studienplatz, kommt das Engagement zum Erliegen.
mm.de: Die Menschen könnten ja ihre Arbeit auch an einem anderen Ort fortsetzen, oder nicht?
Krimmer: Schon, wir stellen auch fest, dass ein Teil der ehemaligen Mitglieder und Engagierten später wieder einsteigt. Dennoch ist es für die Vereine schwierig, die Mitgliederzahl zu halten.
mm.de: Welche Gründe gibt es noch, die zum Rückgang von Engagement jüngerer Menschen in gemeinnützigen Organisationen führen können?
Krimmer: Junge Menschen nutzen die Möglichkeiten digitaler Vernetzung und Kommunikation anders als ältere Generationen. Digitale Literarität findet sich nicht in allen Generationen gleichermaßen. Das macht Verbänden, Vereinen und Parteien häufig auch zu schaffen. Wöchentliche Treffen, hierarchische und ältere Mitgliederstrukturen können junge, interessierte Menschen leicht abschrecken.
Wie sich das Engagement in Zeiten von Handy und Smartphone ändert
mm.de: Wie engagieren sich denn junge Menschen heute?
Krimmer: Engagement von jungen Menschen bewegt sich in die Richtung, zeitlich und örtlich unabhängig und vor allem sehr zielgerichtet zu sein. Das heißt, man engagiert sich zum Beispiel über eine Internetplattform an Projekten, die die räumliche Präsenz nicht mehr zwingend erforderlich macht.
mm.de: Sie haben in ihrer Studie festgestellt, dass vor allem Fördervereine im Bildungs-und Kulturbereich aus dem Boden sprießen, aber auch viele kleinere Organisationen, die sich im Bereich Internationale Solidarität sprich Entwicklungshilfe bewegen.
Krimmer: Das Engagement vieler Ehrenamtlicher richtet sich auf bestimmte Ziele. Oft ist das Engagement zeitlich begrenzt beziehungsweise kann von einem Neuen abgelöst werden. Wir haben festgestellt, dass der Bereich "Internationale Solidarität" einer der am stärksten wachsenden ist. Was Engagierte an Organisationen wie diesen, aber auch anderen anzieht, ist, dass sie stärker politisch orientiert arbeiten. Mit dem Engagement werden dann nicht Zielsetzungen im Bereich geselliges Vereinsleben verfolgt. Es geht eher darum, etwas zu bewegen, die Gesellschaft in einem bestimmten Bereich mitzugestalten. Die Organisation ist hier nur noch das Vehikel, aber nicht der Zweck des Engagements.
mm.de: Wie erklären Sie sich das?
Krimmer: Generell stellen wir fest, das Engagement nicht mehr ein lebenslanges Phänomen ist, sondern ein phasenabhängiges und bedarfsorientiertes ist. Häufig entsteht das Engagement über das soziale Umfeld, zum Beispiel über Kollegen und Freunde und es ist sehr zielgerichtet. Gefördert werden dann beispielsweise nur bestimmte Lebensumstände und Bedarfe.
mm.de: Was muss die Politik tun, damit sich wieder mehr Menschen für die Feuerwehr und andere wichtige Vereine engagieren?
Krimmer: Ein wichtiges Thema sind sicher Fragen der Vereinbarkeit. In der verkürzen Fassung der Work-Life-Balance wird der Bereich des bürgerschaftlichen Engagements bislang häufig vergessen. Wenn wir es aber ernst damit meinen, dass die aktive gesellschaftliche Mitwirkung von über 30 Millionen Menschen wichtig für unser kommunales Leben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Demokratie ist, dann müssen wir die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Engagement stellen. So könnte Politik Anreize dafür schaffen, dass Unternehmen Mitarbeitern Freiräume bieten, sich zu engagieren. Das geschieht schon vielfach in Corporate Volunteering Programmen mittlerer und großer Unternehmen.
Fördervereine sind für Integration wichtig
mm.de: Laut der Studie spielen Fördervereine in Bereich Bildung ebenfalls eine große Rolle bei den Neugründungen. Worum handelt es sich dabei?
Krimmer: Das können Vereine für Hort und Kita sein, aber auch Organisationen mit viel weitergehenden Bildungsangeboten.
mm.de: Übernehmen da Vereine nicht Aufgaben, die die Politik vernachlässigt? Etwa, wenn es sich um den Bereich der Tagesbetreuung von Kindergarten- und Schulkindern handelt?
Krimmer: Dafür lassen sich keine eindeutigen Belege finden. Nicht immer ist die Gründung eines Fördervereins Ergebnis des Rückgangs öffentlicher Förderung. Häufig gründen sich solche Fördervereine, um nicht etwa eine ganze Bildungsinstitution, sondern ein singuläres Vorhaben zu finanzieren: Die Anschaffung eines neuen Sportgerätes, für das keine Mittel mehr da sind oder die Bezuschussung von Klassenreisen von Kindern aus finanziell schwächer aufgestellten Familien.
mm.de: Damit entlasten Vereine ja auch die Kassen von Gemeinden und Städten.
Krimmer: Fördervereine bringen nicht nur Geld, sondern auch eine zusätzliche Qualität an und in geförderte Einrichtungen: das Engagement und die aktive Beteiligung von Menschen aus deren Umfeld. Ein Spendenlauf bringt zum Beispiel nicht nur einen bestimmten Betrag am Abend in die Spendenkasse, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit, Identifikation der Engagierten mit den Zielen der Einrichtung und damit Commitment.
mm.de: In Ihrer Studie schreiben Sie auch, dass Selbstorganisation gerade im Integrationsprozess eine wichtige Rolle spielt. Ohne das Engagement Tausender könnten viele Flüchtlinge gar nicht versorgt werden.
Krimmer: Sicherlich, im Zuge der Flüchtlingskrise sind etliche Gruppen entstanden, ohne die die Kommunen den Ansturm der Menschen gar nicht hätten bewältigen können. Doch viele der Gruppen lösen sich mit dem Ende der Krise wieder auf. Wichtig wäre jetzt, dass Vereinen und anderen gelingt, was noch nicht so häufig zu beobachten ist: dass Migranten zu Mitgliedern und Engagierten werden und damit zu Mitgestaltern unserer Gesellschaft.
mm.de: Was müsste also passieren?
Krimmer: Eine große Herausforderung ist der Dialog zwischen den Kommunen und den Vereinen und Organisationen. Oft kennen die Kommunen gar nicht die Ansprechpartner und wissen dann auch dementsprechend nicht über deren Bedarfe Bescheid. Die Politik müsste also den Dialog fördern und dafür die Kommunen entsprechend ausstatten, damit diese überhaupt die Möglichkeit haben mit den Interessengruppen in den Dialog zu treten.