30 Jahre nach dem Mauerfall Deutschland muss den "Moonshot" wagen

9. November 1989: Die Berliner Mauer fällt
Foto: DPADie Welt feiert in diesem Jahr runde Geburtstage in Serie: Vor 50 Jahren betrat der erste Mensch den Mond. Vor 30 Jahren stürzten die Bürger der DDR friedlich die Mauer. Große Ereignisse von mutigen Menschen, die die Welt bewegt haben. Doch derzeit scheint es bei allem nur kleiner zu gehen. Viel kleiner sogar. Die GroKo in Berlin kann so etwas. Sie hat ein Klimapaket verabschiedet, das wieder mal einer dieser typischen Kompromisse ist, für den wochenlang diskutiert und nachgebessert wird, damit sich am Ende alle irgendwie einig sind, es aber trotzdem nicht zu einem großen mutigen Wurf reicht. Verantwortung für unseren Planeten und unsere Gesellschaft sieht anders aus.

Stephan Grabmeier zählt zu den Vordenkern von New Work und berät die Vorstände vieler namhafter Unternehmen bei nachhaltiger und digitaler Transformation. Er unterstützt globale Social Business Aktivitäten sowie Start-ups als Business Angel. Informationen zu seiner Tätigkeit als Autor finden Sie auf seinem Blog stephangrabmeier.de .
Können wir uns das erlauben? Nein!
Ich war ein Jahr alt, als der "Club of Rome" zum ersten Mal vor den Grenzen des Wachstums mit einer Szenarioplanung für die nächsten 130 Jahre gewarnt hat. Das war 1972. Das millionenfach verkaufte Buch ist bis heute ein Bestseller und erhielt 1973 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 47 Jahre später diskutieren wir über den Klimawandel und unseren Raubbau an der Umwelt, als hätte es diese Warnungen nie gegeben.
Können wir das ignorieren? Nein!
Es war der damalige US-Präsident John F. Kennedy, der 1961 die Vision ausgab: "We choose to go to the moon - in this decade." Mit dieser Parole, mit diesem Purpose, mit seinem festen Willen, dieses Ziel zu erreichen, hat er sein Land bewegt, ein bis dato menschenunmögliches Ziel zu erreichen. Am 21. Juli 1969 betrat Neil Armstrong den Mond - nur knapp acht Jahre nach Formulierung dieses Ziels, das viele für unerreichbar gehalten hatten.
Wann hat Deutschland zuletzt in den Dimensionen von "Moonshots" gedacht? In den Nachkriegsjahren beim Wiederaufbau, sicherlich. In einer Zeit, in der Deutschland in einem breiten Konsens auf ein gemeinsames Ziel hingearbeitet hat. In der mutige Gründer die Zukunft für unser Land und unsere Gesellschaft geschaffen haben. Wir haben davon mit Höhen and Tiefen jahrzehntelang profitiert und uns trotz zahlreicher Krisen zu einer der weltweit wichtigsten Wirtschaftsmächte entwickelt.
Aber zeitgleich mit wachsendem Wohlstand stieg auch der Raubbau an unserem Planeten - und zwar exponentiell. Wir entwickelten in erster Linie Produkte für den Wohlstand, ohne Rücksicht auf Verluste.
Können wir so weitermachen? Nein!
Die ausschließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaft schafft Technologien und Produkte, die unsere Erde nicht mehr lebenswerter machen, sondern sie zerstören. Wir erleben einen Krieg zweier Systeme: Die Natur auf der einen Seite, die kapitalistische Wirtschaft auf der anderen. Wir kennen den Sieger, denn die Erde existiert seit rund 4,6 Milliarden Jahren. Ihr ist es egal, ob wir Menschen darauf leben oder nicht. Die Erde wird weiter existieren. Ob wir darauf noch leben (können) werden, haben wir selbst in der Hand.
Sollten wir ernsthaft Verantwortung für die Enkelfähigkeit unseres Planeten übernehmen, braucht es viel mehr, als in den vergangenen 50 Jahren geschehen ist. Seit 1972, seit der Warnung des "Club of Rome" vor den Grenzen des Wachstums, wissen wir, wie ernst die Lage ist. Alle globalen wissenschaftlichen Daten und Fakten zeigen uns, wie sich unsere Wirtschaft seitdem in Korrelation zum Klimawandel entwickelt hat. Wir wissen ganz genau, was wir tun.
Können wir warten? Nein!
Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, auf die Politik zu warten. Das Klimapaket ist das Werk politischer Machtstrategen, denen nicht unsere Gesellschaft und deren Enkelfähigkeit, sondern vor allem der Fortbestand der bisherigen Machtarithmetik und die Wiederwahl in der nächsten Legislaturperiode wichtig ist. Anders kann man diese vorsätzliche Mutlosigkeit nicht erklären.
Wenn Politik schon so mutlos ist, brauchen wir den "Drive" der Unternehmer: Wandelt Euer "Höher! Schneller! Weiter!" doch bitte um in neuen Mut und Kreativität, echte Innovationen zu schaffen für die Zukunft unserer Enkel. Wer den "Moonshot: Digitalisierung" an die Amerikaner und Chinesen verschlafen hat, sollte sich hellwach um das kümmern, was der nächste "Moonshot" werden muss: die sinnvolle Zusammenführung von Ökonomie und Ökologie. Oder einfach gesagt: Klima retten und (trotzdem) Geld verdienen.
Deutschland war schon einmal auf einem guten Weg zum Klimaverbesserer, hat diesen Pfad aber schon lange wieder verlassen. Wir könnten durch Innovationen Vorreiter werden bei der Rettung unseres Planeten und der Modernisierung eines zerstörerischen Wirtschaftssystems. Doch dazu reicht der Beitrag Einzelner nicht aus. Dazu brauchen wir einen "Purpose", eine gemeinsame Sinn- und Zielorientierung, als Land. Eine Vision, die über die Interessen einzelner Unternehmen, Parteien, Vereine, Verbände und Individuen hinausgeht. Wir brauchen den Purpose für Enkelfähigkeit.
Können wir das leisten? Ja, denn wir müssen!
Wir haben in den letzten 250 Jahren in einem Wirtschaftssystem gelebt, das zwei relevante Grundphilosophien hat: Egoismus und Konkurrenz. Konkurrenz bedeutet immer eine Win-lose-Situation. In konkurrierenden Verhältnissen wird immer einer gewinnen und mindestens einer verlieren. Bei Kooperation hingegen ist ein es möglich ein Win-win-Verhältnis zu erreichen. In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Win-lose oder Win-win?
Denken wir doch anders. Wenn wir schon konkurrieren wollen, dann darum, wer die beste Idee hat, den Klimawandel zu bekämpfen oder unser Wirtschaftssystem modernisieren. Aber bitte nicht darum, wer den höchsten Gewinn macht und das auch noch auf Kosten anderer.
Wie wir das leisten? Mit einer Vision und vielen "Kopföffnern"!
Lasst uns die Welt zu einem zukunftsfähigen Ort machen. Als Land, als Unternehmen, als Gesellschaft, als Individuum. Wir haben so viele "Kopföffner" mit großartiger Expertise in den meisten Industrien, Universitäten, Forschungsinstituten und Fachdisziplinen. Lasst uns all das, was uns wichtig ist, für die Zukunft fit machen. Ach was, mehr noch: Lasst uns den "Moonshot" wagen, unsere Welt enkelfähig zu machen. Damit das gelingt, müssen wir unsere gesellschaftliche und ökonomische Sozialisierung ernsthaft auf den Prüfstand stellen. Denn immer mehr vom Gleichen, das ist eindeutig zu Ende. Im Wortsinn.
Was ist zu tun? Ein Fünf-Punkte-Plan
1. Wir müssen Wachstum neu definieren. Unsere Wirtschaft basiert auf dem Prinzip "Take, Make, Waste" einer linearen Produktions- und Absatzlogik. Immer mit dem Ziel des linearen Wachstums und der Kapital- und Gewinnmaximierung. Lasst uns Wachstum nicht an Linearität, sondern an Qualität und Impact für die Gesellschaft oder den Planeten koppeln. Der Weg in die Kreislaufwirtschaft des "Make, Use, Return" ist unabdingbar.
2. Wir brauchen neben Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus mehr Menschen, die "Social" und "Business" zusammen denken. Miteinander ist das neue Gegeneinander. Social Business ist eine weltweite Bewegung, die Kapitalismus anders umsetzt. Social Entrepreneurs sind mutige Unternehmer, die die soziale und ökonomische Komponente miteinander verbinden. Davon brauchen wir mehr, viel mehr.
3. Wir müssen nachhaltige Innovationen massiv fördern. Vor allem sollten wir Start-ups und Innovationen unterstützen, die Impact und nachhaltige Problemlösungen entwickeln statt nur die Shopping-Regale zu füllen wie bei "Die Höhle der Löwen". Viele Impact-getriebene Gründer suchen sich bereits verantwortungsvolle Investoren, die über den Zeitraum zwischen Einstieg und Exit hinausdenken und die mehr wollen, als die Rendite ihrer Investition zu maximieren.
4. Wir müssen einen neuen Indikator für den Status quo unserer Wirtschaft schaffen. Makroökonomisch messen wir das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit dem 17. Jahrhundert. Es ist eine einzige Finanzkennzahl, die über das Gemeinwohl, das Wohlbefinden und den Zustand einer Gesellschaft Aussagen treffen soll. Wir sollten von diesem Modell Abstand nehmen, denn es hat nur eine sehr eingeschränkte qualitative Aussage.
5. Wir müssen die Kraft der "Prosumer" stärken, die genauso konsumieren wie produzieren. Sie können einen wesentlichen Beitrag etwa zur Energiewende, zur Bildung, in der Landwirtschaft, zur medizinischen Versorgung und vielem mehr leisten. Lasst uns lokale Genossenschaften stärken, sowohl bei der Stromgewinnung als auch beim Salatanbau. Prosumer sind eine Renaissance der Genossenschaften.
Reichen diese fünf Punkte aus? Sicher nicht. Aber ich hoffe, sie treffen den Nerv, die nötigen Diskussionen zu führen und ergebnisoffen Gespräche über den Purpose unseres Landes zu führen. Ich habe die in diesem Artikel beschriebenen Themen weiter und ausführlicher gedacht und in meinem aktuellen Buch "Future Business Kompass - der Kopföffner für besseres Wirtschaften" aufgeschrieben. Wenn Sie Lust haben, steigen Sie mit mir in den Diskurs ein. Unser Planet und unsere Enkel werden es uns danken.
Future Business Kompass: Der Kopföffner für besseres Wirtschaften (Professional Publishing for Future and Innovation)
Preisabfragezeitpunkt
22.03.2023 14.55 Uhr
Keine Gewähr
Stephan Grabmeier zählt zu den Vordenkern von New Work und berät die Vorstände vieler namhafter Unternehmen bei nachhaltiger und digitaler Transformation und schreibt hier als Gastkommentator. Gastkommentare geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder.