
Nach einem Grexit müsste die EU Hilfe vor Ort leisten
Foto: Milos Bicanski/ Getty ImagesGriechen-Müdigkeit macht sich breit. Mehr als fünf Jahre voll quälender Verhandlungen, Hoffnungen und Rückschläge haben einen Zustand akuter Hellas-Fatigue verursacht: Athens letzte politische Freunde ziehen sich enttäuscht zurück. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Griechenland nun tatsächlich in die Pleite taumelt und anschließend aus dem Euro ausscheidet. Der "Grexit" rückt in greifbare Nähe.
Doch damit ist die Geschichte keineswegs beendet. Was passiert eigentlich am Tag nach dem Tag danach? Diese Frage hat bislang kaum jemand gestellt. Immerhin haben sich am Freitag Regierungsverteter getroffen, um zu besprechen, was nun zu tun ist.
Die Hellas-Pleite, soviel ist klar, wäre eine Tragödie. Vor allem für die Griechen selbst. Aber auch die Gläubiger und ihre Institutionen, von der EZB bis zum IWF, stünden ramponiert da. Noch versuchen die politisch Verantwortlichen deshalb, irgendeine Lösung zu finden. Die Frequenz der Treffen und Gipfel hat sich wieder stark erhöht. Leider sieht es so aus, als ob Politik und Ökonomie, nationale Interessen und europäische Notwendigkeiten in diesem Fall nicht per Kompromiss in Übereinstimmung gebracht werden könnten.
Hektische Tage stehen bevor. Donnerstag tagt der Rat der Europäischen Zentralbank, jener Institution, die bislang einen Zusammenbruch des griechischen Bankensystems verhindert hat, weil sie immer neue Infusionen von Notfallliquidität erlaubt hat. Nachmittags treffen sich die Finanzminister der Euro-Staaten. Sie müssten eine Auszahlung der ausstehenden Kredittranche an Griechenland beschließen. Danach müssten einige Parlamente, auch der Bundestag, die Entscheidung bestätigen, bevor der Rettungsfonds ESM Ende des Monats das Geld überweisen könnte. Andernfalls wäre Griechenland Pleite.
Müsste, könnte, wäre - viele Möglichkeitsformen, doch die Möglichkeiten schrumpfen zusammen.
Es ist nur so: Auch wenn Griechenland seine Schulden nicht mehr bedient, wenn es aus dem Euro aussteigt und ein eigenes neues Zahlungsmittel einführt, sind die Probleme nicht vorbei. Im Gegenteil. Der Staat mag bankrott sein, aber die Nation ist noch da. Und sie wird leiden - unter hoher Inflation und unter funktionsunfähigen Behörden.
Was jetzt geschieht, ist auch ein Offenbarungseid der bisherigen Euro-Krisen-Strategie. Viel zu lange blieben soziale und politische Rückwirkungen unbeachtet. Von Anfang war die Vorstellung irreal, der Rest Europas könne Griechenland sich selbst überlassen und womöglich auch noch aus der EU herauskicken, wie es die Verträge nahelegen. Nun sucht Europa überhastet eine Strategie für den Tag X. Und es steht zu befürchten, dass wieder mal zu wenig zu spät passiert.
Im Mittelpunkt steht nicht mehr nur die Stabilisierung der verbleibenden Eurozone. Das Instrumentarium dafür ist inzwischen vorhanden und dürfte ausreichen. Vor allem geht es nun um die Stabilisierung der griechischen Gesellschaft selbst: humanitäre Hilfe, um akute Notlagen abzumildern. Unabhängig von Fragen einer geordneten Schuldenrestrukturierung, die dann verhandelt werden müssen, brauchen die Griechen Unterstützung bei der Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Leistungen, Energie oder Lebensmitteln.
Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen
Europa muss darauf vorbereitet sein, eine provisorische Hilfsinfrastruktur vor Ort aufzubauen, wo örtliche Behörden nicht mehr handlungsfähig sind. Und man fragt sich: Warum nicht gleich so? Warum hat die EU nicht schon vor drei oder vier Jahren die ineffektiven nationalen Behörden umgangen und eigene Anlaufstellen eröffnet? Das wäre keineswegs abwegig gewesen: Auch die Washingtoner Regierung baute während der großen Depression der 30er-Jahre überall in den USA ein Netz von Anlaufstellen auf. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.
Wären EU-Helfer schon in den vergangenen Jahren vor Ort gewesen, hätte das die politische Dynamik völlig verändert. Statt nur Sozialkürzungen und Steuererhöhungen zu verlangen, wäre tatsächlich etwas bei den Bürgern angekommen, die schon seit Jahren unter der Krise leiden.
Signale einer sozialen Krise gibt es schon länger. In den vergangenen Jahren hat sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung messbar verschlechtert, die Kindersterblichkeit ist gestiegen. Bereits vor drei Jahren gaben in einer Gallup-Umfrage ein Fünftel der Griechen an, sie könnten sich nicht mehr genug Nahrungsmittel leisten. Nirgends im Westen ist OECD-Zahlen zufolge die Lebenszufriedenheit der Bürger im Zuge der Krise so stark zurückgegangen - ein aufgestautes Frustpotenzial, das sich im Falle eines Grexit und der folgenden rapiden Inflation tumultartig bahnzubrechen droht. Der ewige Verweis auf "Strukturreformen" und auf steuerflüchtige Oligarchen jedenfalls hilft darbenden Normalbürgern gar nicht.
Marshall-Plan für Hellas
Griechenland ist eines der wenigen OECD-Länder ohne Basisabsicherung à la Hartz IV und ohne allgemeine Krankenversorgung. Nach Jahren der Krise gehen die Ersparnisse der Bürger zur Neige. Wer durch Langzeitarbeitslosigkeit keine Unterstützung mehr bekommt, fällt ins Bodenlose.
Wenn all die warmen Worte von Europa als Wertegemeinschaft irgendeine Bedeutung haben, dann müssen sich gerade die großen, reichen Länder der EU auf effektive und großzügige Hilfsaktionen vorbereiten. Daran anschließen sollte sich ein Aufbau- und Investitionsprogramm - eine Art Marshall-Plan für Hellas.
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Durchaus aus Eigennutz: Die Stabilisierung Griechenlands ist im geostrategischen Interesse Europas und des Westens insgesamt. Ein fragiles, sich selbst überlassenes Land an der Südostflanke der Nato wäre eine allzu große Versuchung für Wladimir Putins Russland. Das Denken in territorialen Kategorien, Machtblöcken und Einflusssphären ist in Europa zurück. Hilfe für Griechenland bedeutet deshalb nebenher auch Eindämmungspolitik eines sich aggressiv gebährdenden Kreml.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
MONTAG
BERLIN - Drachmen-Boot-Rennen - Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn stellt seine Ideen für Griechenland vor - Wiedereinführung der Drachme, Beibehaltung des Euros als Parallelwährung.
BRÜSSEL - Hellas-Platte - EZB-Präsident Mario Draghi beim geldpolitischen Dialog mit dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments. Mutmaßliches Topthema: Auswirkungen eines Grexit.
WASHINGTON - US-Wachstum - Neue Zahlen von der amerikanischen Industrieproduktion.
DIENSTAG
LUXEMBURG - Retter und Regelbrecher - Vor drei Jahren hat EZB-Chef Draghi mit einer Ankündigung, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Problemländern zu kaufen, den stabilisiert. Nun urteilt der Europäische Gerichtshof, ob dieses Programm rechtens ist.
LONDON - Warten auf Inflation - Neue Zahlen zum Verbraucherpreisanstieg in Großbritannien.
MITTWOCH
WASHINGTON - Wann steigen die Zinsen? - Der Gouverneursrat der US-Notenbank tagt. Die Märkte warten auf Signale, wann die Fed beginnt, die Leitzinsen anzuheben.
DONNERSTAG
LUXEMBURG - Griechenland, ach Griechenland - Die Finanzminister der Eurozone treffen sich. Topthema: die Verhandlungen mit der griechischen Regierung über die Bedingungen für die Verlängerung des Hilfsprogramms.
FRANKFURT - Löcher stopfen - EZB-Ratssitzung: Seit Monaten heben Griechen Geld von den Banken ab. Bislang hat die Zentralbank einen Zusammenbruch verhindert, indem sie immer weitere Notliquidität genehmigt hat.
BERLIN - 16 plus 1 - Treffen der Ministerpräsidenten der Länder. Anschließend treffen sie sich mit Kanzlerin Merkel, insbesondere um über die Aufnahme von Flüchtlingen zu sprechen.
FREITAG
LUXEMBURG - Lob und Tadel - Treffen der Finanzminister aller EU-Staaten. Auf der Agenda: die Überprüfung der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedsländer ("Europäisches Semester").

FRANKFURT - Wie ein großes Deutschland - Neue Zahlen zur Leistungsbilanz der Eurozone: Inzwischen ist der Währungsraum insgesamt zur Überschussvolkswirtschaft geworden. Nicht alle Handelspartner sind begeistert.
TOKIO - Vollgas in Fernost - Keine andere Zentralbank pumpt soviel Geld in die Märkte. Nun tagen die Gouverneure der Bank von Japan turnusmäßig und entscheiden über den weiteren Kurs.
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