Tarifeinheit
Warum das Tarifeinheitsgesetz nicht als Streik-Abwehrgesetz taugt
Arbeitsministerin Andrea Nahles versucht, mit dem "Tarifeinheitsgesetz" das Tarifrecht zu reformieren. Streiks von Splittergewerkschaften wie der Lokführer-Gewerkschaft wird das neue Gesetz jedoch nicht verhindern, meint Fachanwalt Marc André Gimmy. Es könnte gar gegen die Verfassung verstoßen.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles: Die Bundesregierung möchte zur Tarifeinheit zurückkehren - das neue Gesetz soll jedoch nicht in das Streikrecht eingreifen
Foto: Wolfgang Kumm/ dpa
Hamburg - Das Vorhaben von Bundesministerin Andrea Nahles, ein "Tarifeinheitsgesetz" zu schaffen, ist ein mutiger Schritt. Es ist der erste ernsthafte Versuch einer Bundesregierung, eine dringend erforderliche Reform des Tarifrechts vorzunehmen. Doch dieser Schritt könnte gegen die deutsche Verfassung verstoßen.
Bis zur Entscheidung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts am 7. Juli 2010 galt in Deutschland der Grundsatz der Tarifeinheit. Konkurrierten in einem Betrieb mehrere Tarifverträge (sog. Tarifpluralität) sollte nach dem Grundsatz der Spezialität der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten stehende Tarifvertrag konkurrierende Tarifverträge verdrängen und somit nur ein Tarifvertrag zur Anwendung kommen.
Es sollte somit nur ein Tarifvertrag im Betrieb gelten. Diese Rechtsprechung war schon damals in der Literatur höchst umstritten. Das Bundesarbeitsgericht reagierte letztlich darauf und gab seine Rechtsprechung hierzu ausdrücklich auf. Seit dieser Entscheidung gilt in Deutschland der Grundsatz der Tarifpluralität uneingeschränkt.
Von der Tarifpluralität zurück zur Tarifeinheit
Die Bundesregierung möchte nun zum Grundsatz der "Tarifeinheit" zurückkehren. Dabei wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, als wolle man damit den für die Allgemeinheit belastenden Streikmaßnahmen entgegenwirken. Die FAZ spricht sogar schon vom "Gesetz gegen streikende Lokführer".
Dabei wird jedoch verkannt, dass das Tarifeinheitsgesetz nicht in das Streikrecht eingreifen soll. Mit dem Grundsatz der Tarifeinheit wird die Ordnungs- und Kartellierungsfunktion des Tarifvertrages für eine Branche wieder betont. Wir kommen daher wieder verstärkt zu einheitlichen Arbeitsbedingungen. Die Frage der Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen bleibt hiervon völlig unberührt.
Das Arbeitskampfrecht folgt dem Tarifrecht - nicht umgekehrt
Dort gilt der Grundsatz, dass nicht das Tarifrecht dem Arbeitskampfrecht folgt, sondern vielmehr das Arbeitskampfrecht dem Tarifrecht. Mit anderen Worten: Fragen der Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen werden im Rahmen des Arbeitskampfrechts auch zukünftig gelöst werden müssen. Belastende Streiksituationen rechtfertigen nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts auch nicht ein Prinzip der Tarifeinheit.
Erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken
Gleichwohl sieht sich der Entwurf eines Tarifeinheitsgesetzes erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. So hat bereits der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Grundsatzentscheidung vom 7. Juli 2010 festgestellt: "Die Verdrängung eines Tarifvertrages ist auch mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz nicht zu vereinbaren."
Ob der neue Grundsatz, dass "nur die Rechtsnormen des Tarifvertrages derjenigen Gewerkschaft anwendbar sein sollen, die (…) im Betrieb die meisten Mitglieder hat", verfassungsrechtlichen Vorgaben standhält, darf bezweifelt werden. Denn schließlich führt auch diese Bestimmung zur Verdrängung von kollidierenden Tarifverträgen. Und Streikmaßnahmen als solche rechtfertigen nach Ansicht der Rechtsprechung eine solche Verdrängung von Tarifverträgen jedenfalls nicht. Das neue Tarifeinheitsgesetz eignet sich daher nicht als Streikabwehrgesetz.
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles: Die Bundesregierung möchte zur Tarifeinheit zurückkehren - das neue Gesetz soll jedoch nicht in das Streikrecht eingreifen