Lohnforderung Riskanter Krisenaufschlag der IG Metall

Höhere Ausfuhren: Deutschlands Wirtschaftserholung wird zu weiten Teilen vom verbesserten Exportgeschäft getragen
Foto: ddpMehr Geld aufs Konto. Viel mehr Geld. Das ist die Forderung, die Deutschlands Spätsommer bestimmt. Das ist die Forderung beispielsweise der Industriegewerkschaft Metall in Nordrhein-Westfalen, die bis zu 8 Prozent mehr Lohn und Gehalt für ihre Mitglieder fordert und anschließend kräftige Lohnerhöhungen für die Beschäftigten in der gesamten Republik. Das aber würde schiefgehen - und zwar zum Schaden für uns alle.
Deutschland hat die tiefe Wirtschaftskrise des vergangenen Jahres bei Weitem noch nicht überwunden. Trotz der zuletzt fixen Erholung haben die Unternehmen hierzulande erst in etwa 60 Prozent des 4,9-Prozent-Einbruchs des Vorjahres aufgeholt. Verglichen damit ist das Quartalswachstum von zuletzt 2,2 Prozent gerade einmal ein Etappenwert, wenn auch einer, der aufhorchen lässt.
Für jeden, der glaubt, hohe Gehaltsnachschläge seien schon heute möglich, mag das hart klingen. Vielleicht sogar nach Vertrösten auf die Zukunft, die schlimmstenfalls nie kommt. Doch im Stillen, ohne große Verhandlungen, bekommen doch nicht wenige Bundesbürger schon jetzt, direkt in der aktuellen Besserungsphase, ihren Anteil an der Wirtschaftserholung - und zwar Monat für Monat aufs Konto.
Der Lohn aller, die beispielsweise in Kurzarbeit weniger verdienen konnten als normal, steigt wieder; bis zu 1,5 Millionen Bundesbürger waren davon noch im Frühjahr vergangenen Jahres betroffen, vor allem in der Metall- und Elektroindustrie. Jetzt, ein gutes Jahr später, erhalten die Beschäftigten dort nach Angaben des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall bereits wieder 7 Prozent mehr Lohn als im Vorjahr, weil dank der Wirtschaftserholung mittlerweile weniger Bänder stillstehen und die Beschäftigten entsprechend mehr arbeiten.
Mehr Arbeitsplätze, ausgewogenere Wirtschaftsstruktur
Dennoch: Alle Produktionslinien hierzulande sind bei Weitem noch nicht wieder unter Volllast in Betrieb. Im Gegenteil. Bis zu 700.000 Frauen und Männer arbeiten nach Angaben der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit derzeit noch in Deutschland kurz. Damit aber ist eben erst ein Teil jener gewaltigen Produktivitätsrückgänge ausgeglichen, die Deutschlands Unternehmen mit dem Kurzarbeitspakt für Arbeitsplätze übergangsweise verkraften wollten; im verarbeitenden Gewerbe, für das die IG Metall in Nordrhein-Westfalen jetzt bis zu 8 Prozent mehr Lohn fordert, sank sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts im vergangenen Jahr im Deutschland-Schnitt um erschreckende 9,4 Prozent. Das belastet die internationale Wettbewerbsfähigkeit sofort.
Und genau das spricht gegen flächendeckende hohe Gehaltszuwächse schon im Spätsommer 2010. Behält die deutsche Wirtschaft aber ihr aktuelles Erholungstempo zumindest in etwa bei, könnte sich das schon Anfang 2012 ändern.
Die Arbeitnehmer hierzulande hätten dann insgesamt vieles richtig gemacht. monatelang gefallene Lohnstückkosten haben die deutsche Wirtschaft insgesamt wettbewerbsfähiger gemacht. Trotz der rasant wachsenden Asien-Stars China und Indien oder anderer neuer Wirtschaftsriesen wie Brasilien kann die Bundesrepublik ihre Stellung im Welthandel bisher verteidigen, wie Wettbewerbsdaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen. Und von diesem Produktivitäts- und Wettbewerbsfortschritt haben die deutschen Arbeitnehmer auch selbst profitiert.
Binnennachfrage dürfte von Entspannung profitieren
Im Jahr 2010 gibt es schließlich in Deutschland mehr Arbeitsplätze als noch vor ein paar Jahren. Besser noch, das aktuelle Problem millionenfacher Unterbeschäftigung scheint sich hierzulande langsam, aber weiter zu entschärfen. Die Konjunkturspezialisten von Kiel Economics etwa rechnen damit, dass bis 2014 weniger als zwei Millionen Menschen in Deutschland offiziell arbeitslos sein werden; aktuell sind es rund 3,2 Millionen. Parallel soll auch die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs steigen. Und das wird Deutschland insgesamt stärken.
In vielen Studien hat sich schließlich immer wieder gezeigt, dass die Menschen und mit ihnen die Wirtschaft hierzulande insgesamt stärker von mehr Beschäftigung als von deutlich steigenden Löhnen profitiert. So zog zumindest in der Vergangenheit der private Konsum in Deutschland oftmals um 0,8 Prozent an, wenn zuvor ein Prozent mehr Frauen und Männer zusätzlich einen Job gefunden hatten. Eine Lohnerhöhung um ein Prozent hatte sich in den Kassen der Händler vielfach aber nur mit einem Plus der Binnennachfrage in Höhe von 0,2 Prozent niedergeschlagen.
Arbeitnehmer werden zu Umworbenen
Das mag zwar den Einzelnen nicht trösten. Was nutzt es ihr oder ihm, wenn es der Nation insgesamt besser geht, das eigene Einkommen aber stagniert - und das bei, wenn auch sehr gering, steigenden Preisen? Dieser Einwand scheint auf den ersten Blick schwer zu wiegen, doch tatsächlich verliert er an Überzeugungskraft. Denn Deutschland steht an einer Zeitenwende.
Mehr und mehr Unternehmen haben schon heute Schwierigkeiten, genügend gut qualifizierte Leute einzustellen. Das zeigt eine Umfrage des manager magazins unter führenden deutschen Firmen, die zusammen für Hunderttausende Arbeitsplätze in der Bundesrepublik stehen. Manche beginnen deshalb, mit kostenfreier Rundumversorgung des Mitarbeiternachwuchses für sich zu werben. Andere sprechen mögliche Azubis schon weit vor deren Schulende an, um später nicht Ausbildungsplätze unbesetzt zu haben. Noch ist das sicher eher die Ausnahme als die Regel, doch damit zeichnet sich ein neuer Trend ab. Mehr noch: Eine Zäsur für die Bundesbürger, die vielen Hoffnung machen kann.
Bereits im Juni dieses Jahres fehlten den Unternehmen hierzulande nach eigenen Angaben 65.000 Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker. Das ist in etwa die Hälfte von jener Zahl zusätzlicher Mitarbeiter, die Deutschlands Unternehmen im Juli 2008 suchten, auf dem Höhepunkt des vorherigen Konjunkturaufschwungs. Und nach Meinung des Bonner Instituts für die Zukunft der Arbeit wird diese Entwicklung beispielhaft für die Chancen der Bundesbürger auf neue Jobs - und auf höhere Löhne.
Flächendeckend höhere Löhne
Nach Meinung der Forscher gehen schon ab dem Jahr 2013 alle vier Jahre netto eine Million Arbeitskräfte verloren, weil hierzulande zu viele Jahre lang zu wenige Kinder geboren worden sind. Qualifizierte Arbeitnehmer werden deshalb wohl schon in wenigen Jahren umworben werden, wie zuletzt in den 60er Jahren; damals heuerten Deutschlands Unternehmen viele neue Angestellte im Ausland an, um die offenen Stellen überhaupt besetzen zu können. Zuwanderung ist deshalb das neue Großthema, dem sich das manager magazin in den kommenden Wochen mit einer Vielzahl von Artikeln annehmen will.
Die Arbeitnehmer hierzulande dürften von der Entwicklung dann endlich auch mit flächendeckend höheren Löhnen profitieren. Nach Expertenmeinung werden die Bruttolöhne im Schnitt schon 2013 um 4,3 Prozent steigen, im Jahr 2014 mit 4,9 Prozent noch einmal ein erkennbares Stückchen mehr.
Damit allerdings zeichnet sich in einiger Ferne schon die nächste Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland ab. Werden die hiesigen Unternehmen dann mit den wohl deutlich höheren Löhnen noch global wettbewerbsfähig sein? Oder droht nach dem offenbar absehbaren, dicken Lohnplus in den nächsten Jahren die nächste Verlagerungswelle von Fabriken und damit auch Arbeitsplätzen in das billigere Ausland?
Droht der nächste Arbeitsplatzexport?
Die Bundesregierung sollte diese Entwicklung nicht einfach abwarten, schon gar nicht hinnehmen. Sie darf nicht noch einmal den Export von Hunderttausenden Jobs aus Deutschland riskieren, wie in den 90er Jahren und nach der Jahrtausendwende. Und sie darf nicht noch einmal Millionen Arbeitslose in depressiver Agonie ertrinken lassen, weil ihnen in Anbetracht von Millionen Arbeitsloser in Deutschland jede realistische Aussicht auf einen Job abhandenzukommen schien.
Deshalb sollte darüber gesprochen werden, einige wenige Feier- und Urlaubstage in der Bundesrepublik zum teilweisen Ausgleich der sich abzeichnenden höheren Lohnkosten zu streichen. Denn das scheint ohne übermäßige Mehrbelastung möglich: Aktuell verfügen die Bundesbürger mit zumeist 30 Urlaubstagen und gut zehn Feiertagen pro Jahr über deutlich mehr Freizeit, als in den meisten anderen europäischen Staaten - deutlich mehr sogar als beispielsweise in Frankreich. Dort müssen sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit 28 Urlaubstagen und neun Feiertagen begnügen, und in vielen europäischen Konkurrentenstaaten ist es noch weit weniger.
Aktuell aber ist es nicht so weit. Deutschland muss erst tatsächlich wieder richtig auf die Beine kommen. Behält die deutsche Wirtschaft einen erheblichen Teil ihres aktuellen Aufholtempos bei, könnte das Ende 2012 geschafft sein. Das wäre Jahre früher, als noch vor einiger Zeit befürchtet. Vielleicht ist es deshalb eine Überlegung wert, in jenen Unternehmen, die schon jetzt wieder auf Vorkrisenniveau sind, mit Einmalzahlungen die Arbeitnehmer hierzulande an der Rückkehr zur Normalität zu beteiligen. Für deutlich mehr Geld aufs Konto für alle ist es aber noch zu früh.