
Migros - der ganz besondere Mischkonzern Die Schweizer Massenbewegung
Kann es ein Unternehmen geben, das in seinen Läden zwar Fleisch, Milch oder Schokoriegel verkauft, aber weder Alkohol noch Zigaretten - weil es sich der Volksgesundheit verpflichtet fühlt? Das niemals Dividenden ausschüttet? Das die Preise senkt, wenn die Gewinne zu sehr anzusteigen drohen? Das immer ein halbes Prozent seines Umsatzes für kulturelle, soziale und wirtschaftspolitische Zwecke spendet - unabhängig davon, ob es Erträge oder Verluste erwirtschaftet?
Tatsächlich existiert eine solche Firma. Ein Konzern namens Migros, gesprochen ohne s am Ende: Mi-gro. Der Begriff steht in französischer Sprache für Halb-Groß-(Handel). Er bezeichnet jenen Schweizer Genossenschaftsgiganten, der trotz altruistischer Führungsprinzipien ordentlich verdient, kaum Bankschulden hat und finanziell so blendend dasteht, dass er sich regelmäßig teure Akquisitionen leisten kann.
Migros geriert sich gar als gefräßiger Riese, niemals satt und inzwischen auf hochalpines Niveau angewachsen. Er hat sich im eigenen Land neben dem angestammten Einzelhandel in alle möglichen verbrauchernahen Branchen eingekauft, von Golfplätzen über Fitnesscenter bis hin zu Gesundheitszentren. Er hat weltweit landwirtschaftliche Betriebe und Nahrungsmittelfabriken erworben. Und er dehnt seine Geschäfte zunehmend auf Deutschland aus.
So stieg Migros bei der bundesweit operierenden Wohnaccessoirekette Depot ein, erwarb den hessischen Lebensmittelfilialisten Tegut und bekundete zuletzt gar Interesse an den bayerischen Läden des Einzelhändlers Kaiser's Tengelmann.
Wer steckt hinter dem Konzern mit dem orangefarbenen M als Logo? Und wie gelingt es dem Konglomerat, trotz seiner verschrobenen Kultur so erfolgreich zu sein? Daheim wird das Unternehmen beinahe als Heiligtum verehrt. Im sogenannten Gemeinwohlatlas der Universität St. Gallen rangiert Migros in der Gunst der Schweizer gleich hinter einem Pflegedienst namens Spitex und der Rettungsflugwacht auf Platz drei.
Man stelle sich vor, Edeka, Deutschlands größter Lebensmittelhändler, würde so geliebt! Wie Edeka besteht Migros aus einer Reihe regionaler Genossenschaften. Und wie hierzulande die Hamburger Edeka Zentrale AG steht an der Spitze der Schweizer Organisation der Migros-Genossenschafts-Bund, kurz MGB, in Zürich. Auch einen selbstständig operierenden Discounter nennen beide Händler ihr Eigen: hüben Netto Marken-Discount, drüben die Billigkette Denner.
Das war's aber schon mit den Gemeinsamkeiten. Gemessen an der Marktausschöpfung, ist Migros in der zehnmal kleineren Schweiz bedeutender als Aldi, Lidl, Metro, Rewe und Edeka auf dem deutschen Markt zusammen.
An dieser Relevanz orientieren sich freilich nicht die Gehälter der eidgenössischen Topmanager. Auch Boni gibt es ganz oben nicht, sondern vorwiegend auf Filialebene. Der Präsident der MGB-Generaldirektion, Herbert Bolliger (62), verdiente im vergangenen Jahr gerade einmal 904.000 Franken (damals etwa 750.000 Euro), einschließlich einer Spesenpauschale - ein Betrag, für den Edeka-Chef Markus Mosa (47) kaum antreten würde. Er bekam 2014 rund drei Millionen Euro.
"Ich bin ein Migros-Kind"
Bolliger nimmt den Gehaltsunterschied gelassen. Er erweckt den Eindruck, als wisse er gar nicht, was er mit so viel Geld anfangen sollte. Anders als der smarte Mosa gilt der gänzlich unprätentiöse Bolliger eher als knorrig. Er liebt das Aktenstudium und vermeidet große Auftritte tunlichst.
Auch die Eigentümerstrukturen von Edeka und Migros sind diametral. Während in Deutschland 4000 selbstständige Edeka-Kaufleute die Regionalgenossenschaften tragen, sind im Alpenland mehr als ein Viertel der Bevölkerung Genossen der Migros - insgesamt über zwei Millionen Köpfe. Dass Migros als Massenbewegung gelten kann, ist auch der Tatsache geschuldet, dass jeder Schweizer ein Anrecht darauf hat, gratis einen Genossenschaftsanteil zu bekommen.
Finanziell ist das uninteressant, denn Migros schüttet keine Dividenden aus. Obwohl der Konzern dank einer kaufkräftigen Bevölkerung gute Gewinne macht: Ein Ebit von regelmäßig etwa 4 Prozent des Umsatzes gilt für ein hauptsächlich mit Lebensmitteln handelndes Unternehmen als beachtlich. Die Erträge können allerdings nicht in den Himmel wachsen: Wenn das Ebit 5 Prozent zu überschreiten droht, senkt Migros die Verkaufspreise - so ist es festgelegt.
Wenn es schon keine Ausschüttungen gibt, so hat doch jeder Genosse die Möglichkeit, in den Mitgliederversammlungen mitzureden. Die Teilhaberschaft kommt geradezu einem Instrument der Kundenbindung gleich. Wer der Migros angehört, kauft nur dann bei der Konkurrenz, wenn es gar nicht anders geht. Die Identifikation geht so weit, dass sogar der Familiennachwuchs bekennt, wo die Eltern einkaufen. "Ich bin ein Migros-Kind" ist in der Schweiz ein geflügeltes Wort.
"An die Hausfrau, die rechnen muss!"
So gewollt hat das alles Gottlieb Duttweiler - ein gleichermaßen charismatischer wie streitbarer Kaufmann, der Migros 1925 als Aktiengesellschaft gründete, sie aber später in eine Genossenschaft verwandelte und seinen Landsleuten schenkte.
Duttweiler, im Lande liebevoll Dutti genannt, reflektierte in den 20er Jahren den Ärger der Bevölkerung über die von Erzeugern und Händlern diktierten hohen Nahrungsmittelpreise. Als Kampfansage an die "Trust-Halunken" (Duttweiler) fuhren der Gründer und seine Angestellten zunächst mit fünf Lastwagen durch Zürich, um dort unter Umgehung des ortsansässigen Handels die Basisprodukte Kaffee, Reis, Zucker, Teigwaren, Kokosfett und Seife feilzubieten - bis zu 40 Prozent billiger als die Wettbewerber. Die Folge war, dass Migros von Lieferanten boykottiert wurde.
Die Fahrpläne der mobilen Verkaufsstellen ließ Duttweiler verteilen. Die Werbung war weder genderneutral noch aus heutiger Sicht politisch korrekt: "An die Hausfrau, die rechnen muss! An die intelligente Frau, die rechnen kann!" Auch später blieb Duttweiler ein Störenfried. Mit Pflastersteinen warf er 1948 ein Fenster des Schweizer Parlaments ein - allerdings von innen. Er gehörte der Bundesversammlung als Abgeordneter einer selbst gegründeten Partei an und wollte dagegen protestieren, dass seinem Vorschlag, für Notzeiten Lebensmittelvorräte für die Bevölkerung anzulegen, nicht gefolgt wurde.
Geschäftlich ging er ebenfalls eigene Wege. Schon früh machte er sich von seinen Lieferanten unabhängig. Drei Jahre nach der Migros-Gründung kaufte er eine konkursreife Süßmosterei am Zürichsee auf. Bis heute erwerben die Schweizer jedes Jahr etliche Firmen. Sie betreiben etwa eine Kaffeeplantage in Brasilien, eine Rinderfarm in Rumänien, eine Süßwarenfabrik in den USA sowie ein Kosmetikwerk in Indien und verkaufen deren Produkte unter eigenen Markennamen in ihren Selbstbedienungsläden, die es seit 1948 gibt.
Zudem investierten sie in Tankstellen (Migrol), Golfplätze (Golfpark), Sportcenter (Fitnesspark), Gesundheitszentren (Medbase, Santémed) und gastronomische Betriebe, sie gründeten die Migros Bank, kauften eine Discountkette (Denner) und eine Warenhausgruppe (Magazine zum Globus); für die deutsche Biokette Alnatura betreiben sie Läden in der Schweiz. Kurzum: Migros bietet den Kunden eine Rundumversorgung.
Das heißt, nicht für alle Bedürfnisse. Gottlieb Duttweiler fühlte sich dem gesundheitlichen Wohlergehen seiner Mitbürger verpflichtet. Deshalb gibt es bis heute in den Migros-Läden weder Alkohol noch Tabak zu kaufen. Allerdings hält der Konzern die Prinzipien seines 1962 gestorbenen Gründers nicht konsequent aufrecht, sie gelten nur für die unter dem orangefarbenen M firmierenden Läden. Bei Denner oder Globus hingegen gibt es legale Suchtmittel zu kaufen. Und in den Migros Restaurants wird auch Wein und Bier serviert.
Ein Generaldirektor wird Schweizer
Das ist keine Selbstverständlichkeit. In Genossenschaftsversammlungen wurde leidenschaftlich und höchst kontrovers diskutiert, ob Golfspieler nach einer Platzrunde in den konzerneigenen Klubhäusern ihr Helles zischen dürften. Beim Erwerb von Denner verlangten viele, dass auch dort künftig die Prohibition gelten sollte. Ebenso ernsthaft wurde in den Gremien erörtert, ob die Migros-Läden Kirschstängeli anbieten dürften - mit Kirschwasser gefüllte Pralinen. Diese Aufweichung des Alkoholverbots war jedoch nicht aufzuhalten.
Die Akquisitionen von Denner und Globus haben den Konzern verändert. Viele Traditionalisten fühlen sich bei Migros nicht mehr heimisch, seit der Genossenschafts-Bund in den Globus-Warenhäusern Luxuswaren feilbietet und mit Denner die Eindringlinge Aldi und Lidl bekämpft.
Discounter und Premiumwarenhäuser unterstehen dem früheren Metro- und Rewe-Manager Ernst Dieter Berninghaus (50), Mitglied der Migros-Generaldirektion mit Zuständigkeit für den gesamten Handel (Umsatz: 7,5 Milliarden Franken) außer den Migros-Läden. Berninghaus war 2006 zu Denner gestoßen. Als Migros im Jahr darauf den Discounter kaufte, wechselte der Manager zum MGB.
Seit Kurzem ist Berninghaus sogar Eidgenosse. In einer einstündigen Prüfung, auf die er sich zwei Tage lang vorbereitet hatte, konnte er vor einem Einbürgerungsausschuss umfassende Kenntnisse in schweizerischer Geografie, Politik und Kultur nachweisen.
Seine Landeskenntnisse nutzen ihm offensichtlich auch beruflich. Denner, mit knapp drei Milliarden Franken Umsatz das größte Unternehmen in Berninghaus' Zuständigkeitsbereich, schlägt sich gut gegen die deutsche Konkurrenz. Der Preiswettbewerb ist trotz des Markteintritts von Aldi und Lidl nicht so hart wie in Deutschland.
Einkaufstourismus sorgt für Umsatzeinbußen
Das gilt allerdings nicht für die grenznahen Gebiete. Seitdem die Schweizerische Nationalbank 2015 den Mindestkurs des Franken gegenüber dem Euro aufgehoben hat, verbilligte sich die Gemeinschaftswährung stark. Das löste einen Einkaufstourismus nach Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich aus und sorgt in den Schweizer Randgebieten für Umsatzeinbußen von bis zu 7 Prozent.
Davon weniger berührt sind die Globus-Warenhäuser, sie haben eine wohlhabende Kundschaft. Das trifft besonders für die jüngst umgebaute Delikatessenabteilung an der Züricher Bahnhofstrasse zu. Auf 1000 Quadratmetern Verkaufsfläche werden dort 50 Millionen Franken jährlich umgesetzt - umgerechnet 46.000 Euro je Quadratmeter, ein absoluter Spitzenwert im weltweiten Handel.
Im Onlinegeschäft ist Migros mit 1,6 Milliarden Franken Umsatz unangefochtener Marktführer im eigenen Land. Mit einem Cross-Channel-Angebot, das diesen Namen wirklich verdient und nur aufgrund der Allgegenwart des Konzerns denkbar ist. So wird es 2016 für die Kunden die Möglichkeit geben, im Internet bestellte Produkte bei mehr als 200 Läden, Tankstellen oder Fitnesscentern abzuholen. Alle gehören sie Migros.
Zu Berninghaus' Beritt zählt auch der deutsche Dekofilialist Depot, zu 90 Prozent im Eigentum der Schweizer. Mit dem Geld von Migros fuhr Gründer und Minderheitsgesellschafter Christian Gries (44) in den vergangenen Jahren einen konsequenten Expansionskurs. Nach Deutschland, Österreich und der Schweiz steht 2016 wohl der Markteintritt in den Beneluxländern bevor.
Die in Fulda beheimatete Lebensmittelhandelskette Tegut erwarb Migros Anfang 2013. Für dieses Engagement ist allerdings nicht Berninghaus' Handelsdepartement zuständig, sondern die Migros-Regionalgenossenschaft Zürich. Deren schnauzbärtiger Chef Jörg Blunschi (54), der vom Habitus her auch als Filialleiter durchgehen würde, kümmert sich seither um kaum etwas anderes als die Sanierung des angeschlagenen Unternehmens - für jemanden, der schweizerische Marktverhältnisse gewohnt ist, eine Herausforderung.
Der mittelgroße Filialist (knapp eine Milliarde Euro Umsatz) tat sich in den vergangenen Jahren schwer, mit der Konkurrenz mitzuhalten. Tegut hatte nicht die besten Konditionen bei den Lieferanten. Um Werbekostenzuschüsse zu bekommen, weiteten die früheren Inhaber das Sortiment über Gebühr aus. Viele Läden sind veraltet, weil kaum investiert wurde.
2016 soll Tegut schwarze Zahlen schreiben, bis 2017 soll der Investitionsstau aufgelöst sein, ab 2018 soll die Kette aus eigener Kraft wachsen. Bis dahin wird die Migros Zürich mehr als 300 Millionen Franken in das Engagement gesteckt haben.
Inzwischen gibt es sogar Neueröffnungen außerhalb des Stammgebiets, in Baden-Württemberg. Gern würde Blunschi die bayerischen Supermärkte von Kaiser's Tengelmann seiner Tegut einverleiben - dann nämlich, wenn die Übernahme der Kette durch Edeka am Ende scheitert oder nur unter Auflagen genehmigt wird.
Gefüttert wird die Expansion auf deutsches Terrain von den satten Erträgen aus der Schweiz. Gottlieb Duttweiler, der Mann mit seiner Wut auf die "Trust-Halunken", hätte seine Freude daran. Auf 1000 Quadratmetern 50 Millionen Franken Umsatz mit Delikatessen - ein Traumwert im Handel.