Mehr Trial-and-Error in Unternehmen Perfekt will jeder - agil trauen sich wenige

Eine falsche Entscheidung ist besser als keine Entscheidung - weil so Informationen gewonnen werden können
Foto: Chris StrongErlauben Sie mir zu stereotypisieren: Will man Veränderungen im deutschsprachigem Raum durchführen, wird man zunächst mit einer unendlichen Liste an Fragen, nach dem Warum, Wofür, Wie, Wie im Detail, Wann, ... bombardiert. Ist der Informationsdurst gestillt, kann man getrost darauf vertrauen, dass das Vorgenommene auch passiert.
Will man in Amerika etwas verändern, gibt es zunächst sofort ein "Yeah, let's do it". Danach allerdings wird bei jedem Schritt diskutiert und man muss dran bleiben, damit Veränderungen auch umgesetzt werden. Beide Wege führen schlussendlich zum Ziel und wahrscheinlich auch in einem vergleichbaren Zeitraum.
Keiner der beiden Ansätze ist dabei besser oder schlechter als der Andere - sie sind eben anders. Allerdings: Im deutschsprachigen Raum lieben wir Strukturen, formale Hierachien, Planung und Ordnung in den Abläufen. Eine Tatsache, die weltweit zu einer unbestreitbaren Vorherrschaft im Ingenieurwesen geführt hat. Eine Tatsache aber, die uns auch hemmt und in Sachen Veränderungen weniger schnell macht als heute notwendig.
Denn die "neue Wirtschaft" - von digitaler Natur - benötigt neben dem Wissen eine gewisse Agilität. Agilität, die aus permanentem Lernen und Feinjustierung besteht. "Trial and error", ein amerikanisches gern gelebtes Lebensprinzip, sorgt dafür, dass man neue Erkenntnisse direkt umsetzt. In einem solchen Umfeld kann nicht alles im Voraus geplant, vorhergesehen oder sogar einem Business Case unterzogen werden. Es geht ums Ausprobieren und darum, dabei ein gewisses Risiko zu tragen. Wie viele Fehlschläge erlauben wir? Darf man dreimal scheitern und bekommt trotzdem ein viertes Mal Geld von Investoren oder Banken? Wie viel Risikobereitschaft haben wir, einmal etwas zu versuchen und davon zu lernen? Akzeptieren wir tatsächlich Veränderungen und lebenslanges Lernen?
Die Sehnsucht nach Kontrolle
Ich möchte gern eine Lanze dafür brechen, uns ein wenig mehr Risikofreude, mehr Agilität zu gönnen. Der deutschsprachige Raum, mit seinem hohen Bildungsniveau und Ingenieurwissen, hat eine unglaubliche Chance, wenn wir mutiger und wagnisbereiter wären.
Natürlich ist Planung auch wichtig. Ein Kraftwerk entsteht nicht einfach so. Auch Kontrolle und überlegtes Herangehen ist wichtig. Und doch plädiere ich für eine neue Flexibilität. Die Sehnsucht nach Kontrolle kann, soll und darf einer permanenten Ungewissheit und dem Fluss des Lebens nicht entgegenstehen. Wie weit schaffen wir es, diese Chance zu ergreifen und mit unserer Bildung und dem Wissensstand nun auch die nächste Barriere der "neuen Wirtschaft" erfolgreich zu meistern?
Eine Planung für die nächsten Monate und Jahre muss verändert werden können, wenn andere Dynamiken auftreten. Ein sehr aktuelles Beispiel ist die Veränderung des Schweizer Franken zum Euro. Darauf muss reagiert werden und auch perfekt ausgearbeitete Pläne müssen über den Haufen geworfen werden dürfen. Wäre es da nicht besser, eine agilere "Trial and Error"- Kultur aufzubauen, in der diese Anpassungen Teil der Arbeitsweise sind? Damit wäre eine falsche Entscheidung besser als keine Entscheidung, weil der Lernprozess, der dadurch stattfindet, wertvolle Information darüber bringt, wie man es nicht tun soll. Diese lernende Kultur wird besonders wichtig angesichts weltweit immer anspruchsvoller werdenden Kunden. Ein Kunde, der im Mittelpunkt stehen will und immer weniger bereit ist, Kompromisse einzugehen. Etwas, was sich auch mit dem Zeitgeist rasch immer wieder verändert. Darauf zu reagieren, bedeutet schnell zu sein. Mit Planung bis zur Perfektion ist man dabei oft nicht schnell, agil und flexibel genug.
Mehr Experimentierfreude, bitte!
Wir im deutschsprachigen Raum sind Planer. Wir sprechen einander mit Sie an, wir bleiben innerhalb der Hierarchien - uns fehlt die Lockerheit, die man braucht, um Risiken eingehen zu können, uns fehlt der Pionier- oder Abenteuergeist, der uns gut tun würde. Wir schränken uns stattdessen ein. Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach: Unternehmertum funktioniert nicht komplett durchgeplant. Ideen sind immer der Anfang - eine Gruppe gleichgesinnter will sie umsetzen, macht aus der Idee einen unternehmerischen Schritt, entwickelt sich so weiter.
Alter ist kein Verdienst oder Ausschlusskriterium
Auf diesem Weg lernt man, hat Erfolg und auch Misserfolg. Wenn man sich anschaut, wie oft Donald Trump oder Jeff Bezos bei Investitionen gescheitert sind, erkennt man, dass kontrolliertes Chaos wichtig ist. Wir müssen uns einlassen auf eine unbekannte Welt, in der wir die Bedürfnisse von morgen nicht kennen (Niemand konnte zum Beispiel vorhersehen, dass sich die SMS-Funktion des Handys einmal zu einem wichtigen Produktfeature entwickeln würde). Eine Wertschöpfungskette muss vor diesem Hintergrund veränderbar und anpassbar sein dürfen - sie muss flexibel bleiben.
Leider ist das immer noch zu oft die Ausnahme. Gerade bei uns im deutschsprachigen Raum gibt es kaum die Möglichkeit, aus dem eigenen Fachbereich auszubrechen und einmal in einem anderen Erfahrungen einzubringen? Einmal in der Produktentwicklung oder IT oder HR bleibt man dort und ist zu diesen Funktionen verdammt. Ich selbst hatte die Möglichkeiten Erfahrungen in verschiedene Branchen und Funktionen aufzubauen - jedoch im nicht deutschsprachigen Ausland.
Lassen Sie mich das mit weiteren Beispielen verdeutlichen: Gern fügen wir das Alter als essentielles Attribut einer Person hinzu. Als ob dies ein Verdienst oder ein Kriterium ist, aus dem man etwas ableiten kann. So als wäre jemand unter 30 zu jung für Verantwortung und über 50 zu alt für eine Idee. Damit reduzieren wir uns, schließen Chancen und Möglichkeiten aus. Für mich war Alter nie ein Kriterium. In meiner Zeit in den USA habe ich einen 63-Jährigen angestellt. Er war innovativer, motivierter, teamorientierter und hat besser gearbeitet als so mancher 40-Jährige, der mental bereits in Pension war. Es geht um mentale Flexibilität außerhalb des "So war es immer und so gehört es sich auch". Das Prinzip des Ausprobierens, des Experimentierens, des "Lass uns einfach einmal beginnen und dann adaptieren wir entlang des Weges"-Prinzip - ein Prinzip, dem - zugegeben - ein geordnetes Ingenieurwesen entgegensteht.
Ich bin überzeugt, wir haben eine fantastische Chance, die wir nicht versäumen dürfen. Mit der bestehenden Kompetenz, die im deutschsprachigem Raum eindeutig vorhanden ist, brauchen wir Leute, die überlegt mit etwas Experimentierfreude das Beste für eine Firma herauszuholen und permanentes Lernen als Weg zum Ziel ansehen. Das Streben nach Perfektion lässt uns niemals zu einem Ende kommen, aber mit ein paar Dehnungsübungen können wir die nötige Agilität beifügen.
Ursula Soritsch-Renier ist CIO bei Sulzer, einem international tätigen Maschinenbauunternehmen aus der Schweiz; Soritsch-Renier ist außerdem Mitglied bei Generation CEO, einem Netzwerk, das sich für die Förderung von Frauen in Führungspositionen einsetzt.