
Der Deutschen liebste Geldanlage Deutsche Lebensversicherer - überall Baustellen
Die folgende Geschichte stammt aus der Januar-Ausgabe 2018 des manager magazins, die Ende Dezember erschien. Wir veröffentlichen sie hier als Kostprobe unseres Journalismus' "Wirtschaft aus erster Hand". Damit Sie künftig früher bestmöglich informiert sind, empfehlen wir ein Heft-Abo.
Der Mann, den Allianz-Chef Oliver Bäte (52) zum Vorbild für sämtliche Lebensversicherungsgesellschaften der Allianz (Kurswerte anzeigen) weltweit erklärt hat, trägt grauen Nadelstreifenanzug zu braunen Schuhen und violetter Krawatte. Er heißt Markus Faulhaber (64) und ist die Nummer eins von Deutschlands erfolgreichstem Lebensversicherer. Hätte der Mathematiker nicht in der Finanzindustrie Karriere gemacht, man würde ihn als Ingenieur oder Entwickler bei Porsche oder Daimler vermuten. Er ist einer dieser Tüftler, die Stuttgart, wo die Allianz Leben seit beinahe 100 Jahren sitzt, reich gemacht haben. Detailversessen, ohne dabei den Blick für das große Ganze zu verlieren. Und verdammt durchsetzungsstark.
"Wir haben rechtzeitig unser Geschäftsmodell umgebaut, sodass uns auch niedrige Zinsen auf Jahre hinaus nichts anhaben können", sagt Faulhaber. Er profitiere sogar davon, dass andere später oder gar nicht reagiert haben. Dass die Sparte ihren guten Lauf vor allem ihm zu verdanken hat, daran lässt er wenig Zweifel.
Faulhaber residiert im sonnigen Westen der Stadt, in halber Hanglage mit bester Aussicht auf den Kessel. Das Anwesen, von dem aus der Lebensversicherungsarm der Allianz ausgreift, hat er an den US-Finanzriesen BlackRock verkauft und wieder zurückgemietet. Warum Kapital in Beton und Steinen einzementieren, wenn es anderswo ertragreicher angelegt werden kann?
Der Lebensversicherer der Allianz wächst und gedeiht in einem Markt, in dem die anderen jammern und klagen. In den vergangenen zehn Jahren ist das Beitragsvolumen um ein Viertel auf über 21 Milliarden Euro gestiegen, der Marktanteil von 16 auf mehr als 21 Prozent angeschwollen. Trotz Nullzinsen auf dem Kapitalmarkt und hoher Garantiezusagen an seine Kunden überweist Faulhaber Jahr für Jahr mehr als 450 Millionen an die Zentrale in München. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Zentralbanken die Zinsen noch zehn Jahre einfrieren sollten, ist vorgesorgt. Dann stehen immer noch mehr als zehn Milliarden Euro Sicherheitsreserven in der Bilanz.
Das sieht bei einigen der großen Konkurrenten anders aus. Schon fünf weitere Jahre auf Nullzinsniveau würden bei unveränderten Bilanzierungsvorschriften reichen, um die Finanzpolster von drei Adressen zu vernichten, die 2015 noch zu den zehn größten Anbietern zählten. Dies zeigen aktuelle Modellrechnungen, die manager magazin vorliegen.
Die Gesellschaften wären verpflichtet, so viel Kapital für ihre Altgarantien aufzubringen, dass sie sich entweder frisches Geld besorgen oder die Versprechen gegenüber ihrer Altklientel senken müssten. Spätestens 2027 könnten bei zwei weiteren der einstigen Top-Ten-Adressen rote Zahlen stehen, wo heute noch Finanzpolster locken.
Längst geht es um mehr als nur die bis zur Jahrtausendwende verkauften und mit üppigen Garantien von 3,5 bis 4 Prozent ausgestatteten Altverträge. Nun müssen die Assekuranzen auch Vorsorge für Policen treffen, die danach auf den Markt kamen und nur mehr 2,75 oder 2,25 Prozent versprachen.
Aus dem Massengeschäft von gestern werden die Altlasten von morgen. Bereits heute schafft rund ein Drittel den Stresstest der Finanzaufsicht nur mithilfe bilanzieller Überbrückungs- und Sonderregeln. Globale Riesen wie die Münchener Rück oder der vom italienischen Triest aus gesteuerte Generali-Konzern würden ihre deutschen Lebensversicherer am liebsten loswerden.
Dabei handelt es sich um einst große Namen wie die Hamburg-Mannheimer, die Victoria (über Ergo Teil der Münchener Rück) oder die Volksfürsorge (bei der Generali eingemeindet). Allesamt früher mit hohen Reserven ausgestattete Schwergewichte. Allesamt von ihren Großaktionären durch eine fatale Kombination aus Kapitalentzug und Missmanagement systematisch ausgezehrt und heruntergewirtschaftet.
Während Anbieter wie die Debeka dank günstiger Kostenstrukturen, geschickter Kapitalanlagepolitik und gut dotierter Reserven noch einige Jahre anständig durchkommen, zeichnet sich das drohende Elend bei der Lebensversicherungstochter des italienischen Generali-Konzerns am deutlichsten ab. Ende September kündigte Deutschland-Statthalter Giovanni Liverani (53) an, die Nummer sieben im Markt für Neukunden dichtzumachen. Die vier Millionen Policen würde er gern verkaufen, notfalls aber auch in Eigenregie abwracken. Es wäre das Finale einer beispiellosen Plünderung, die beinahe zwei Jahrzehnte andauerte.
Giftmüll in den Bilanzen
Als die Italiener kurz vor der Jahrtausendwende die Mehrheit bei dem damals noch als Volksfürsorge firmierenden Unternehmen übernahmen, fanden sie eine zwar wachstumsschwache und wenig effiziente, aber mit hohen Reserven und Kapitalpuffern ausgestattete Organisation vor. Die volle Kasse war hochwillkommen, um die Überkreuzbeteiligung mit der Commerzbank zu finanzieren. Jahrelang hatte die spätere Generali 10 Prozent des Frankfurter Geldinstituts in ihren Büchern. Als sich Italiener und Commerzbank eine Dekade und zwei Börsenkrisen später trennten, waren weit über 90 Prozent des ursprünglichen Kapitaleinsatzes verdampft.

Es war nur der erste einer ganzen Reihe von teuren Fehlgriffen. Wann immer im weiten Reich der Generali irgendwo Finanzgiftmüll anlandete, ein Teil fand immer seinen Weg in die Bücher der deutschen Tochter. Lehman- oder Hybrid-Anleihen der österreichischen Skandalbank Hypo Alpe Adria, dazu massenhaft griechische und italienische Staatspapiere. Obendrauf toxische Abfälle von HSH Nordbank und BayernLB.
Oft genug kamen die Schrottpapiere aus den Beständen der italienischen Großbanken, die seit Jahrzehnten bei der Generali in Triest das Sagen haben. Der Raubbau riss über die Jahre tiefe Löcher in die Bilanz der einstigen Volksfürsorge. Seit Ende 2005 sind die Reserven, gemessen an den Beitragseinnahmen, von über 100 Prozent auf 45 Prozent abgesackt.
Gleichzeitig ließen die Italiener das operative Geschäft schleifen. Vertriebs- und Verwaltungskosten lagen stets weit über den bei der Konkurrenz üblichen Sätzen. Nach und nach wurde der Vertrieb über Banken und Makler ausgedünnt und schließlich eingestellt. Der Marktanteil rutschte von 4,7 Prozent (2006) auf 3,6 Prozent (2016).
Sobald Liverani seinen maroden Lebensversicherer bei einem Finanzinvestor verklappt hat, kann er sich in Triest als Sanierer feiern lassen und seine Konzernkarriere weiter forcieren. Dann sieht obendrein die Konzernbilanz der Italiener auf einen Schlag deutlich freundlicher aus. Die hohen Garantiezusagen der Vergangenheit, die in der Gegenwart über viel Risikokapital abgesichert werden müssen, wären verschwunden, das bislang unproduktiv gebundene Geld frei. Es stünde entweder für Wachstumsinvestitionen zur Verfügung oder könnte an die Anteilseigner ausgeschüttet werden.
Von den deutschen Versicherern hängt keiner so stark dieser kurzfristigen Abart der Shareholder-Value-Ideologie an wie die Münchener Rück. Seit Jahren schüttet der weltgrößte Rückversicherer über Dividenden und Aktienrückkaufprogramme große Teile der Summen aus, die zuvor an Gewinnen eingefahren wurden. Dass sich dies auch in Zeiten erodierender Erträge im Kerngeschäft nicht ändern soll, gehört zu den Überzeugungen des neuen Vorstandschefs Joachim Wenning (52).
Alles, was die Ausschüttungsfähigkeit hätte reduzieren können, kam im Sommer auf den Prüfstand - so auch die sechs Millionen Lebenspolicen, die der Konzern über seine 100-Prozent-Beteiligung am Düsseldorfer Ergo-Konzern hält. Dahinter stecken Traditionsversicherer, die früher als Victoria und Hamburg-Mannheimer firmierten. Drei Milliarden Euro frei werdendes Risikokapital, hat Finanzchef Jörg Schneider (59) ausgerechnet, ließen sich durch den Verkauf generieren.
Ab Ende September standen die Altlasten tatsächlich im Schaufenster. Dass die Konzernmutter jahrelang Kapital abgezogen und nicht einmal das Nötigste in die Infrastruktur der Ergo investiert hatte, interessiert in München niemanden mehr. Genauso wenig, dass Ergo-Chef Markus Rieß (51) nur wenige Monate davor verkündet hatte, die Verträge als Basis für eine eigene Abwicklungsplattform zu nutzen, über die auch Konkurrenten ihre Altpolicen in den Run-off hätten schicken können.
Der Konzern startete einen formalen Verkaufsprozess, man erhoffte sich Verkaufserlöse in Höhe von zwei Milliarden Euro. Doch bei eineinhalb Milliarden hörten die Gebote leider auf. Hätte es einen dezidierten Due-Diligence-Prozess gegeben, wären sie wohl noch geringer ausgefallen. Ende November ließ der Konzern dann per Ad-hoc-Mitteilung wissen, dass der Verkauf derzeit gestoppt sei.
Dass die Vorstellungen so weit auseinanderklafften, hat viel mit der maroden IT-Struktur der Ergo zu tun. Die Systeme sind oft außerstande, die korrekten Auszahlungssummen zu berechnen. Der Konzern steht deshalb unter verschärfter Beobachtung der Finanzaufsicht, muss jeden Monat über den Fortschritt der Reparaturarbeiten berichten. Auch wenn es vorangeht (erst seit dem Sommer tauchen weniger Fehlermeldungen auf, als abgearbeitet werden können), sind hohe Investitionen nötig.
Geplündert vom Großaktionär
In den nächsten Monaten soll zusammen mit dem US-Konzern IBM (Kurswerte anzeigen) eine Plattform gebaut werden, auf der die Altbestände fehlerfrei verwaltet werden können. 80 Prozent sollen der Münchener Rück gehören, IBM die restlichen 20 Prozent. Das Konstrukt soll zudem in der Lage sein, Policenbestände von Konkurrenten zu verwalten, die ihre Lebensversicherer still und leise abwickeln möchten.
Für die Münchener Rück ist diese Lösung aber nur zweite Wahl. Schöner wäre es für Wenning, wenn sich doch noch ein Käufer fände und er das in der Bilanz gebundene Risikokapital heben und an die Aktionäre ausschütten könnte.
Vom Auskehren seines wertvollsten Rohstoffs an die Shareholder hat Allianz-Mann Faulhaber nie viel gehalten. Er steckte überschüssiges Kapital lieber in den Ausbau seines Geschäfts. Dabei ist er keinem Streit aus dem Weg gegangen. Und davon gab es reichlich. Dieter Wemmer (60), Finanzchef der Holding, war die hohe Bilanzbelastung stets suspekt, die aus dem Lebensversicherungsgeschäft resultiert. Als im Frühjahr 2015 das Oberkommando von Michael Diekmann (62) auf Oliver Bäte überging, sah Wemmer seine Chance gekommen. Er versuchte Faulhabers Festung zu schleifen. Es knallte laut und lange, durchgesetzt aber hat sich Faulhaber.
Am Ende war der Gewinnbeitrag zu hoch, den der Mathematiker Jahr für Jahr in der Münchener Zentrale ablieferte. Früh hatte er sich vom tradierten Geschäftsmodell verabschiedet. Die klassischen Policen flogen aus dem Programm. Den Kunden wird heute nur noch garantiert, was sie tatsächlich an Sparkapital eingezahlt haben.
Das Risikokapital, das nach und nach frei wird, weil die Kunden ihre Altpolicen ausgezahlt bekommen, setzt er ein, um ertragreichere Papiere zu kaufen. Aktien, Private Equity, Immobilien, Infrastrukturprojekte - alles, was höhere Renditen verspricht als Staatsanleihen, dafür aber wegen des höheren Risikos mit deutlich mehr Kapital in der Bilanz unterlegt werden muss.
Auf diese Weise schafft Faulhaber es, die Verzinsung seiner Kapitalanlagen spürbar über dem Rest des Marktes zu halten. Damit gewinnt er für die Allianz Marktanteile, die von den bilanziell schwächeren Wettbewerbern aufgegeben werden.
Konzernchef Bäte löste den Krach zwischen seinem Finanzmann und dem Lebensversicherungschef übrigens auf fast salomonische Art und Weise. Wemmer verabschiedet er Ende 2017 in den Ruhestand. Und Faulhaber verklärte er zur globalen Benchmark für das Lebensversicherungsgeschäft der Allianz.
Mit diesem Orden kann sich der Lebensversicherungsmann allerdings nicht mehr lange schmücken. Ziemlich genau acht Monate noch, dann hat auch er die Altersgrenze erreicht.